Einführung in das Kreuzesgeschehen und die Streitfrage am Kreuz
Wir haben in den Passionsandachten immer wieder einzelne Berichte aus der Leidensgeschichte Jesu gehört. Jetzt wollen wir Lukas 23 lesen, einen Ausschnitt aus dem Kreuzesgeschehen, und zwar die Verse 39 bis 43.
Fünf Verse:
„Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte Jesus und sprach: ‚Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!‘ Da wies ihn der andere zurecht und sprach: ‚Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen, dieser aber hat nichts Unrechtes getan.‘ Und er sprach: ‚Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.‘ Und Jesus sprach zu ihm: ‚Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.‘“
Wahrscheinlich wird in unserer Welt über vieles gestritten und prozessiert, manchmal auch mit großer Erbitterung. Es wird um Geld gestritten, um politische Fragen, um die Ehre gezankt oder um Frauen. Über vieles kann man sich streiten.
Aber dass zwei Menschen sich im Angesicht des Todes streiten, das ist nicht normal und auch nicht alltäglich.
Die beiden Männer, die sich da streiten, waren lange Zeit im Leben eng verbunden. Sie waren Kumpane, hielten zusammen durch dick und dünn, wie Pech und Schwefel. Sie waren Komplizen, ein eingespieltes Duo. Wahrscheinlich schaffte der eine für den anderen, der andere trat für den einen ein.
Und jetzt, plötzlich, kommen sie miteinander über das Kreuz in Streit. Warum? Wegen dem, der da am Kreuz hängt, wegen Jesus. Es gibt einen Streit, sie zanken sich und finden nicht mehr zueinander.
Die Spaltung durch die Haltung zu Jesus am Kreuz
Was uns die Bibel erzählt, passiert häufig: Man kann ganz nah zusammenleben, vielleicht sogar in einer Ehe verbunden sein, und doch nie wirklich zusammenfinden. Das liegt daran, dass man nie klarkommt, was man von dem Mann am Kreuz halten soll.
Es ist sogar so, dass dieses Problem weit in unsere christlichen Gruppen, Kreise und Gemeinden hineinreicht. Viele nennen sich Christen, doch wenn wir heute darüber reden, was uns Jesus Christus bedeutet, der am Kreuz gestorben ist, trennen uns Welten. Wir haben völlig unterschiedliche Meinungen.
Das ist interessant: Vieles kann uns verbinden – christliche Überzeugungen, Traditionen, Ordnungen und sogar große Teile der Bibel können uns lieb und sympathisch sein. Man kann sich für die Bergpredigt begeistern und für Gottes Schöpfungskraft. Aber sobald es um den Mann vom Kreuz geht, um Jesus, der für meine Schuld gestorben ist, beginnt eine große Debatte, ein Streit um Jesus.
Wenn wir genauer nachfragen, merken wir, dass diese Gegensätze unversöhnlich sind. Man kann sie nicht zusammenbringen. Vielleicht möchte man die Frage manchmal weit von sich weghalten und sagen: „Ich will das jetzt gar nicht entscheiden.“ Doch wir werden getrennt. Plötzlich stehen wir auf der einen oder der anderen Seite. Es gibt keine Mittelgruppe mehr.
Selbst wenn man die Entscheidung vor sich herschieben will, eine Mittelgruppe gibt es nicht. Man muss sich entscheiden. Wenn in unserer heutigen Geschichte nur zwei Positionen übrigbleiben – auf der einen Seite und auf der anderen – dann ist das typisch. Es gibt nur zwei Meinungen.
Die eine Seite ärgert sich furchtbar an dem gekreuzigten Jesus und lästert. Das heißt, sie sammelt ihren ganzen Spott und zieht los, zieht vom Leder und sagt: „Ich will nichts mehr von diesem Jesus wissen. Nein, mit dem will ich nichts zu tun haben.“
Die andere Seite dagegen ist von unbeschreiblicher Dankbarkeit erfüllt. Sie sagt: „Das hat der am Kreuz für mich getan. Er hat mich fröhlich gemacht, mir Trost gegeben, Zuversicht und Freude. Niemand kann mich verstehen.“
Darum ist es ganz richtig, dass für uns das Kreuz das ganz entscheidende Zeichen ist. Wenn es so groß in unserer Kirche hängt, dann ist es das entscheidende Zeichen für unseren Glauben, an dem sich alles scheidet. Und wir müssen immer wieder auf dieses Zentrum zu sprechen kommen.
Das Leben und die Haltung von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf als Beispiel
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf stammte aus einem edlen Geschlecht. Sein Vater starb kurz nach seiner Geburt, doch sein Stiefvater war österreichischer Generalfeldmarschall. Durch den Namen, der ihm gegeben wurde, hatte er jederzeit und ohne Voranmeldung Zutritt beim deutschen Kaiser.
Er gehörte zu einem dieser großen Geschlechter. Seine Großmutter, die ihn erzogen hat, vermittelte ihm viel. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr ließ sie ihn nie über einen Gartenweg laufen, sondern trug ihn stets in der Sänfte von Dienern. Doch das war nicht das Besondere an Zinzendorf. Er gab all das später auf.
Er ging zu Fuß und reiste durch die Welt. Er nahm sich der Elenden an, insbesondere der böhmischen Flüchtlinge, und nahm sie auf seinem Gut in Herrnhut auf. Dafür handelte er sich ein, dass ihn sein sächsischer Landesherr für zwanzig Jahre von seinem eigenen Gut verbannt hat. Er war jemand, der die Geringen liebte.
Das Geheimnis bei Zinzendorf war jedoch, dass er sagte: „Ich kann den gekreuzigten Jesus nicht vergessen.“ Das war die Mitte seines Lebens. Größer als sein Name, der ihm mitgegeben war, größer als Geld, Gut und Herrentitel.
Sie wissen doch, wie er als Siebzehnjähriger wieder in der eigenen Kutsche unterwegs war, für ein Jahr als Kavalier die Reise nach Paris unternahm und dort alles genießen durfte, was ihm offenstand. Doch in Düsseldorf blieb er vor dem Bild des Gekreuzigten stehen. „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Das hat ihn tief ergriffen.
Daraufhin dichtete er den Liedvers:
„Ich bin durch viele Zeiten, wohl gar durch Ewigkeiten
in meinem Sinn gereist, doch wo ich hingekommen,
nichts hat mein Herz genommen,
Als Golgatha – Gott sei gepreist.“
Das hat ihm das Herz genommen. Das war ihm so groß.
Zwei gegensätzliche Reaktionen auf das Kreuz Jesu
Jetzt möchte ich heute nur zwei Teile behandeln. Ich will einfach die zwei Positionen zeigen, die man nur unter dem Kreuz Jesu einnehmen kann.
Mein erster Punkt: Warum sich Menschen am Kreuz Jesu stoßen.
Warum sich Menschen am Kreuz Jesu stossen
Jetzt müssen wir den Mann, der Jesus lästert, noch einmal genauer betrachten. Das hat seinen Grund. Normalerweise beschäftigt man sich in der Todesstunde nur noch mit dem Wesentlichen. Doch ihn hat das umgetrieben. Sicher haben es ihm andere erzählt, oder er hat selbst irgendwo einmal gehört, was Jesus gesprochen hat: „Ich bin gekommen, damit Menschen Leben haben sollen“, „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – all die vielen Worte, die Jesus gesagt hat.
Und jetzt, in dieser Hinrichtungsstunde, wendet er sich noch einmal zu Jesus. Nun entlädt sich aller angestauter Hass. Er spottet und sagt: „Du, wer bist du eigentlich? Was für ein Versager, was für ein Sprücheklopfer!“ Solche Bibelsprüche haben wir ja noch nie gesagt, und wir haben sie auch so verächtlich gemeint. Das sind ja bloß Worte, nichtssagende Worte. Was steht denn schon dahinter? Was kann er denn schon machen? Was war das für ein Mann, der da hingerichtet wurde?
Ich denke, wir dürfen ihn gar nicht so unsympathisch sehen. Er ist ein Mann, der sich für ein großes und edles Ziel eingesetzt hat. Wir wissen es nicht genau, aber wahrscheinlich liegen wir nicht falsch, wenn wir den Auslegern folgen, die meinen, er sei einer jener Kämpfer gewesen, die sich für die Befreiung Israels eingesetzt haben. Einer, der sagte: Wir müssen etwas tun und das Joch der Römer abschütteln. In diesem Kampf muss man alle Mittel nehmen, die einem zugänglich sind, und so wurde er zum Mörder. Aber es war ein großes, leuchtendes Ziel.
Es ist interessant, dass heute selbst Pazifisten Verständnis für den Krieg haben, wenn es um die Guerillabewegungen unserer Zeit geht. So unsympathisch kann er gar nicht gewesen sein. Er war ein Mensch der Tat. Er sagte: Wir Menschen müssen diese Welt gestalten, wir müssen mithelfen, dass die misslichen Zustände sich ändern. Wir können nicht die Hände in den Schoß legen.
Er war einer der Idealisten, der sich nicht nur für seine eigenen Interessen eingesetzt hat. Er wollte nicht bloß seine niedrigen Instinkte befriedigen, sondern kämpfte für große Ziele: Gerechtigkeit, Neuordnung der Welt, Menschenrechte. So stelle ich mir ihn vor.
Darum ärgert er sich an Jesus und sagt: „Jesus, du bringst gar nichts für unsere großen Ziele. Du bedeutest gar nichts für uns.“ Es ist ja interessant, dass die meisten Menschen heute mit Jesus, dem Gekreuzigten, nichts anfangen können. Die Großen der Welt, die Denker und Philosophen – was hilft ihnen, dass Jesus am Kreuz starb? Das ist eine peinliche Geschichte.
Und die Militärs und Wirtschaftsführer – was fängt man denn mit Jesus an, der dort stirbt? Was soll das für mich bedeuten? So kommt dieser Spott aus diesem Mann heraus. Man spürt direkt, wie hinter ihm durch die Jahrhunderte viele stehen, die ganz ähnlich enttäuscht sprechen und sagen: „Das bringt mir nichts, damit kann ich nichts anfangen in meinen Schwierigkeiten im Leben. Wenn ich kraftlos bin, wenn ich verzagt bin, was fange ich denn mit diesem Jesus an, wenn er mir wenigstens helfen würde?“
Dann kann jeder so eine Geschichte erzählen: „Mir hat er auch nicht geholfen. Ich habe auch mal gebetet, und dann blieb alles zu, verriegelt. Ich habe nichts gespürt von der Gegenwart Gottes. Wo war Gott in meinem Leben, als ich krank war? Niemand war da. Als ich allein kämpfen musste, hat sich niemand um mich angenommen. Da war kein Gott, da war kein Jesus.“ Viele haben so gesprochen und gelästert: „Wo ist denn er mit seiner großen Hilfe?“
Darum ist es heute sogar Mode geworden unter Christen, das Bild des Gekreuzigten auszutauschen. Ich bin schon oft schwer erschrocken, wenn ich in christlichen Gemeindehäusern ein Bild sah, auf dem nicht der gekreuzigte Jesus zu sehen war, sondern der Körper Jesu durch einen ausgebeuteten Indio Südamerikas ersetzt wurde.
Was ist das für eine merkwürdige Gotteslästerung? Das Leiden eines Indios ist etwas ganz anderes. Nicht, dass wir keine Sympathie für arme Menschen hätten, die unterdrückt werden. Aber das ist doch etwas anderes als das Leiden Jesu, des vollkommenen Gottessohns.
Ich verstehe aber die Menschen, die das tun, die sagen: „Was hilft uns denn der Tod Jesu?“ Sie hängen dieses Bild auf, weil sie sagen: „Wir wollen wenigstens Emotionen wecken. Mit Emotionen können wir noch die Befreiung der unterdrückten Völker fördern. Das hat wenigstens noch Sinn.“
Seine Lästerung Jesu entspringt Unverständnis und Unkenntnis. Bei diesem Mann ist es erschütternd, wie dunkel es bleibt, wie er in den Tod geht.
Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, ist es eine verbreitete Meinung, dass das Sterben Frieden bringen würde. Ich weiß nicht, wer diese Meinung aufgebracht hat. Nach allem, was die Bibel sagt, ist der Tod unheimlich und schwer. Er bleibt der letzte Feind, der überwunden wird, und er bringt Not und Jammer.
Dieser Mann, der da stirbt, spürt etwas vom Grauen des Todes. Im Tod wird sein Lebenswerk zerschlagen. Was bin ich noch im Tode? Wenn sich ein Mensch dieser Frage stellt, kommt er in Unruhe. Er wird grübeln und fragen: „Was hält mich im Tode?“
Es gibt einen Ausweg: Man kann sagen, es geht gar nicht um mich. Im Tod kann man noch stolz sagen: „Es ist doch ganz egal, auch wenn ich draufgehe. Hauptsache, die Bewegung lebt weiter, das Kollektiv. Das Ziel, für das ich mich eingesetzt habe.“ So haben es lange die Kommunisten den Menschen erzählt: Es ist nicht so wichtig, was aus dir wird, Hauptsache die Bewegung geht weiter.
Man merkt, wie das Kreuz Jesu plötzlich sichtbar macht, wie arm unsere Lebensziele sind. Was haben wir? Wofür leben wir?
Dieser eine Übeltäter, der noch stolz im Sterben sagt: „Ja, ich stehe zu meiner Sache, für die ich gekämpft habe, das war mir wichtig.“ Vielleicht wollen wir das auch noch einmal in unserer Grabrede hören: Für was wir gearbeitet haben, was unsere Freizeitbeschäftigung war.
Aber ist das Trost? Trägt das über den Tod hinaus? Ist das nicht immer ein Zeichen der Leere?
In der Passionsgeschichte Jesu wird das unheimlich deutlich: Wie arm und leer wir sind, weil am Kreuz alle Lebenspläne durchgestrichen werden. Wie unser Leben endet – unheimlich!
Wie Menschen sich am Kreuz Jesu freuen
Und jetzt müssen wir das andere sehen: Da ist ja noch der auf der anderen Seite, und ich möchte darüber reden, wie Menschen sich am Kreuz Jesu freuen.
Für den einen auf der Seite hat Jesus kein Wort mehr übrig. Das schockiert mich jedes Mal, wenn ich es lese. Jesus, der mit den Mächtigen geredet hat, der sich noch mit Pilatus abgab und mit ihm sprach, Jesus kann schweigen. Ich habe Angst davor, dass Jesus einmal bei uns nichts mehr sagt. Er hat ja so viel geredet – und dann schweigt er, weil alles klar war und die Entscheidung gefallen ist.
Aber für den anderen auf der Seite hat Jesus noch ein Wort. Die Lieben bewegen sich, und Jesus spricht. Es steht nichts davon da, dass die Menschen um das Kreuz herum überhaupt zur Kenntnis genommen hätten oder darauf geachtet hätten, was da oben am Kreuz Großes geschieht. Vielleicht haben sie es erst nachher richtig zur Kenntnis genommen, dass da ein ganz großer Vorgang ablief in diesem Zwiegespräch, das ja so kurz und so knapp war, aber so vorbildlich knapp.
Da muss man doch dranbleiben: Da ist ganz Gewaltiges geschehen. Ein Mensch, dessen Leben nur noch Schutt war, wo alles zerbrochen war, alles verkehrt und alles falsch. Ein Mann, der keine Chance mehr hat, sein Leben in irgendeiner Weise in Ordnung zu bringen, dem spricht Jesus alles zu – das Allerhöchste, was es je geben kann: Sieg über den Tod, ewige Geborgenheit, völlige Vergebung aller Schuld. Dass ein ganz verkrachtes, verkorkstes Leben total in Ordnung kommt.
Sagen Sie, wo gibt es denn so etwas überhaupt? Darum ist das Kreuz für uns ein Hoffnungszeichen, ein Siegeszeichen, ein unbeschreiblicher Trost. Und es liegt so nah beieinander – es kommt bloß darauf an, von welcher Seite ich das Kreuz anschaue.
Jesus hat viele Wunder getan, aber kein Wunder war so groß wie dieses. Denken Sie einmal an die Stelle, wo Jesus die tobenden Wellen stillte und sprach: Im Windsturm auf dem See genährt sich Schweigen, und verstummen die Wellen, sie legen sich. Aber was hier geschieht, ist noch viel größer.
Da legen sich nicht nur Wasserwellen, da muss der Tod verstummen, da muss der Teufel zurückweichen, und die Hölle muss ihre Beute hergeben. Oder wenn Sie sagen, da hat Jesus Kranke geheilt: Sagen Sie, eine Krankenheilung, wenn der Aussatz weicht – das war ja damals ein unbegreifliches Wunder, weil kein Arzt einen vom Aussatz heilen konnte, anders als heute, aber damals.
Aber hier macht Jesus ja einen noch von etwas viel Schlimmerem heil als von einer äußeren Krankheit. Oder wenn Sie sagen, eine Totenauferweckung – das ist etwas Großes. Aber ich bitte Sie: Wenn die Tochter von Jairus aus dem Sarg wieder herausgeholt wird und in dieses Leben zurückkehrt, ist das doch viel, viel weniger, als wenn da ein Mensch den Tod sogar vollständig überspringt und in die neue Welt Gottes, ins Paradies, eingeht.
Dieses große, gewaltige Wunder geschieht am Kreuz. Und das, was Jesus hier gibt, ist Liebe – unendliche Liebe und Gnade. Und wenn ich in diesen beiden Worten sagen kann, dann ist es das: Dieser Mensch ist von Gott geliebt, angenommen und ihm wird das gültig zugesprochen, dass all das, was in seinem Leben ihn je von Gott getrennt hat, in einem Augenblick weggenommen ist. Heute. In einem Nu, in dem Bruchteil einer Sekunde – so wie man beim Sport immer in Hundertstel von Sekunden rechnet, noch viel kürzer ist der Augenblick, in dem sich einer zu Jesus hinwendet und ihm sagt: Herr, denk an mich.
Wenn wir einmal untersuchen, was Glauben ist – das kann man ja hier studieren –, dann braucht sich Glaube nicht einmal in vollkommenen theologischen Begriffen zu äußern. Jesus schaut nur auf das Vertrauen, so wie diese Frau, die nur ihre Hand ausgestreckt hat, die Frau, die so krank war und den Saum des Gewandes Jesu berührte.
Sie brauchen bloß mit dieser Sehnsucht auf Jesus blicken und sagen: Herr, ich brauche Dich. Ist es nicht unheimlich, dass das entscheidet zwischen gerettet und verloren? Und das wird hier deutlich in der Passionsgeschichte, dass es diesen unheimlichen Graben gibt: gerettet oder verloren. Das spaltet alle Menschen.
Ob einer aufblickt zu Jesus – es ist gar nicht wichtig, was mein Leben an großen Taten hatte, wie viel ich für Gott gewirkt habe, in welchen Diensten ich war, was ich leisten durfte oder welche Anerkennung ich bekommen habe. Nur wichtig ist, ob ich zu Jesus aufblicke, ob seine Gnade mich freimacht und lösen kann.
Wenn Sie sagen: Wie hat denn dieser Übeltäter, dieser Verbrecher, der dort am Kreuz hing, überhaupt glauben können? Ich kann es Ihnen nicht beantworten. Ich weiß nicht warum. Glaube ist jedes Mal ein Wunder, ein Geheimnis. Deshalb braucht keiner, das von sich wegzuschieben und zu sagen: Dann kann ich nichts dafür.
Doch Sie, die Sie heute das Wort hören, sind eingeladen zum Glauben. Sie wären ja selber der Gestrafteste, Sie würden sich ja selbst ins eigene Fleisch schneiden. Sie können ja glauben. Wie soll uns denn Jesus seine Liebe und sein Vertrauen und seine Nähe noch zeigen können, als er so tief heruntergeht, dass er es hier zeigt an einem Exemplar, an einem Aus der Reihe der Menschen?
Da wird es für uns richtig so, dass wir es jetzt wagen können, auch zu kommen. Wenn der kommen darf, dann darf ich doch auch kommen. Dann kann ich nicht zu schlecht sein, dann kann ich nicht zu unbedeutend oder zu klein sein. Wenn Jesus sich für solch einen Mörder interessiert und ihn in einem nur selig macht, dann möchte ich auch zupacken und das ergreifen.
Es ist das Wunder, dass Gottes Geist uns erleuchtet. Das ist immer der letzte Abschnitt bei unserem Konfirmandenunterricht, wenn wir versuchen, den Konfirmanden das zu erklären. Aber man kann es nicht erklären, dass Gottes Geist mich mit seinen Gaben erleuchtet.
Darum darf man beten: Herr, erleuchte mich, schließe mir dein Geheimnis auf, ich möchte doch den Glauben erfassen können, ich möchte verstehen können, dass es auch mir in den dunklen Stunden ganz hell leuchtet. Und wenn die Anfechtung kommt und ich oft gar nicht mehr glauben kann, dann möchte ich, dass das hell ist vor mir: Du bist bei mir.
In dieser wunderbaren Sprache, wie Jesus es sagt: Du bist bei mir. Was wollen Sie denn sonst noch an Trost haben im Sterben, in der Krankheit, in den Schmerzen, als das ganz fest zu wissen: Jesus ist bei mir, du bist bei mir?
Und wenn Sie verzagt sind in der Schwermut über Ihre Fehler und das, was Sie falsch gemacht haben, wissen Sie: Du bist bei mir! Bei einem solchen Versager bist du! Und wenn die Menschen mit Fingern auf sie zeigen und von ihnen abrücken und sagen: Aber du, Jesus, bist bei mir! Und du weißt nicht von mir!
Was wollen sie denn mehr haben, als dass sie das glauben und fassen können? Sie können gar nie weiterkommen im Glauben. Wenn Ihnen einer das einredet, es gäbe irgendeine höhere Stufe im Glauben – es gibt sie nicht. Das Paradies, da sind Sie ganz oben, ganz am Herzen Gottes: Du bist bei mir, heute im Paradies.
Die Bedeutung der Selbsterkenntnis und der Gnade
Wir müssen noch einen wichtigen Punkt ansprechen, den wir oft übersehen: Dieser eine Übeltäter sagt ganz freimütig zu seinem Kollegen: „Wir empfangen, was wir verdient haben.“
Das fällt uns manchmal schwer auszusprechen. Oft fragen wir uns: „Womit habe ich das verdient?“ Dabei wissen wir gar nicht, dass jeder Sonnenstrahl, den wir heute empfangen, ein unverdientes Wunder der Güte Gottes ist. Jede Minute unseres Lebens ist ein Geschenk, dass Gott uns noch leben lässt – obwohl unser Leben oft Leid für andere bedeutet, viele verletzt oder anderen Lebensraum nimmt.
Dass der ewige Gott uns trotzdem am Leben erhält und sich mit seiner Güte zu uns herabbeugt, zeigt, wie groß sein Erbarmen ist. Das haben wir alles nie verdient.
Wenn ich die Bibel richtig verstehe, war es immer so, dass Menschen im Glauben nie klar sahen, bis sie einmal diese Worte über die Lippen brachten. Es liegt tatsächlich daran, sich dem zu stellen und zu sagen: „Herr, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ Das muss man aussprechen.
Plötzlich öffnet sich der Blick des Glaubens. Man stellt sich seiner Schuld und gibt offen zu: „Ja, ich habe versagt, ich habe Unrecht getan.“
Mir ist bei dem anderen, der als Delinquent am Kreuz hängt, so verständlich, wie man bis zum Schluss Theater spielen kann. Vor den Menschen nur die Fassade bewahren, nichts anmerken lassen, immer den sicheren Mann spielen und so tun, als sei alles in Ordnung.
Wir tun uns ja auch so schwer, uns das vor Freunden und Bekannten einzugestehen – sogar vor den eigenen Kindern, dem Ehegatten oder denen, mit denen wir zusammenleben. Zu sagen: „In meinem Leben ist so viel verkehrt, ich mache so viel falsch, und ich brauche andere, die mich immer wieder zurechtrücken.“
Ist das eigentlich eine Schande? Oder ist es nicht vielmehr schön, offen zu sagen, dass wir davon leben, einen Heiland zu haben?
Ich bin immer mehr bedrückt darüber, dass viele Christen sich vorgenommen haben, als Zeugnis für die Welt voranzugehen, indem sie sagen: „Ich möchte vorleben, wie gut ich bin.“
Ich bezweifle, dass sie das können. Ich würde mich freuen, wenn sie es könnten. Aber ich glaube nicht, dass sie eine perfekte Ehe führen, ich glaube nicht, dass sie perfekte Eltern sind, ich glaube nicht einmal, dass sie korrekte Kollegen sind.
Ich glaube, dass sie täglich und in jeder Stunde fehlerhaft bleiben. Es wäre so gut, wenn wir das wieder als unser Christenbekenntnis hätten: Wir sind sündige, fehlbare Menschen und werden gerecht aus lauter Gnade – unverdient und gratis –, weil Jesus für uns starb.
Dieser Mann bringt ja keine Leistungen mit, hat nichts für Jesus vollbracht. Wir sind manchmal so stolz darauf, was wir in diesem Leben schon bewirkt haben. Aber es ist so wichtig, uns daran zu erinnern, dass wir nicht durch unsere Taten gerecht werden.
Wenn wir es versäumen, den Willen Gottes zu tun, trifft uns das am meisten. Es ist schade, wenn wir Gott nicht gehorsam sind, wenn wir die Tage und Gaben nicht nutzen, um etwas zu bewirken und Gott zu ehren.
Es ist doch schön, was wir tun dürfen. Sind wir nicht immer die Beschenkten, wenn wir etwas für Gott tun dürfen – in seiner Güte und Liebe?
Viele, viele sind durch dieses eine Tor hindurchgegangen. Es gibt kein anderes Tor zum Paradies, keinen anderen Eingang.
Was ich Ihnen hier sage, ist nicht meine eigene Theologie, sondern die Botschaft vom Hügel Golgota. Viele Menschen sind vor Ihnen hindurchgegangen, und sie alle haben sich gebeugt und sind allein durch das Blut Jesu gerettet worden – durch nichts anderes.
Auch heute gibt es keinen anderen Weg zum Herzen Gottes, keinen anderen Weg, wie Menschen gerettet werden. Auf der ganzen Welt gibt es keinen anderen Weg zu Gott.
Sie können sich in den Waschungen des Indus vertiefen und versuchen, ihr Herz immer wieder zu ändern und sagen: „Ich bemühe mich, ein guter Mensch zu sein.“
Aber sie werden nie zu Gott vordringen. Mit all ihrem Guten, das sie getan haben, bleiben sie Menschen, die vor Gott millionenfach schuldig sind und nur durch Gnade gerettet werden können.
Die Zusage Jesu und der Grund zur Freude
Jetzt möchte ich Ihnen zum Abschluss noch einmal eindrücklich vermitteln, wie Jesus es zusagt. Er stellt es nicht als Hoffnung oder Wunsch dar, sondern als eine feste Zusage: „Du wirst heute bei mir im Paradies sein.“ Jesus gibt ihnen eine vollkommene, uneingeschränkte Gewissheit.
Und sie dürfen das wissen, obwohl sie Menschen mit Fehlern sind. Er hat sie angenommen und für sie bezahlt. Ich weiß sonst nichts zu sagen, als dass ein Bürge gekommen ist, der meine Schuld getragen hat. Er nahm die Rechnung auf sich und beglich sie so vollständig, dass von der ganzen Summe nicht ein Pfennig fehlt.
Das hat er für mich getan. Und ich darf das wissen. Deshalb ist heute ein Freudentag, denn man kann fröhlich leben und sagen: Was soll denn jetzt noch sein? Ich will mich freuen und nicht mehr am Alten hängenbleiben. Das ist vergeben und vergessen.
Ich darf aufblicken auf Jesus und fröhlich meine Lebenszeit zu Ende bringen. Dann werde ich eingehen in die Freude meines Herrn. Amen.
