Einführung: Das Wesen der Seligpreisungen und der Charakter der Untertanen
Ja, wir haben gestern Abend versucht, uns bewusst zu machen, worauf der Herr das Schwergewicht in seiner ersten Königsrede legt. Er spricht vom Charakter derer, die zu seinem Reich gehören.
Es ist also wichtiger, dass wir so sind, wie der Herr es will, als dass wir vieles tun. Zuerst ist also entscheidend, wie wir sind. Er beschreibt den Charakter der Untertanen seines Reiches mit acht Seligpreisungen, das heißt mit acht Eigenschaften.
Wir haben gesehen, dass diese Eigenschaften zuerst im Leben des Herrn selbst zu finden sind. Er, der König seines Reiches, ist selbst so, wie er es von seinen Untertanen fordert.
Außerdem haben wir festgestellt, dass diese Eigenschaften jeweils unsere Beziehung, unser Verhältnis zu Gott oder zum Nächsten beschreiben. Diejenigen, die diesem Herrn und seinem Reich angehören, sind eben anders – anders als wir von Natur sind, anders als die Väter, anders als die Schriftgelehrten, anders als die Heiden, anders als die Zöllner.
Wir müssen uns von den natürlichen Menschen unterscheiden. Dadurch und darin werden wir zu einem Zeugnis, zu Licht und zu Salz. So unterscheiden wir uns von einem verdrehten und verkehrten Geschlecht.
Hier also diese Beziehungen, die durch die acht Seligpreisungen ausgedrückt werden: Beziehung zu Gott – wir sind arm vor Gott und bekümmert wegen unserer Sünde vor Gott.
Es geht also zweimal um unser rechtes Verhältnis zu Gott, und daraus ergibt sich das Dritte. An dieser Stelle sind wir gestern stehen geblieben.
Sanftmut als Kennzeichen der Nachfolge
Das macht uns gegenüber den Menschen sanftmütig und freundlich. Es macht uns auch in dieser Hinsicht dem König dieses Reiches gleich.
Der Herr sagt von sich selbst, dass er sanftmütig ist. Im Matthäusevangelium, Kapitel 11, Vers 29, sagt er: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig.“
Paulus spricht ebenfalls von der Sanftmut und Gelindigkeit Christi. In 2. Korinther 10, Vers 1 heißt es: „So ist Christus!“
Wenn wir nicht sanftmütig sind, gleichen wir dem Herrn nicht. Dann sind wir kein Zeugnis und kein Licht.
Das Verlangen nach Gerechtigkeit als Lebensprinzip
Nun wenden wir uns der vierten Seligpreisung zu. In Matthäus 5,6 heißt es: „Glückselig sind, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten; denn sie werden gesättigt werden.“
Hier lernen wir, dass wir uns nicht damit begnügen dürfen, uns als hilflose und unfähige Menschen zu sehen – als Bettler, die nichts vermögen und nichts besitzen. Es reicht auch nicht aus, nur Leid über unsere Sünden zu tragen. Dies sind zwar erste Schritte, die uns zum Nächsten führen, doch sie allein genügen nicht.
Wir müssen danach streben, so zu werden, wie der Herr uns haben will. Dies wird hier mit „nach Gerechtigkeit hungern und dürsten“ umschrieben. Das bedeutet, wir sollen so werden wie Gott. Wir sollen also nicht nur die Sünde verurteilen, sondern der Heiligkeit nachjagen.
Man kann es auch so sagen: Wenn wir geistlich gesund sind und es gut um uns steht, dann werden wir nach Gerechtigkeit hungern. Dieser Hunger wird immer wieder neu entstehen – das Verlangen, dem Herrn ähnlicher zu werden. Wir hungern danach, dass Gottes Gerechtigkeit, sein Wille und seine Sache an uns, in uns und durch uns geschehen können.
Die Kraft des Hungers und Durstes nach Gott
Hunger und Durst – es gibt kaum ein Verlangen, das stärker ist als diese beiden.
Die meisten von uns haben solche Zeiten wohl kaum erlebt, in denen einfach zu wenig zu essen da war. Doch wer es erlebt hat, weiß, wie es ist. Man träumt nachts von Brot, man erwacht am Morgen mit leerem Magen und denkt immer wieder daran. Die Gedanken werden geradezu davon beherrscht.
Noch schlimmer ist es, wenn man Durst hat und nichts zu trinken bekommt. Einmal ist es mir passiert, dass ich wirklich dachte, ich halte es nicht mehr aus. Ich war damals mit einem Freund in Pakistan unterwegs. Wir mussten eine Wüstenregion durchqueren und warteten auf einen Transport. Pro Tag fuhren dort zwei oder drei Lastwagen und ein Bus vorbei. Wir marschierten einfach weiter, es war heiß, und wir hatten Durst.
Dann sahen wir so eine Art Parkplatz – einfach ein Platz, wo ein Auto halten konnte. Dort gab es einen Unterstand, an dem Chauffeure hielten, Wasser tranken und sich einen Tee kochen ließen. Zwei Männer hatten dort eine kleine Teeküche. Wir gingen zu ihnen hin und fragten, ob wir Wasser bekommen könnten.
Die beiden Männer fragten uns, was in diesem Land üblich ist: „Adler Kone?“ – Wer seid ihr? Dann wollten sie wissen, welcher Religion wir angehörten. Als wir sagten, dass wir Christen seien, schickten sie uns weiter.
Durst ist wirklich furchtbar. Wenn man Durst hat, will man nur eins: Wasser trinken. Man ist mit nichts anderem zufrieden. Einem Dürstenden kann man alles anbieten, was ihn sonst interessiert. Vielleicht bist du ein Büchernarr, aber dann interessiert dich kein Buch mehr – du willst nur Wasser.
So wird uns hier deutlich, dass es eine Leidenschaft in uns geben müsste, die alles andere verdrängt: eine Leidenschaft nach Gott, nach seinem Wesen und danach, so zu sein und zu leben, wie er es will. Hunger und Durst nach Gott und nach seiner Gerechtigkeit.
Man hat nicht immer Hunger und Durst, aber Hunger und Durst stellt sich immer wieder von selbst ein. Das ist eine Sache der Natur. Und so ist es eigentlich auch mit der neuen Natur: Sie dürstet nach Gott und nach seiner Gerechtigkeit.
Selig ist, wer solchen Durst hat, und selig ist, wer beständig nach dieser Gerechtigkeit trachtet.
Das fortwährende Streben nach Heiligkeit
Und das zeigt uns auch, dass wir nie genug davon haben. Wir sind nie in dem Sinn vollkommen, dass wir sagen können: Jetzt haben wir es erreicht. In Christus sind wir ja vollkommen. Aber gleichzeitig sagt der Apostel Paulus: „Ich habe es noch nicht ergriffen, ich jage ihm aber auch nach.“
So sehen wir beim Apostel Paulus dieses beständige Trachten und Jagen nach Heiligkeit und Gerechtigkeit. Das können wir auf sehr vieles anwenden. Wir können es auf unser persönliches Leben beziehen.
Ich frage mich, ob wir mit Ernst auch im Stillen vor Gott so beten, wie wir es oft gemeinschaftlich tun. Auch in Liedern bringen wir zum Ausdruck, dass wir den Herrn bitten: „Herr, wirke an mir, Herr, verändere mich, dass ich dir ähnlicher werde. Wirke auch heute an mir, dass ich heute in deiner Sache lerne.“
Lernen, geduldig zu sein, warten zu können, demütig zu sein, wahrhaftig zu sein, ehrlich zu sein – was auch immer es ist. Selig sind wir, wenn wir nach dieser Gerechtigkeit hungern und dürsten.
Man hungert und dürstet nach einer Sache, die man nicht hat. Das ist also das Gegenteil von Selbstgerechtigkeit.
Die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und ihre Folgen
Der Selbstgerechte ist zufrieden mit sich selbst. Er meint, er sei schon in Ordnung, da müsse nicht viel anders werden. Er hält sich für ganz proper. So verhält sich der Selbstgerechte.
Wir sind von Natur aus alle selbstgerecht. Unser Problem ist nicht, dass wir gar keine Gerechtigkeit besitzen. Wir haben nämlich eine, aber es ist eine falsche Selbstgerechtigkeit. Von Natur aus sind wir alle ohne Ausnahme selbstgerecht – ohne Ausnahme. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Auch in den verschiedenen Altersstufen sind Kinder schon selbstgerecht. Mit welcher Entrüstung und Empörung Kinder irgendwelche Beschuldigungen von sich weisen, das merkt man sehr bald, und es ist ganz verwunderlich.
Wir sind also so selbstgerecht, und Erwachsene sind es genauso. Man braucht nur eine Zeitung aufzuschlagen. Die Zeitungen und Medien sind jeden Tag voll von Menschen, die immer Recht haben. Alle Politiker haben Recht, ihre Partei hat immer Recht, alles, was sie tun, ist Recht. Falsch sind immer die anderen – immer. Auch unter Völkern ist es so: Alle haben immer Recht, die anderen sind immer die Bösen.
Es wäre einmal schön, wenn jemand in einem politischen Forum aufstehen würde, sein Versagen, seine Schuld und seine Fehler beklagen und die anderen bitten würde: „Lehrt mich doch, zeigt mir, wie ich es richtig machen könnte.“ Das ist jedoch noch nie passiert.
Wenn wir uns selbst betrachten, fällt uns auf, dass wir Christen uns oft genauso verhalten. Wir zeigen die gleiche moralische Entrüstung, argumentieren auf die gleiche Weise und wollen beweisen, dass wir Recht haben, während der Bruder oder die Schwester im Irrtum sind. Wir sind oft genau so beleidigt und beharren unnachgiebig auf unserem Recht. Wir benehmen uns genauso wie die Heiden.
Das ist Weltlichkeit. Weltlichkeit denken wir meist mit Orten zu verbinden, die man aufsucht oder nicht aufsucht, oder mit der Kleidung, die man trägt. Das spielt auch eine Rolle. Aber hier geht es an das Herz der Sache: Wir müssen anders werden als die Welt. Anders als die Heiden, anders als sie von Natur aus sind.
Selig sind wir, wenn wir nicht unsere eigene Gerechtigkeit beständig verteidigen und vor anderen behaupten müssen, sondern wenn wir nach Gottes Gerechtigkeit hungern und dürsten. Tun wir das, dann tun wir es, weil wir wissen, dass es uns genau daran mangelt. Man hungert und dürstet ja nach dem, was man nicht hat, was man aber unbedingt braucht.
Von solchem Verlangen nach Gottes Gerechtigkeit erfüllt, wären wir auch nicht immer so pikiert, wenn jemand uns einmal tadelt. Aber gerade der Umstand, dass wir es kaum vertragen, wenn jemand uns tadelt, beweist, dass wir unsere eigene Gerechtigkeit lieben und sie reflexartig verteidigen – oft sehr wild, wie eine fauchende Katze.
Sind wir selbstgerecht oder hungern und dürsten wir nicht nach Gottes Gerechtigkeit, dann liegt das daran, dass wir denken, wir seien schon in Ordnung. Das hat Einfluss auf unser ganzes Verhältnis zur Gemeinde und zu den Geschwistern.
Man kommt zu Zusammenkünften oder in die Gemeinde, in der man ist, und erwartet beständig etwas von den anderen. „Das müsste doch so sein, und das müsste so sein. Ich bekomme viel zu wenig Zuwendung, und ich bekomme nicht, was ich eigentlich bräuchte.“ Dann hat man immer nur Forderungen an die anderen, weil man meint, man sei schon in Ordnung. „Ich muss mich nicht verändern, die anderen müssen sich alle verändern. Sie geben mir einfach nicht das, was ich brauche.“
So hat man ständig Forderungen und merkt nicht, dass man dabei die ganze Zeit sündigt. Wir tun Dinge, die der Herr uns gar nie gelehrt hat. Der Herr hat uns nicht gelehrt, von den Geschwistern beständig zu fordern, dass sie uns endlich geben, was sie uns schulden, oder von der Gemeinde zu verlangen, dass sie das liefert und bringt, was wir brauchen.
Die Haltung des Dienens als biblisches Prinzip
Was haben wir denn vom Herrn gelernt, und was haben wir von den Aposteln gelernt? Wir haben doch gelernt, dass wir dienen sollen. Wir fragen: Wo kann ich dem Bruder oder der Schwester dienen? Wo ist jemand in Not? Wo hat jemand Mangel? Wo kann ich jemandem helfen, trösten oder stärken? So befiehlt uns doch der Herr, zu fragen.
In der Ehe ist es ähnlich. Wenn Eheleute immer darauf beharren, dass der Partner das gibt und lebt, was seine Pflicht ist, und ständig fordern: „Du musst so und so sein“, dann werden sie bald nicht mehr in Frieden zusammenleben können.
Ein Mann, ungefähr zehn Jahre älter als ich, kam einmal zu mir. Er hatte Schwierigkeiten. Wahrscheinlich war er nicht aus unserer Gemeinde, aber er wandte sich an mich und sagte, er habe ein Problem. Das Problem sei seine Ehe, und das Problem sei seine Frau. Er erzählte ausführlich und begründete alles sehr gut, sogar biblisch. Er sagte, eine Frau sei einfach nicht so, wie sie sein müsste. Sie sei ihm nicht untertan. „Eine Frau muss mir untertan sein“, sagte er. Das klang alles sehr einleuchtend. Ich nickte meistens nur.
Dann wollte natürlich auch die Frau mit mir reden. Ich suchte sie auf, und sie erzählte mir ausführlich und genauso einleuchtend, dass sie ein Problem habe. Ihre Ehe sei schwierig, und das Problem sei ihr Mann. Auch sie führte Bibelstellen an und sagte: „Mein Mann macht einfach nicht, was er tun sollte. Er müsste mich mehr lieben.“
Später sprach ich wieder mit dem Mann. Da machte es bei ihm wirklich Klick. Er erkannte plötzlich, dass es gar nicht seine Aufgabe ist, immer darauf zu achten, was der andere nicht tut, was er leisten oder bringen sollte. Das hat uns Gott nie befohlen, niemals. Gott hat uns befohlen, das zu tun, was er uns aufträgt.
In der Ehe heißt das: Der Herr hat dem Ehemann gesagt: „Liebe deine Frau.“ Dreimal, viermal hintereinander steht das im Epheserbrief. Im Kolosserbrief steht es wieder: „Liebe deine Frau, wie Christus die Gemeinde geliebt hat.“ Der Herr sagt dir nicht, du musst deiner Frau immer hinterher sein und ihr sagen, sie müsse dir mehr untertan sein. Der Herr sagt dir: Liebe deine Frau.
Als der Mann das begriff, veränderte sich in der Ehe wirklich etwas. Das ist jetzt bald zwanzig Jahre her, zwischen 15 und 20 Jahren. Die beiden sind immer noch zusammen. Sie waren damals schon kurz davor, sich scheiden zu lassen.
Unter Christen passiert so etwas oft, wenn wir Forderungen in unserem Herzen haben. Forderungen, die ja richtig sind und in der Bibel stehen. Darum meinen wir, wir hätten ein Recht, immer das zu fordern. Dabei vergessen wir, dass der Herr zuerst zu uns spricht.
Dann werden wir selbstgerecht. Wir glauben, wir seien in Ordnung, und die anderen müssten sich verändern. So können wir der Gemeinde zur Belastung, zum Problem und zur Gefahr werden. Wenn wir alle so sind, dann werden wir bald nicht mehr als Gemeinde zusammenleben können.
Die Herausforderung des Anstoßnehmens in der Gemeinde
Etwas, das man ziemlich häufig hört, ist, dass jemand sagt: „Ich nehme Anstoß an diesem oder an jenem.“ Dabei kann man auch auf Bibelverse verweisen. In Römer 14 steht das tatsächlich. In Römer 14, Vers 13 heißt es: „Lasst uns nun nicht mehr einander richten, sondern richtet vielmehr dieses, dem Bruder nicht einen Anstoß oder ein Ärgernis zu geben.“
Auch in 1. Korinther 8, Vers 9 heißt es: „Seht aber zu, dass nicht etwa dieses euer Recht den Schwachen zum Anstoß werde.“ Wir sollen also nicht Anstoß erregen. Diesen Vers kann ich nehmen und danach sagen: „Das ist mir ein Anstoß, was hier in der Gemeinde geschieht.“ Damit kann man eine Gemeinde fast erpressen und sie dazu bringen, genau auf meine Wünsche einzugehen.
Zum Beispiel: „Es ist mir ein Anstoß, wenn man am Sonntagvormittag Klavierspiel anbietet.“ Danach meint man, alle müssten sich anpassen, weil man ja keinen Anstoß bereiten darf. So muss die Gemeinde auf meine Wünsche und Erwartungen eingehen. Dann haben wir die Sache wieder umgekehrt.
Nein, ich muss darauf achten, dass ich anderen nicht zum Anstoß werde. Ich darf nicht herumlaufen und überall sehen, wo jemand mehr Anstoß nimmt, und ihm dann sagen: „Du bist ein Anstoß, du musst aufhören, ein Anstoß zu sein.“ Wir merken selbst, wie häufig wir genau so denken, manchmal auch so reden und urteilen.
Das liegt daran, dass wir selbstgerecht sind. Wir sehen uns als die Richtigen an: „So wie ich bin, ist es in Ordnung, so muss es sein. An mir muss sich nichts ändern, die anderen müssen sich ändern – und zwar so, wie ich es denke.“ Das ist Selbstgerechtigkeit.
Es ist einer der stärksten Instinkte des Menschen, sein Verlangen, recht zu bekommen. Ich kann mich an eine Schwester erinnern, die in einer Gemeinde ziemlich viel Mühe machte. Es war nicht unsere Gemeinde, aber ich wurde gebeten, dort irgendwie zu helfen. Ich hatte dann auch ein Gespräch mit dieser Schwester.
Das Ergebnis dieses Abends, an dem wir zu zweit mit ihr redeten, war, dass diese Schwester sagte: „Ich will Gerechtigkeit.“ Sie war bald nicht mehr in dieser Gemeinde. Sie forderte für sich: „Ich will Gerechtigkeit.“ Ihre Gerechtigkeit musste anerkannt werden. „Man hat mir Unrecht getan, ich will Gerechtigkeit.“
Dieser Instinkt ist menschlich. Es ist dem Menschen eingegeben, dass er Gerechtigkeit will. Das hängt mit seiner hohen Bestimmung zusammen, denn er ist im Bild Gottes erschaffen. Das Problem ist nur, dass dieses Verlangen nach Gerechtigkeit durch die Sünde verbogen worden ist. Darum streben wir immer nach unserer eigenen Gerechtigkeit statt nach Gottes Gerechtigkeit.
Der Herr sagt: „Selig sind, die nach Gottes Gerechtigkeit hungern und dürsten.“ Das ist etwas ganz anderes als unsere Natur. Wir müssen anders werden.
Barmherzigkeit als Ausdruck der Gottesähnlichkeit
Und darauf folgt auf diese Seligpreisung die fünfte: Selig sind die Barmherzigen, wenn wir nach Gottes Gerechtigkeit trachten, doch weil wir merken, dass bei uns so viel mangelt. Wenn wir erkennen, wie viel bei uns mangelt, dann werden wir mit den Geschwistern barmherzig.
Wer aber selbstgerecht ist, wer meint, er sei schon in Ordnung, er müsse sich nicht verändern und nicht Gottes Angesicht sucht, Gottes Hilfe sucht, der wird unbarmherzig. Solch ein Mensch ärgert sich immer an den Fehlern anderer, kann kaum verzeihen, hält es ihnen vor und kann es nicht vergessen.
Die Korinther waren ja bekanntlich ziemlich streitsüchtige Leute. Sie hatten Parteijungen, schleiften sich gegenseitig vor Gerichte und klagten einander an. Paulus sagt von ihnen in 1. Korinther 4,8: „Ihr seid schon gesättigt.“ Sie hatten keinen Hunger nach Gott und nach seiner Gerechtigkeit. Das zeigte sich genau darin, dass sie im Umgang miteinander unbarmherzig waren. Sie verziehen sich nicht, waren besserwisserisch, von sich eingenommen und streitsüchtig.
Gott aber ist barmherzig. Epheser 2,4 sagt, er ist reich an Barmherzigkeit. So ist Gott. Jakobus 5,11 sagt: „Der Herr ist voll innigen Mitgefühls und barmherzig.“ Das steht im Zusammenhang mit den Leiden Hiobs. Dort wird sehr schön deutlich, dass Gott barmherzig ist. Alle waren unbarmherzig mit Hiob, nur Gott nicht.
Gott ist barmherzig. David wusste das auch. Er wollte nicht in Menschenhände fallen, sondern in Gottes Hände, denn Gottes Erbarmungen sind groß. Gott ist barmherzig, so ist Gott. Darum müssen auch wir Barmherzigkeit lernen. Wir müssen werden wie er, wie unser Herr. Die Untertanen des Reiches sind ihrem Herrn gleich.
Barmherzigkeit ist eine göttliche Regung gegenüber Schuld, Schwachheit und Unvermögen. Psalm 78,38 sagt: „Er aber war barmherzig, er vergab die Ungerechtigkeit und verderbte sie nicht.“ Weil Gott barmherzig ist, gedenkt er unserer Sünde nicht. Er vergibt und vergisst. Hebräer 8 und Hebräer 10 betonen dies zweimal: „Ich will ihrer Sünde nie mehr gedenken.“
Aber wie oft sind wir unbarmherzig, obwohl der Herr uns gesagt hat – ja, uns sogar befohlen –, dass wir barmherzig sein sollen, wie unser Vater barmherzig ist. Lukas 6,36 sagt: „Seid nun barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Meistens sind wir jedoch sehr fordernd gegenüber anderen und schnell empört. Wir schimpfen, wenn Geschwister nicht das leisten, was wir von ihnen erwarten. Wir merken uns Versagen anderer sehr gut und vergessen es nicht so schnell. Bei passender Gelegenheit holen wir diese Fehler wieder hervor. Das ist unbarmherzig.
Wenn wir so sind und uns so benehmen, dann verhalten wir uns wie die Heiden. Die tun das genauso: Sie nutzen die Schwächen anderer für ihre Zwecke aus, setzen sie unter Druck und machen sich das zunutze. Wenn wir das auch so tun, dann sind wir wie die Heiden. Wir können ein ganz bibeltreues Bekenntnis haben, aber leben wie die Heiden.
Die Herausforderung des Zusammenlebens in der Gemeinde
Ich kenne einen Mann in der Schweiz. Jedes Jahr bin ich bei ihm in seinem Freizeithaus im Kanton Graubünden. Er heißt Ruedi Schnell und führt dieses Freizeitheim schon seit über 25 Jahren.
Einmal berichtete er über dieses Glaubenswerk, über die Mitarbeiter und vieles, was sie dort erlebt hatten. Er sprach von den Freizeiten, die dort durchgeführt wurden. Dabei zeigte er auch Dias, stellte die Mitarbeiter vor und erzählte von jedem ein wenig.
Dann sagte er: „Die meisten denken, es müsse ganz einfach und schön sein, so in einem Haus zusammenzuarbeiten – alles nur Gläubige.“ Aber er fügte hinzu: „Es ist nicht leicht, in diesem Haus zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten. Wisst ihr warum? Hier sind lauter Leute, die genau wissen, wie der andere sich zu verhalten hat.“
Genau das ist es. Wir wissen ganz genau, wie die anderen sein sollen. Und wenn sie nicht so sind, sind wir einfach unbarmherzig. Wir verzeihen kaum, empören uns, können es nicht begreifen: Wie kann man nur? Wir werfen die Hände in die Luft und vergessen dabei etwas Wichtiges.
Was vergessen wir? Wir vergessen, wie barmherzig Gott uns gegenüber ist. Wir sind wirklich wie Bettler. Wir haben nichts, sie vermögen nichts, und doch hat Gott sich unser erbarmt. Aber wir vergessen das einfach und sind so anders als unser Herr gegenüber Geschwistern – so fordernd.
Barmherzigkeit bedeutet auch, dass wir Nachsicht üben. Man muss nicht jede Sünde zu einem Zuchtfall erklären – wirklich nicht. Es gibt Dinge, die müssen ans Licht kommen, müssen bekannt werden und ausgeräumt werden, das ist selbstverständlich.
Aber denken wir daran, wie der Herr Nachsicht übt, wenn unserem Leben Nachsicht geübt wurde. Manchmal ergreift einen dieser Gedanke neu: Wie Gott uns schonte. Wenn ich daran denke, ich war einundzwanzig, nein zweiundzwanzig Jahre alt, als ich die Knie vor dem Sohn Gottes beugte.
So lange hat er Nachsicht mit mir gehabt. Er hätte mich die ganze Zeit in die Hölle werfen können, mir einfach das Leben nehmen können, und ich wäre in die Hölle gefahren. Aber er hatte Nachsicht. So ist Gott, so barmherzig.
Und denken wir an all die Jahre, in denen wir Christen sein dürfen. Jetzt haben wir nicht nur Grund, aus Dankbarkeit und auch als Erkenntnis, wer der Herr ist, ihm zu dienen und treu zu sein. Wir sind auch befähigt, ihm zu dienen. Er hat uns alle Hilfe gegeben: alle Mittel, sein Wort, seinen Geist, die Gemeinschaft der Heiligen – alles.
Und wenn wir bedenken, wie wir trotzdem versagen, ist er einfach barmherzig. Er verstößt uns deswegen nicht. Er sagt nicht: „Komm du mir nicht schon wieder.“ Darum brauchen auch wir nicht jeden Fehltritt von Brüdern gleich ans Licht zu zerren. Das muss nicht sein.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir 1. Petrus 4,8 folgendermaßen lesen: Die Liebe deckt in Ausnahmefällen einmal eine Sünde zu. Aber so handeln wir meistens nicht.
Hier steht tatsächlich: Die Liebe deckt eine Menge von Sünden. Das zeigt, dass wir sehr viel Barmherzigkeit und Nachsicht üben können.
Natürlich will ich nicht die andere Seite verschweigen. Natürlich sagt der Herr: Wenn ein Bruder sündigt, dann muss man hingehen und versuchen, ihn zu überführen. Es gibt Gemeindezucht, und Gemeindezucht muss auch sein – in bestimmten Fällen.
Aber das ist uns meistens klar genug.
Nachsicht und Vergebung im Umgang miteinander
Aber dass solche Dinge eben auch im Neuen Testament stehen, das vergessen wir leicht. Ich möchte ein Beispiel des Apostels Paulus zeigen, anhand dessen wir gut sehen können, wie er tatsächlich Nachsicht üben konnte und Dinge ganz einfach sagen konnte: „Vergessen wir es! Der Herr rechnete es ihnen nicht zu.“
In 2. Timotheus 4,4-16 spricht Paulus von zwei verschiedenen Sünden, die geschehen waren. Er sagt: „Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses erzeigt, der Herr wird ihm vergelten nach seinen Werken. Hüte auch du dich vor ihm, denn er hat unseren Worten sehr widerstanden.“
Bei meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern alle verließen mich. Es werde ihnen nicht zugerechnet.
Wenn jemand wie Alexander, der Schmied, da ist, der beharrlich Böses tut – nicht einfach einmal versagt aus Unachtsamkeit oder in einer schwachen Stunde, sondern beharrlich und sich auch nicht zurechtbringen lässt – und der unseren Worten sehr widerstanden hat, dann müssen wir so reagieren wie Paulus hier. Er sagt: Der Herr wird ihm vergelten, also nicht Paulus selbst; ich räche mich nicht an ihm, sondern der Herr wird ihm nach seinen Werken vergelten. Und Paulus warnt sogar vor ihm: „Hüte dich vor ihm!“ Er ist einfach ein gefährlicher Mann.
Dann ein anderes Beispiel in Vers 16: „Bei meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern alle verließen mich. Es werde ihnen nicht zugerechnet.“ Das war natürlich ganz schäbig, wenn wir bedenken, in welcher Lage Paulus war. Er stand vor Gericht und musste sich wegen seines Bekenntnisses verantworten, einfach weil er Christ war. Inzwischen war das Christentum zur verbotenen Religion erklärt worden durch Kaiser Nero. Und da, wo er Hilfe und Beistand am meisten nötig gehabt hätte, haben die Brüder ihn einfach sitzen lassen. Das war wirklich ganz schäbig, man könnte sagen eine Gemeinheit.
Aber Paulus wusste sehr wohl, dass sie das nicht berechnend taten. Das war keine berechnende Bosheit, sondern ganz einfach Schwachheit. Als es brenzlig wurde, hatten sie plötzlich Angst und haben sich abgesetzt. Hier sehen wir, dass Paulus einfach barmherzig ist und daher sagt: „Rechne es ihnen nicht an!“
Sünde aus Schwachheit können wir wirklich sehr viel übersehen. Wir brauchen nicht immer alles aufzurufen und zum anderen hinzugehen und zu sagen: „Du, ich habe mit dir noch eine offene Rechnung. Damals hast du das einmal gemacht.“ Wir können vieles, auch wenn der andere es vergessen hat und gar nicht mehr daran denkt, dass er sich vielleicht einmal an mir verschuldet hat, einfach vor dem Herrn ablegen, vergessen – wirklich vergessen.
Und wisst ihr, was passiert? Das Wunderbare ist nicht, dass wir vergessen, dass wir gar nicht wissen, dass es je passiert ist, sondern dass wir es in dem Sinn vergessen, dass es uns gar nicht mehr belastet – in keiner Art und Weise. Es belastet uns auch nicht mehr in der Beziehung zum Bruder, in keiner Weise.
Manchmal passiert sogar, dass man Dinge ganz vergisst. Ich habe das ein paarmal so erlebt, dass Geschwister mit mir gesprochen haben: „Weißt du noch, vor Jahren, da war mal das und das.“ Und ich sagte: „Ach so, ich wusste es gar nicht mehr. Ich hätte es wirklich vergessen, total.“ Das ist so befreiend.
Ja, glückselig sind die Barmherzigen.
Die Bedeutung eines reinen Herzens
Und dann heißt es: Selig sind die reinen Herzens sind, die ein reines Herz haben. In der Bergpredigt wird an mehreren Stellen vom Herzen gesprochen, auch hier an dieser Stelle.
In Kapitel 5, Verse 21 und 22 wird zwar nicht das Wort Herz verwendet, aber wir erkennen, dass es ebenfalls um das Herz geht. Wenn ich in meinem Herzen Zwietracht oder Sünde habe, dann ist es besser, dass ich den Gottesdienst unterbreche.
In Kapitel 5, Verse 27 und 28 heißt es: Wer Ehebruch im Herzen begeht. Verschiedene Stellen in der Bergpredigt machen deutlich, dass das Innere wichtiger ist als das Äußere.
„Wohl dem, der ein reines Herz hat.“ Darauf kommt es an: dass das Herz rein ist. Es ist noch relativ einfach, ein sauberes Äußeres zu haben und einen guten Ruf bei den Leuten zu genießen. Das kann man sich irgendwie erwirken. Aber ein reines Herz – darauf kommt es an.
Nun, was ist das Herz? Wenn die Bibel vom Herzen spricht, was meint sie damit? Wir könnten sagen, eine einfache Umschreibung wäre: Das Herz ist die verborgene Triebfeder meines Tuns. So könnte man es sagen: Das Herz sind die verborgenen Triebfedern, die mein Tun bestimmen. Oder noch allgemeiner: das Verborgene des Menschen, das, was niemand sieht, was nur Gott sieht – das ist das Herz.
Und da sind eben die Triebfedern meines Tuns, die Beweggründe. Was motiviert mich? Was bewegt mich in meinem Tun?
In Kapitel 6 haben wir am ersten Abend gesehen, dass man beten kann, und es sieht so aus, als bete man zu Gott. Doch man tut es nur mit Berechnung auf die Wirkung bei anderen. Die Beweggründe, die Triebfedern sind verkehrt, sind falsch.
Ein reines Herz ist ein ungeteiltes Herz. Das heißt: Jemand, der genau das meint, was er tut und sagt. Wenn er aufsteht und betet, dann tut er das, weil er zu Gott betet, mit Gott redet. Oder wenn jemand die Geschwister ermuntert oder ermahnt, wenn er zu ihnen spricht, dann tut er das, weil er ihnen wirklich dient.
Man kann all das auch in der Gemeinde tun, um sich eine Position aufzubauen. Man kann es tun, um Anerkennung zu bekommen.
Glückselig ist, wer ein reines Herz hat. Wir können uns selbst betrügen und uns einreden, wir tun alles für den Herrn, obwohl wir doch alles nur für uns selbst tun.
Wir können auch die Geschwister betrügen, aber Gott können wir nicht betrügen. Er sieht unsere Beweggründe, er sieht, was uns wirklich treibt, was wir wirklich suchen und was unser eigentliches Anliegen ist.
Selig sind, die ein reines Herz haben.
Exkurs: Die Bedeutung des Herzens für das Gemeindeleben
So, ich schaue jetzt auf die Uhr. Nun muss ich mich entscheiden, ob ich hier diesen Exkurs einfügen soll. Denn das ist eine Grundwahrheit, die für das ganze Gemeindeleben gilt: Das Herz ist wichtiger, das Innere ist wichtiger als das Äußere.
Wir vergessen das sehr schnell, denn es ist einfacher, das Äußere zu bewahren und zu erhalten, als dass das Herz so ist, wie Gott es will. Es ist einfach leichter.
Ja, es muss uns aufgefallen sein. Gut, wir setzen jetzt zu einem Exkurs an. Es muss uns aufgefallen sein, dass der Herr uns in der Zeit, in der Zeit, in der Zeit, in der Zeit, in der Zeit, in der Zeit, in der Zeit, dass der Herr uns nichts gesagt hat – oder fast nichts – über das Äußere, über die Form, über die Größe der örtlichen Gemeinde. Und wenn ich jetzt sage „der Herr“, dann meine ich auch durch die Apostel.
Wir haben also keine Angaben darüber, wie groß eine Gemeinde sein müsse, ob 200 oder 150, welches die Idealgröße sei. Wir haben keine Angaben darüber, zu welcher Tageszeit die Zusammenkünfte stattfinden müssen. Wir haben auch keine Angaben darüber, wie genau eine Zusammenkunft abläuft.
Man könnte sagen, im 1. Korinther 14 greift Paulus einige Dinge auf, aber er sagt uns hier auch nicht, wie ein Gottesdienst begann. Es wird nicht gesagt, ob man mit Gebet beginnen muss oder mit einem Lied, oder mit zwei Liedern oder gar keine Lieder.
Es wird uns im Neuen Testament nicht gesagt, in welcher Weise wir die Sammlungen vornehmen. Es wird einfach gesagt: „Am ersten Tag der Woche lege jeder bei sich zurück.“ Aber wie man das nachher machte, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob ein Beutel oder ein Körbchen herumgereicht wurde oder gar nichts herumgereicht wurde. Es wird nicht gesagt.
Nicht einmal das, was uns ja das Wichtigste am Gottesdienst ist, das Brotbrechen, wird im Ablauf näher beschrieben. Es wird nicht gesagt, dass es so geschehen muss, dass einfach mal einer aufsteht, etwas liest, dann betet einer, ein anderer steht auf und liest etwas, betet. Es wird nicht gesagt, dass es so sein müsse.
Es wird uns auch nicht gesagt, in welcher Weise das Brot unter den Geschwistern geteilt wird. Ob man es durch die Reihen reicht oder ob alle nach vorn gehen, wird nicht gesagt. Oder ob einer mit dem Brot durch die Reihen geht, wird ebenfalls nicht gesagt.
Es wird auch nicht gesagt, aus welchem Gefäß wir den Wein trinken. Es wird nicht einmal gesagt, ob Rotwein oder Weißwein verwendet wird. Ich weiß noch gut, dass ich das erste Mal in einer Gemeinde in der Pfalz an einem Sonntagmorgen war. Ich saß so da und dachte: Weißwein! Sie hatten ein Glas, aus dem sie sich irgendwie tranken. Da dachte ich: Woher weißt du, dass es nicht Weißwein war, dort im Obersaal? Es steht einfach „Wein“.
Nun, warum werden uns gar keine Einzelheiten solcher Art genannt? Das ist ein sehr auffälliger Kontrast zum alttestamentlichen Gotteshaus. Dort sind alle Einzelheiten ganz genau geregelt: die Größe des Hauses, die Werkstoffe, alles ganz genau reglementiert, auch der Gottesdienst selbst, wer ihn ausübt, die Tageszeiten, welches Opfer wann gebracht wird – alles ganz genau geregelt.
Und all das fehlt für das neutestamentliche Gotteshaus. Dieses auffällige Fehlen will uns doch ganz sicher deutlich machen, dass beim neutestamentlichen Gotteshaus nicht der Ablauf das Entscheidende ist. Etwas anderes muss das Entscheidende sein.
Bei der neutestamentlichen Gemeinde muss etwas anderes das Entscheidende, das Wichtige sein – nicht der äußere Rahmen, nicht der Ablauf.
Nun, was ist dieses Andere? Was macht denn die Struktur der neutestamentlichen Gemeinde aus?
Die Struktur der neutestamentlichen Gemeinde ist ganz sicher nicht weniger komplex als die Struktur des alttestamentlichen Gottesdienstes, ganz sicher nicht. Ich würde sogar sagen, sie ist komplexer.
Die Struktur der neutestamentlichen Gemeinde besteht – und jetzt wiederhole ich, was ich anhand der Seligpreisungen schon sagte – aus dem Herz der Gemeinde. Das macht die Gemeinde aus: die Beziehung zum Herrn und die Beziehung zueinander.
Und all unsere Zusammenkünfte, all unser Zusammensein dient nur diesem einen Ziel: dass unsere Beziehung zum Herrn tiefer, stärker, inniger wird und dass unsere Beziehungen zueinander tiefer, stärker, inniger und besser werden.
Und jetzt sind wir sehr frei in der Form, wie das geschieht, damit das auch tatsächlich stärker wird. Wir können uns jeden Tag treffen, wir können uns eine Woche lang oder immer am Morgen treffen. Wir können uns auch immer am Abend treffen.
Warum machen wir das abends? Aus praktischen Gründen. Und da sind wir wirklich frei.
Und das, was dem Herrn am wichtigsten ist, das muss uns auch am wichtigsten werden. So müssen wir doch jeder von uns persönlich und auch als Gemeinde um alles in der Welt zusehen, dass alles, was wir tun, die Beziehung zum Herrn vertieft und stärkt, dass wir in seiner Erkenntnis wachsen.
Wir machen ja nicht Bibelstudium oder Bibelunterweisung, damit wir einfach mehr wissen, sondern wir machen das, damit unsere Beziehung zum Herrn besser und tiefer wird und die Beziehung zueinander besser wird.
Wir treffen uns zum gemeinsamen Gebet genau deshalb, zur Anbetung des Herrn, zum Brotbrechen. Wir denken an den Herrn, damit unsere Seelen, unsere Herzen noch enger an ihn gebunden werden.
Das ist das Entscheidende. Und wenn das, was wir tun, dem dient, dann ist richtig, was wir tun. Wenn das, was wir tun oder sogar verteidigen, dem nicht dient, dann können wir uns fragen: Wollen wir das weiterhin tun und verteidigen?
Was wir sehen, ist, dass die neutestamentliche Gemeinde ihre Struktur rein geistlicher Natur ist. Sie besteht aus lauter Beziehungen.
Nun, das muss sich jetzt natürlich auch anhand des Matthäusevangeliums belegen lassen. Das Matthäusevangelium ist ja jenes Evangelium, in dem wir im Neuen Testament zum ersten Mal das Wort „Versammlung“ finden, Ekklesia.
Die Identität der Gemeinde als Beziehung zu Christus
Aber auch ich sage dir, dass du Petrus bist, und auf diesem Felsen will ich meine Versammlung bauen, und die Pforten des Hades werden sie nicht überwältigen.
Hier kommt das Wort „Versammlung“ zum ersten Mal vor. Der Zusammenhang oder der Anlass, bei dem der Herr das sagt, ist sehr lehrreich. Was war der Anlass, dass der Herr jetzt von seiner Versammlung spricht?
Der Anlass war die Frage nach seiner Identität.
Matthäus 16, Verse 13 und folgende:
Als Jesus in die Gegenden von Caesarea Philippi gekommen war, fragte er seine Jünger und sprach: „Wer sagen die Menschen, dass der Sohn des Menschen sei?“ Sie aber sagten: „Etliche sagen Johannes der Täufer, andere aber Elija, und wieder andere Jeremia oder einer der Propheten.“
Er spricht zu ihnen: „Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“
Simon Petrus antwortete und sprach: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“
Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Glückselig bist du, Simon Barjona! Denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist.
Aber auch ich sage dir, dass du Petrus bist, und auf diesem Felsen will ich meine Versammlung bauen, und die Pforten des Hades werden sie nicht überwältigen.“
Ja, die Frage nach der Identität Jesu von Nazaret besteht in verschiedenen Meinungen. Petrus sagt dann: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“
Der Geist Gottes öffnete Petrus die Augen dafür, wer Jesus von Nazaret ist. Wer den Sohn Gottes erkennt, ist in die rechte Beziehung zu ihm getreten.
Wenn es ein rechtes Erkennen ist, dann erkennen wir: Er ist der von Gott gesalbte Retter und Herr. Das unterwirft uns ihm und bindet uns an ihn, sonst haben wir ihn nicht erkannt.
Dann sagt der Herr: „Auf diesem Felsen will ich meine Versammlung bauen.“ Damit macht er deutlich, dass das, was die Versammlung ausmacht, eben die Tatsache ist, dass es Menschen sind, die in der rechten Beziehung zu mir stehen. Das macht die Gemeinde.
Nun, eigentlich ist das etwas, das uns, soweit wir mit der Brüderbewegung verbunden oder vertraut sind, bekannt ist. Denn man kann ja sagen, das Programm der Brüderbewegung ist Matthäus 18, Vers 20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.“ Das ist Gemeinde.
In seinem Namen versammelt, mit ihm verbunden, zu ihm geführt, unter seiner Herrschaft gebracht und dadurch aneinander gebunden – das ist Gemeinde. Das ist das Herz und Wesen der Gemeinde, und das ist durch gar nichts zu ersetzen.
Natürlich braucht es nachher auch eine gewisse äußere Form, das braucht es einfach der Praxis wegen. Wir müssen wissen, wann wir uns treffen, wo wir uns treffen und auch ungefähr, wie lange es dauert. Das braucht es alles. Aber das ist alles untergeordnet.
Wir müssen wirklich um alles in der Welt darauf achten, dass das Herz der Sache, das auch bei uns unser Herz regiert. Das Innere ist wichtiger als das Äußere, es ist wirklich so. Darum ist ja glücklich, wer ein reines Herz hat.
Es genügt nicht, ein reines Äußeres zu haben, das Herz muss rein sein, das ist wichtiger. Darum ist es entscheidend, dass wir das Herz der Gemeinde wirklich erfassen.
Ich befürchte, dass wir bei allem Reden, bei so vielem Reden, das seit einigen Jahrzehnten unter bibelgläubigen Gemeinden über bessere Strategien und Methoden geschieht, die Welt zu erreichen, all diese Dinge, dass sie das Herz langsam aus den Augen verlieren.
Was ist die Gemeinde? Was ist das, worauf es wirklich ankommt? Was müssen wir um jeden Preis stärken, stärken, stärken? Die Beziehung zum Herrn und daraus die Beziehung zueinander – das ist Gemeinde.
Ich sagte vorhin, die Struktur des neutestamentlichen Hauses sei komplexer als die des alttestamentlichen Hauses. Das klingt jetzt sehr banal, oder? Das ist doch ganz banal. Ja, klar ist es banal.
Das ist so banal wie die Ehe. Eine Ehe ist leicht definiert: Mann und Frau, lebenslänglich aneinander gebunden. Ganz einfach definiert, oder? Aber wie komplex ist diese Sache?
Da hast du einen ganzen Menschen, eine ganze Person mit all ihren Eigenarten, Wünschen, Vorstellungen, Ideen – ein ganzes Universum. Und dann kommt ein anderer Mensch dazu. Und die beiden zusammen – das ist ungeheuer komplex.
Darum lernen wir ja in der Ehe – ich bin jetzt 24 Jahre verheiratet – wir lernen nie aus. Meine Frau wundert sich manchmal über mich. Ach so, ich wundere mich auch manchmal über sie.
Aber jetzt in der Gemeinde – die Beziehung zum Herrn, nur allein deine persönliche Beziehung zum Herrn ist von einer Komplexität, die sich gar nicht beschreiben lässt.
All das, was der Herr mit dir tut, was du mit dem Herrn redest, sagst, bedenkst und erlebst – all das bist du und der Herr allein. Aber jetzt nicht nur du allein, sondern all die anderen Geschwister auch, jeder mit dem Herrn, und dann wir miteinander.
Das ist ein Netz von Beziehungen, und das ist eine Komplexität, die grenzenlos ist, grenzenlos.
Darin entfaltet und offenbart sich das Wesen des Herrn. Da will der Herr zeigen, wer er ist und wie er ist. Und das wäre eben Gemeinde: dass an dem, wie wir jeder persönlich mit dem Herrn leben und wie wir nachher miteinander mit dem Herrn leben und miteinander umgehen, gesehen wird, wie Jesus ist.
Das ist Gemeinde. Und da merken wir schon: Wir haben jetzt für den Rest des Lebens zu lernen. Man kann das nicht in einem Seminar lernen, Gemeindelehre und dann abhaken.
Das Zusammenleben in der Gemeinde lernen wir, solange wir hier als Geschwister zusammen auf der Erde sind. Aber es lohnt sich, das zu lernen.
Das ist seit einiger Zeit mein Gebet für uns in Arbon. Wir sind jetzt einige, die irgendwie diese Sicht haben, dass wir dafür beten. Meine Gebete gelten auch den Geschwistern überall, die ich kenne.
Wir wollen doch so beten, dass der Herr mit uns örtlich in die Richtung arbeiten kann, dass das irgendwie gesehen werden kann: Hier wohnt Gott!
Man kann es auch anders sagen: Das ist es, was uns von allen anderen Gemeinschaften unterscheidet, die es gibt. Der lebendige Gott ist unter uns. Der lebendige Gott wohnt nur in der Gemeinde, sonst nirgends.
Ich meine, Gott wohnt allgegenwärtig, aber nur in der Gemeinde wohnt er in besonderer Weise. Und das macht die Einzigartigkeit der Gemeinde aus.
Das war im alttestamentlichen Gottesvolk auch so. Mose hat das sehr klar erkannt. Darum war es für Mose ein erschütternder Gedanke, als der Herr ihm sagte, er könne nicht mehr in ihre Mitte ziehen und mit ihnen weiterziehen.
Dann sagte Mose: „Wenn du nicht mit uns ziehst, dann brauchen wir nicht weiterzugehen. Denn daran erkennt man doch, dass wir dein Volk sind, dass du in unserer Mitte bist.“
Das macht Israel zum Volk Gottes – nicht, dass sie die Beschneidung hatten. Das hatten gewisse heidnische Völker auch praktiziert. Nicht, dass sie ein Opfersystem hatten – das hatten andere Völker auch. Nicht, dass sie einen Tempel hatten – den hatten andere auch.
Aber was Israel einzigartig machte, war, dass Gott in ihrer Mitte war.
2. Mose 33, Vers 16:
„Und woran soll es erkannt werden, dass ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, du und dein Volk? Nicht daran, dass du mit uns gehst und wir ausgesondert werden, ich und dein Volk aus jedem Volk, das auf dem Erdboden ist.“
Das sondert uns aus von allen Völkern: Du bist unter uns und gehst mit uns. Das ist Gemeinde.
Zwei oder drei oder auch zwanzig, dreißig oder hundert, die wirklich im Namen des Herrn versammelt sind und daher in der Mitte die Beziehung zu ihm und die Beziehung zueinander haben.
Das ist nun Aufgabe von jedem von uns. Das kann dir niemand abnehmen, das kann auch die Lehre in der Gemeinde dir nicht ersetzen: dein persönliches Glaubensleben, dein persönlicher Wandel mit dem Herrn.
Es liegt an dir persönlich, dass du den Herrn suchst, sein Angesicht suchst, nach ihm dürstest und verlangst und dass er dich dadurch verändert.
Und dann liegt es an uns allen, dass wir so miteinander umgehen, wie wir vom Herrn lernen.
Ja, das ist eine große Sache. Und wir merken, wir brauchen alle Hilfe des Himmels dazu, aber wir dürfen sehr beten. Und das wollen wir auch tun.