Wer die Wahl hat, hat die Qual, liebe Gemeinde. Sicher wissen es manche ganz genau, was sie heute wählen werden. Seit Wochen marschieren sie mit Leimkübeln durch die Stadt und tapezieren Plakatwände und Bauzäune mit immer besseren Sprüchen: "Rau, aber herzlich", "Kohl, aber gesund". An Informationsständen stehen sie bei klirrender Kälte und frieren sich Hände und Füße ab. Das Wahlvolk soll endlich kapieren, wo es lang geht. Aber daneben gibt es auch andere, die sich in Sachen Wahl schwerer tun. Schon lange machen sie sich ihre eigenen Gedanken. Soll ich mich für diese oder jene Partei entscheiden, weil ich überall meine Fragen und Vorbehalte habe? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Soll ich meine Zweitstimme nicht doch den andern geben, weil diese Leute nur mit Leihstimmen über die Hürde kommen? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Oder soll ich überhaupt nicht wählen, weil die Wahlmüdigkeit, sprich Wahlverdrossenheit auch mich gepackt hat?
Wer die Wahl hat, hat die Qual. Ein alter Erfahrungssatz. Schon vor 2000 Jahren hatte er in Galiläa seine Gültigkeit, obwohl dort weder Bundestagswahlen noch Landtagswahlen noch Gemeinderatswahlen abgehalten wurden. Dort gab es überhaupt keine Wahlen, weil nur ein einziger das Wahlrecht besaß, und das war der Herodes Antipas höchstpersönlich. Dieser Landesfürst wählte nach Belieben. Er schickte zum Beispiel seine Auserwählte in die Wüste und wählte sich die Frau seines Bruders zur Gespielin, nur weil er Abwechslung im höfischen Leben wünschte. Oder er setzte den Scharfrichter in Marsch und ließ Johannes den Täufer enthaupten, nur weil eine liederliche Prinzessin sich dies wünschte. Oder er antichambrierte in Rom und buhlte um den Königstitel, nur weil eine Mätresse eine Krone begehrte. Solche Typen schätzen keine andere Meinung. Eine demokratische Meinungsäußerung wäre strafwürdige Majestätsbeleidigung. Wenn sie wählen, dann ist die Wahl gelaufen. Deshalb umgeben sie sich mit Höflingen, die keine Stimme haben, mit aalglatten Bücklingen, die keine Meinung haben, mit eilfertigen und dienstfertigen Kopfnickern, die kein Rückgrat haben, denn "wes Brot ich ess, des Lied ich sing". Und dieses Lied ist einstimmig. Am Hof des Herodes wird nur nachgesungen. One man, one vote, ein Mann, eine Stimme; diese Forderung gilt ausschließlich für den Fürsten.
Aus jenem Dunstkreis katzenbuckelnder Beamter stammte also dieser Mann, von dem das heutige Evangelium berichtet: ein basilikos, ein Königischer, übersetzt Luther, ein Königstreuer, meinen andere, jedenfalls ein hohes Tier. Aber seine Entscheidungsbefugnisse waren gleich null. Seine Kompetenzen beschränkten sich auf ein paar Handlangerdienste. Er war die Stimme seines Herrn, der nur dann Ja oder Nein sagte, wenn dies ihm vorgesagt wurde. Aber eines Tages war Wahltag für ihn. Eines Tages hatte dieser Beamter zu wählen. Eines Tages hatte dieser Höfling zu entscheiden. Jeder, auch der Untergeordneste und Hintenangestellteste, wird es einmal mit jener unbequemen Erfahrung zu tun bekommen: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Damals hießen die Alternativen "glauben oder wissen", "glauben oder denken", "glauben oder zweifeln". Der Mann stand also erstens vor der Wahl zwischen "glauben" und "wissen".
1. Wahl zwischen "glauben" und "wissen"
Und das kam so. Der Sohn wurde krank, genauer das Söhnchen, das Vatersöhnchen, das Muttersöhnchen, kurzum das Herzenssöhnchen stolzer Eltern. Nun ist das von Haus aus kein schwerwiegendes Familienproblem. Söhnchen werden öfters krank und hängen herum. Wenn klar ist, dass es wirklich Fieber und nicht nur Angst vor der nächsten Klassenarbeit ist, dann kommen sie für zwei Tage ins Bett. Anschließend ist der Krankheitsfall vergessen. Damals war es schlimmer. Das Söhnchen siechte dahin. Man rief den Leibarzt, man lief zur Hofapotheke, man versuchte alle Kuren, aber vergebens. "Ein Mensch, berührt vom Finger des Todes", so beschrieb der Dichter Leonhard Frank einen Sterbenden: "Ein Blick, in dem nicht einmal mehr die Kraft eines Blickes innewohnt, tiefernst, fatalistisch und gefasst zugleich." Und in dieser dunklen Stunde wird dem gebrochenen Vater von Jesus gesagt. Drüben in Kana halte sich der Wanderprediger auf. Er sei der einzige, der jetzt noch helfen könne. Ohne Heiland gäbe es keine Heilung. Der Hofbeamte zögert. Sein Herz ist hin- und hergerissen. Wie soll er sich entscheiden? Er weiß, dass alle menschliche Kunst am Ende ist, und jetzt soll er dieser fremden Kunde glauben? Er weiß, dass alle medizinische Hilfe versagt hat, und jetzt soll er diesem geistlichen Angebot glauben? Er weiß, dass alle Leibärzte kapituliert haben, und jetzt soll er diesem Seelenarzt glauben? Glauben oder wissen?
Wir haben vielleicht keinen so schweren Fall zuhause, aber der eine bangt auch um sein Kind. Der andere sorgt sich um seine Mutter und der dritte denkt an seine persönliche Not: eine kranke Ehe, ein krankes Geschäft, eine kranke Beziehung. Unsere Welt ist ein großes Spital und jeder hat seinen Patienten darin. Aber dort erreicht uns die Nachricht: "Euch ist heute der Heiland geboren!" Wie gehen wir damit um? Wir wissen, dass alle menschliche Philosophie am Ende ist und jetzt sollen wir dieser Theologie glauben? Wir wissen, dass alle wissenschaftliche Rettung versagt hat, und jetzt sollen wir diesem himmlischen Retter glauben? Wir wissen, dass alle Heilsbringer kapituliert haben, und jetzt sollen wir diesem Heiland glauben? Glauben oder wissen?
"Da dieser hörte, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa kam, ging er hin." Er nahm den 26 km langen Fußmarsch von Kapernaum nach Kana auf sich. Der Glaube wurde dem Wissen vorgeordnet. Der Mann im Dienst des Königs traf die richtige Wahl. Wider besseres Wissen dem Heiland glauben, darauf kommt es an. Trotz klugen Einsichten die Aussicht auf diesen Herrn behalten, darauf werden wir gestoßen. Auch in vermeintlichen Ausweglosigkeiten den Hinweg zu Jesus Christus sich nicht nehmen lassen, darauf zielt dieser Text.
Vater Bodelschwingh, der Gründer Bethels bei Bielefeld, der gleich an vier Sterbebetten seiner kleinen Kinder stehen musste und später noch oft genug von dem Jammer seiner Patienten und Anbefohlenen angefochten war, sagte es so: "Sich aus der Welt der Angst aufmachen und zum Vater gehen". Nicht einmal die Krankheit zum Tode, nämlich die Schuld, kann uns hindern, es mit diesem Weg des Glaubens zu versuchen, so wie es der Regierungsbeamte versucht hat. Nach siebenstündigem Marsch steht er vor Jesus, aber auch vor seiner nächsten Wahl, nämlich der ...
2. Wahl zwischen "glauben" und "denken"
Und das kam so. Jesus hört sich die Bitte an, aber seine Antwort lässt den Bittsteller kalt abfahren: "Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht." Wie eine kalte Dusche trifft das den Mann. Ist das der Seelsorger, der sich um die Seele sorgt? Ist das der Heiland, der die Leute heilt? Ist das der Sohn Gottes? Was soll er von ihm denken? Er weiß ja noch nicht, was Hermann Bezzel so formulierte: "Wunderglaube ist viel schlimmer als Unglaube". Aber unser Hofbeamter denkt jetzt nicht, sondern bleibt beim Glauben. Demütig bittet er: "Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!" Jetzt müsste doch der Wanderprediger diese Bitte erhören? Jetzt müsste doch der Wundermann nach Stock und Hut greifen? Jetzt müsste doch der Heiland mit ihm nach Kapernaum gehen und zeigen, wer der Herr im Hause ist? Aber Jesus sagt nur: "Geh, dein Sohn lebt!" Der Mann hält inne. Sein Herz ist wieder hin- und hergerissen. Wie soll er sich entscheiden? Er denkt, dass ein Krankenbesuch dem Buben aufhelfen könnte, und jetzt soll er einem Wort glauben? Er denkt, dass eine Handauflegung das Schicksal wenden könnte, und jetzt soll er einem einzigen Wörtchen glauben? Er denkt, dass wenigstens ein Salbendöschen oder ein Medizinfläschchen fällig wäre, und jetzt soll er einem einzigen Sterbenswörtlein glauben? Glauben oder denken?
Wir denken auch, dass wieder Männer mit der Gabe der Heilung an die Betten treten müssten. Wir denken daran, dass in großen "healingssessions", Heilungsstunden, die Kranken auf Bahren und die Lahmen in Rollstühlen nach vorne aufs Podium gefahren werden. Wir denken darüber nach, wie dann unter den heilenden Händen Langzeitkranke aufspringen und Hallelujah singen. Der Ruf nach spektakulären Heilsversammlungen wurde immer lauter und jetzt werden sie in Hallen und Sälen auch angeboten. Glauben oder denken?
"Der Mensch glaubte dem Wort und ging hin". Unverzüglich machte er sich auf den Weg. Der Glaube wurde dem Denken vorgeordnet. Der Mann im Dienste des Königs traf wieder die richtige Wahl.
Warum wünschen wir uns unübersehbare Zeichen? Warum sehen wir uns nach eindeutigen Wundern? Warum sind wir auf einmal das Geschlecht, das nur Zeichen und Wunder sehen will? Gott hat uns doch sein Wort gegeben. Jeden Tag begegnet es uns in der Bibel. Keiner von uns muss wortlos leben. Wenn er sagt: "Sorge nicht!", dann muss ich nicht denken, ob er dieses Sorgerecht auch ausüben kann, sondern darf glauben,dass er sorgen kann. Und wenn er sagt: "Fürchte dich nicht!", dann muss ich nicht denken, ob er denn auch meinen persönlichen Schutz übernehmen kann, sondern darf glauben, dass er schützen kann. Und wenn er sagt: "Geh, dein Kind lebt, deine Mutter lebt, deine Ehe lebt!", dann muss ich nicht denken, ob er dies Leben auch schaffen kann, sondern darf glauben, dass er Leben schafft. "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben". Glücklich sind die, die Gottes Wort für bare Münze nehmen. Glückselig sind, die aufs Wort glauben.
Aber unser Regierungsbeamter ist noch nicht zu Hause. Er befindet sich erst auf dem Heimweg. Lange zieht sich der Marschweg, viel länger als der Hinweg. Einen geschlagenen Tag ist er unterwegs. Dabei wird er noch einmal vor die Wahl gestellt, die ...
3. Wahl zwischen "glauben" und "zweifeln"
Immer wenn Wege lang werden und Ziele sich hinziehen, dann keimt der Zweifel auf. Anfangs meldet er sich nur als kleine Beunruhigung. Aber dann wird er größer und stärker wie ein böses Geschwür. Schließlich greift er den Glauben an und tötet ihn ab. Ob's denn wahr ist? Ob's denn wirklich ist? Ob's denn nicht alles Lug und Trug gewesen ist? Der Heimeilende bleibt stehen. Wieder ist sein Herz hin- und hergerissen. Wie soll er sich entscheiden? Er zweifelt, dass der Sohn lebt und doch soll er an seine Gesundung glauben. Er zweifelt, dass Todkranke aufstehen und doch soll er an Wunder glauben. Er zweifelt, dass Jesus heilen kann und doch soll er dem Heiland glauben. Glauben oder zweifeln?
Schon lange sind wir auf dem Weg und die Zweifel haben uns wie böse Wegelagerer überfallen. Stimmt's denn, dass dieser Herr in den Makrokosmos dieser Welt und in den Mikrokosmos meines kleinen Lebens eingreifen kann? Ist's denn wahr, dass auch Schmerzen und Krankheiten die Heilsmacht dieses Herrn nicht einengen können? Kann ich damit rechnen, dass selbst die Todesmacht vor dieser Lebensmacht kapitulieren muss? Glauben oder zweifeln?
Der Hofbeamte ließ sich nicht übermannen. Der Glaube wurde vor den Zweifel gesetzt. Der Mann im Dienste des Königs traf zum dritten Mal die richtige Wahl. "Und während er hinging, begegneten ihm die Knechte und sagten: "Dein Kind lebt". Lange musste er warten, sehr lange sogar. Erst nach einem Tag und einer Nacht bekam er die Bestätigung. 24 Stunden dauerte es vom Glauben zum Schauen.
Es kann sein, dass es bei Ihnen noch viel länger dauert. Es kann sein, dass Sie 24 Tage oder 24 Monate warten müssen. Es kann sogar sein, dass Ihnen 24 Jahre auferlegt sind. Aber liebe Freunde, selbst wenn es 24 Jahrhunderte wären - 1000 Jahre sind vor ihm wie ein Tag -, es kommt der Tag, an dem wir mit unseren Augen sehen werden: der Sohn lebt, die Tochter lebt, die Mutter lebt, die Ehe lebt, ich Todgeweihter lebe. Jesus ist der Garant dafür. Er kann helfen und heilen, mehr: Er kann retten und erlösen, mehr: Er kann Leben und Seligkeit schenken. Ihn müssen wir wählen, so wie der Mann im Dienste des Königs: Drei Voten für den Glauben. Drei Stimmen für den Herrn. Drei Kreuze für das Kreuz.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]