Wer gibt den Ton an?

Konrad Eißler
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Seien Sie dabei beim Sing-In im Tempel von Jerusalem. Wer gab damals den Ton an? Und heute bei uns? Jesus sagt: Ich! - Predigt zum Sonntag Kantate aus der Stiftskirche Stuttgart


Wir wissen heute, was ein sit-in ist, liebe Gemeinde. Eine Gruppe von Leuten betritt das Gotteshaus und setzt sich auf die letzten Stuhlreihen. Natürlich wurde vorher die Presse über diese gewaltfreie Aktion unterrichtet, sonst würde kein Mensch Notiz davon nehmen. Prompt eilen auch Fotografen, Journalisten und Reporter herbei. Bilder werden geschossen, Meldungen geschrieben, Interviews gegeben. Am nächsten Morgen bekommt es jeder mit der Zeitung zum Frühstück serviert: Sit-in in der Stiftskirche gegen das Militärregime.

Wir wissen auch, was ein speak-in ist. Mitten im Gottesdienst steht einer auf und spricht los. Sitznachbarn versuchen ihn zu bremsen, aber vergebens. “So spricht der Herr” tönt es durch das Kirchenschiff. Dabei handelt es sich um keinen nervenschwachen Zeitgenossen, dem die Gäule durchgegangen sind, sondern um einen willensstarken Kirchgänger, dem diese Verkündigung nicht passt. Viele Ohrenzeugen sind verstört und diskutieren darüber: speak-in in der Stiftskirche gegen die Botschaft.

Wir wissen auch, was ein go-in ist. Eine ganze Mannschaft lagert sich auf dem Altarteppich und erklärt die Kirche für besetzt. Selbstgefertigte Spruchbänder flattern über dem Kirchenportal und laden zum Gespräch ein. Einige Passanten kommen herein und lassen sich zwischen Schlafsäcken und Kerzenstummeln von Besetzern politisch informieren: Go-in in der Stiftskirche gegen Faschisten! Sit-in, speak-in, go-in, wie viel “ins” werden wir noch erleiden?

Die damals erlitten einen sing-in. Und das kam so. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Scharen von Gläubigen durch die Tore. Beim großen Passah in Jerusalem wollte jeder dabei sein. Die ganze Stadt glich einem Ameisenhaufen. Da bewegte sich auf einmal ein seltsamer Zug vom Ölberg herunter Richtung City. Voraus ein Eselsreiter ohne Sattelzeug, dann zwölf gestandene Männer und dahinter ein paar besonders Begeisterte. Eine Spannung entsteht, wie wir sie von vielen Demonstrationszügen auch kennen. Eine Welle wird ausgelöst, die plötzlich überschwappt und andere ergreift. Die Volksseele ist in Wallung. Die einen reißen die Blusen und Kittel vom Leib und pflastern mit Kleidern die Straße, und die andern rupfen die Bäume und veranstalten mit Palmblättern eine Konfettiparade. “Wer ist der?” rufen die einen. “Das ist Jesus!” schreien die andern. Und aus all diesen Stimmen verdichtet sich der Massenchor in geballter Lautstärke: “Hosianna, dem Sohn Davids. Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn.” Eine Bewegung ist ins Rollen gekommen. Aber zum großen Befremden vieler Mitläufer und Mitschreier lenkt der Mann auf dem Esel seinen Ritt nicht gegen die Festung der Römer, sondern gegen den Tempel der Juden. Dort macht er mit den kaufmännischen Hausbesetzern kurzen Prozess und setzt sie vor die Tür. Anstatt die Römer aus dem Land, schmeisst er die Juden aus dem Tempel. Und so etwas will ein Messias sein? Die ersten Demonstranten sind also schon am Palmsonntag frustriert und verstummen. Nur Kinder sind nicht zu stoppen. Mitten im Heiligtum reißen sie den Schnabel auf. Dreikäsehochs, Lausbuben, Dreckspatzen singen vielstimmig: Hosianna dem Sohn Davids! Kein Wunder, dass die Tempelleitung, der dieser Spatzenchor so gar nicht in den liturgischen Stiefel passt, auf der Bildfläche erscheint und den Eselsreiter wütend fragt: Wer ist eigentlich hier Herr im Haus? Wer hat hier das Sagen? Wer gibt hier den Ton an? Diese Schmierfinken vielleicht, oder diese Protestierer, oder gar Du, Du hergelaufener Davidssohn? Und Jesus sagt: Ja! Ich! Das ist das Haus meines Vaters, deshalb bin ich der Herr im Haus. Er hat mich beauftragt zu reden, deshalb habe ich das Sagen. Sein Wille ist maßgebend, deshalb gebe ich den Ton an.

Und dabei, liebe Freunde, soll es in allen Tempeln und Gotteshäusern bis heute bleiben, auch in der Stiftskirche. Tonangebend dürfen Besetzer nicht werden. Kirchen sind keine Freiplätze. Tonangebend dürfen Schwärmer nicht werden. Kirchen sind keine Sprechsäle. Tonangebend dürfen Radikale nicht werden. Kirchen sind keine Protesträume. Tonangebend sind nicht einmal die Kirchengemeinderäte, die Pfarrer, die Prälaten oder die Bischöfe. Jesus und nur Jesus ist der Hausherr. Jesus und nur Jesus hat das Rederecht. Jesus und nur Jesus gibt den Ton an.

Wenn aber er den Ton angibt, dann gibt es auch keine alte Leier mehr, sondern nur noch das neue Lied. Genauer: Wenn Jesus den Ton angibt, dann wird der Introitus angestimmt, das Kyrie gebetet und das Gloria gesungen.

1. Der Introitus lautet: Kommet her zu mir alle und nicht nur ganz bestimmte.

Seit Davids Tagen hing ein Schild am Jerusalemer Tempel: Blinde und Lahme haben keinen Zutritt. Ihm waren diese Behinderten verhasst. Das heulende Elend gehört nicht in den strahlenden Tempelglanz. Deshalb saßen sie draußen vor die Tür, diese Männer mit weißen Stöcken und hölzernen Krücken, und warteten auf einen Almosen. Medizinisch gesehen waren es hoffnungslose Fälle, denn gegen blinde Augen und lahme Füße war kein Kraut gewachsen. Sozial gesehen waren es traurige Schicksale, denn in der Altstadt wimmelte es von solchen, die mit umgestülpten Mützen den Gehweg blockierten. Religiös gesehen waren es schuldige Kreaturen, denn nach geltender Theologie ging es jedem so, wie er es verdient hat. Nur christlich gesehen war es anders. Jesus sah die Bindenträger und Rollstuhlfahrer. Jesus sieht die Armen und Elenden. Jesus übersieht keinen. Für ihn sind das keine hoffnungslosen Fälle, keine traurigen Schicksale und keine schuldigen Kreaturen, sondern nur wertvolle Geschöpfe seines Vaters. Das ist die Würde eines jeden von uns, eine unverlierbare Würde. Wir mögen unsere Gesundheit verlieren und an Schmerzen leiden, die die Nächte zur Qual machen. Wir mögen das Vertrauen verlieren und an Menschen leiden, die uns schändlich betrogen haben. Wir mögen den Glauben verlieren und an uns selbst irre werden, weil wir ständig versagen. Liebe Freunde, unsere Geschöpflichkeit verlieren wir nie. Wir bleiben Kinder des Vaters. Die Abstammung steht. Und die sieht Jesus. Deshalb reißt er das Schild vom Tempel, öffnet die Tore und lädt mit ausgebreiteten Armen ein: “Kommet her zu mir alle, alle, alle!” Leider haben wir neue Schilder gemalt und sie heimlich an unsere Pforten gehängt. Zwar lauten sie in unseren Breitengraden nicht: Nur für Weiße, Farbige haben keinen Zutritt! Aber vielleicht buchstabieren wir es so: Nur für Intelligente, Einfältige haben keinen Platz! Nur für Erwachsene, Jugendliche stören die Feierlichkeit! Nur für Fromme, Kritiker müssen draußen bleiben! Jesus mag diese Schilder nicht. Er ist ein erklärter Feind von jeder Rubrizierung oder Klassifizierung. Privatkapellen für eine erlesene Gesellschaft ist nicht im Sinne dieses obersten Kirchenherrn. Wir dürfen doch nicht ausladen, wo er einladen will. Wir dürfen doch dort nicht einteilen, wo er austeilen will. Wir dürfen doch dort nicht wegsprechen, wo er zusprechen will. Alle sind angesprochen. Jeder ist gemeint. Ihnen persönlich gilt der Introitus: Kommet her zu mir! Dann das Zweite:

2. Das Kyrie wird gebetet. Wohl steht das Hosianna im Text. Aber Hosianna heißt ursprünglich: Hilf doch! Errette doch! Greif ein! Also das Kyrie eleison wird gebetet, Herr erbarme dich! Vorher hörte man nur das Geschrei geldgieriger Wechsler und gewinnsüchtiger Kaufleute, die im Tempel ein Geschäft witterten. Wo so viel Menschen zusammenkommen, muss sich manches in bare, klingende Münze umsetzen lassen. Schnell waren Tische und Läden aufgestellt. An kauflustigen Pilgern fehlte es nicht. So war ein lautes Kaufen und Feilschen im Gange. Da tritt Jesus auf. Seine Stimme übertönt den Marktrummel: Mein Haus soll ein Bethaus sein. Tische werden umgestoßen, Käfige fallen durcheinander, erschreckte Makler raffen ihr Geld zusammen, geldhungrige Leute verlassen mit ihrem Tingeltangel den Tempelplatz. Unsere Sympathien gehören natürlich diesem Mann, der diese Nichtsnutze mitsamt ihrem Sperrmüll hinausspediert hat. Aber was haben denn die Leute Böses getan? Doch nichts anderes als diesen Platz für ihre eigenen Interessen nutzbar gemacht. Sie wollten nicht nur Gottesdienst, sondern Kundendienst. Sie wollten nicht nur Bethaus, sondern Kaufhaus. Sie wollten nicht nur Kirche, sondern Kirbe. Nur sie? Sind wir frei von dem Vorwurf der heillosen Verquickung von Glaube und Geschäft? Sind diese Kirchenmitglieder frei, die Gott nur zur Konfirmation oder Hochzeit bestellen, damit ihre Sache feierlicher wird? Sind diese Protestanten frei, die von der Kirche mehr Dienst am Kunden, mehr Betriebsamkeit, mehr Aufgeschlossenheit, mehr Weltförmigkeit verlangen? Sind diese Pfarrer frei, die das Evangelium zeitgemäß einwickeln und billig verramschen? Müsste Jesus nicht eine neue Geißel flechten und uns alle von diesem Ort vertreiben? Mein Haus soll ein Bethaus sein. Hier ist Platz für solche, die nicht mehr vor sich selber knien, sondern ihrem Gott die Ehre geben: “Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.” Hier ist Platz für solche, die von Schuld zerfressen sind wie vom Krebs, aber doch kommen und mit dem Zöllner flehen: “Herr, sei mir Sünder gnädig.” Hier ist Platz für solche, die nach der vergangenen Woche in tiefer Ratlosigkeit stecken, von Angst gelähmt sind und doch noch das Apostelwort im Ohr haben: “Sorget nicht, sondern in allen Dingen lasset euer Bitten im Gebet und Flehen vor Gott kund werden.” Hier können und sollen wir all unsere belastenden Dinge, unsere schweren Gedanken und geheimen Befürchtungen, unsere ungelösten Fragen und erdrückenden Lasten vor diesem Gott ausbreiten und gemeinsam beten: Kyrie eleison, Herr erbarme dich unser.

Nun fällt auch der dritte Ton auf, der hier anklingt:

3. Das Gloria wird gesungen. Der Lobpreis brandet auf. Jubel rauscht durch die Tempelhalle. Auffallenderweise kommt er nicht von der Konzertempore, wo vielleicht ein jüdisches Vokalensemble Aufstellung genommen hat. Er kommt auch nicht aus dem Chor, wo vielleicht die Jerusalemer Sängerknaben psalmodieren. Das “Gelobt sei Gott in der Höhe” wird von rauen Bubenkehlen gesungen, die weder rein noch schön sind. Der Tempelkantor bekommt eine Gänsehaut. Der Liturg ist einem Herzinfarkt nahe. Aber Jesus freut sich und zitiert den 8. Psalm: “Aus dem Mund von Unmündigen hast Du Lob zugerichtet.” Das heißt doch: Jesus wird nie mit dem Kopf begriffen, sondern immer nur mit dem Herz ergriffen. Deshalb müssen wir wie Unmündige werden, die unreflektiert und spontan diesem Herrn die schuldige Ehre geben.

Die Erwachsenen sagen: Die sind doch viel zu klein. Jesus aber sagt: Ihr seid doch viel zu groß; ihr meint es selbst schaffen zu können und schafft es doch nicht. Die Gescheiten sagen: Die sind doch viel zu dumm. Jesus aber sagt: Ihr seid doch viel zu klug. Euer Intellekt ist kein Dietrich für alle Schlösser. Die Besserwisser sagen: Die sind doch viel zu schwach. Jesus aber sagt: Ihr seid doch viel zu stark. Wenn ihr an euren eigenen Kräften nicht verzweifelt und wie Kinder fromm und fröhlich seid, kann ich euch die ganz große Freude nicht schenken. Jesus hat einen Zug nach unten. Er ist geradezu parteiisch für die Kleinen und Schwachen und Geringen und Behinderten. Trauerfiguren der Gesellschaft werden zu Schlüsselfiguren im Reiche Gottes. Behinderte in unseren Augen werden zu Bevorzugten in seinen Augen. Unwerte bei uns sind die Wertvollen bei ihm. Jesus liebt nach unten, wo wir immer nach oben schielen. Deshalb kommt auch das Lob aus der Tiefe. Es nimmt jetzt schon den Jubel auf, der einmal dann aufbrausen wird, wenn dieser Herr nicht mehr auf einem grauen Esel, sondern auf dem weißen Pferd daherreiten wird und das letzte Hosianna gesungen wird. Dann wird unser Klagen und Weinen, unser Hunger und Durst, unsere Fremde und Heimatlosigkeit von dem strahlenden Thema bestimmt sein: “Dem, der auf dem Thron sitzt, sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit.”

Bis dahin, liebe Freunde, lasst uns beim Introitus, Kyrie und Gloria bleiben.

Amen