Willkommen hier! Zu Beginn möchte ich euch allen ein gesegnetes, gesundes und von Gott erfülltes neues Jahr wünschen. Möge er viel Gutes für euch bereithalten.
Heute möchte ich mit euch über das Vaterunser nachdenken und euch an einer ganz persönlichen geistlichen Erfahrung mit diesem Gebet teilhaben lassen. Wie Gerd bereits erwähnt hat, trage ich in Liebenzell die Verantwortung für eine Hochschule. Wir haben über 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – darunter Professoren, Dozenten und akademisches Personal – sowie Verwaltungspersonal. Außerdem studieren bei uns 220 Studierende in verschiedenen Studiengängen.
Ich bin dafür verantwortlich, dass alles reibungslos läuft, dass die Abläufe funktionieren, Standards eingehalten werden und jeder seine Aufgaben erfüllt, ohne davon abzuweichen. In der Regel klappt das auch ganz gut. Nur ganz selten gibt es Situationen, in denen es nicht so gut funktioniert.
Von einer solchen Situation möchte ich euch erzählen. Ich war selbst unter Druck und im Stress, ebenso wie meine Kolleginnen und Kollegen. So sind wir in eine Meinungsverschiedenheit geraten. Auf Deutsch gesagt: Wir hatten Zoff, Stress, Ärger und Krach miteinander. Ja, das kommt selten vor, aber manchmal eben doch.
Es war ein Freitagmorgen. An diesem Tag hatte ich keine Vorlesung und wollte zuhause Vorlesungen vorbereiten oder einen Aufsatz schreiben. Doch ich bekam nichts zustande. Es war eine richtige Blockade. Ich saß am Schreibtisch, öffnete die Datei, öffnete sie wieder – und es ging einfach nichts.
Meine Frau kam an meinem Home Office vorbei und sagte zu mir: „Vergiss es, in deiner Stimmung kriegst du eh nichts hin. Mach einen Spaziergang.“ Weil sie mich erstens gut kennt und zweitens fast immer recht hat, habe ich das dann auch gemacht.
So bin ich eine persönliche Runde über die Felder gelaufen, etwa drei Kilometer. Es war Freitagmorgen, gutes Wetter, und ich habe unterwegs meinen Hals geleert, den Frust und Ärger ein wenig herausgelassen. Ich habe mit Gott geredet, genauer gesagt, ich habe vor ihm geklagt, war frustriert.
Auf der Route kommt man irgendwann an einem Kruzifix vorbei. Vielleicht wisst ihr nicht genau, was ein Kruzifix ist: Das ist ein Feldkreuz, das katholische Christen dort aufstellen. Es ist eine uralte Tradition. Das Kruzifix hat ein Dach, und daran hängt der Gekreuzigte.
Immer wenn ich an diesem Kruzifix vorbeikomme, habe ich mir zur persönlichen Regel gemacht, dort stehen zu bleiben und ein Vaterunser zu beten. Das war für mich immer eine ganz besondere Sache und ist es bis heute. Es ist eine uralte christliche Tradition.
Also habe ich auch an diesem Tag dort angehalten und mitten in meinem Ärger, meiner Wut und meinem Frust das Vaterunser gebetet. Ehrlich gesagt, habe ich es eher heruntergeleiert.
Während ich so vor dem Kruzifix stand, vor dem Gekreuzigten, und das Vaterunser betete, fragte ich mich: Was bringt mir dieses Gebet jetzt in dieser Situation, in der ich hier stehe und leide?
Ich hatte den Eindruck, dieses Vaterunser sei für eine ganz andere Situation gedacht, aber nicht für meine. Es schien mir so überflüssig wie nichts anderes. Hätte Jesus sich nicht etwas anderes einfallen lassen können, das mir jetzt in meiner Situation, die von Frust und Ärger geprägt ist, mehr hilft als dieses Gebet?
Ich stand da und betete das Vaterunser noch einmal, dann noch einmal. In dieser Situation begann für mich eine geistliche Entdeckungsreise mit diesem Gebet – und von dieser möchte ich euch heute ein wenig erzählen.
Das Vaterunser als Rollenklärung und Gemeinschaftserfahrung
Drei Punkte
Das Vaterunser macht uns zu Kindern und lenkt unsere Sinne auf den Vater. Es beginnt mit zwei Worten: Vaterunser oder Unservater, egal wie man es nennt. Plötzlich merke ich, dass ich vor diesem Kreuz, vor diesem Kruzifix, als ein Kind stehe. Ich stehe hier nicht als Chef, nicht als Rektor, nicht als Professor und auch nicht als Pfarrer. Ich stehe als Kind da, weil Jesus mich gelehrt hat zu beten: unser Vater. Ich spreche ihn als Vater an, also bin ich Kind.
Das Vaterunser beginnt mit einer Rollenklärung. Ich stehe jetzt nicht vor Kollegen, nicht vor Studenten, nicht vor meiner Frau oder meinen Kindern, sondern vor Gott, meinem Vater. Und ich bin damit automatisch Kind. Dieser Rollenwechsel macht uns erstens demütig und zweitens hilflos. Das Vaterunser macht uns mit den ersten zwei Worten erstens demütig, zweitens hilflos.
Ole Hallesby war ein großer norwegischer Erweckungsprediger und Theologe. Er hat ein kleines Buch über das Beten geschrieben, und eine der Überschriften darin lautet: Nur der Hilflose kann beten. Nur der Hilflose kann beten. Das ist die Rolle eines Kindes, das keine eigenen Möglichkeiten hat, um seine Bedürfnisse zu stillen. Ein Kind ist angewiesen auf seinen Vater, auf seine Mutter, dass sie für es sorgen. Und genau diese Rolle weist uns das Vaterunser ganz am Anfang mit zwei Worten zu: unser Vater. Ich stehe da als Kind.
Ein Kind muss in seiner Hilflosigkeit bitten, und das ist die Rolle, die uns das Vaterunser mit diesen schlichten Worten zuweist. Dann beten wir: unser Vater. Interessanterweise bete ich nicht „mein Vater“, auch wenn wir das oft meinen – mein Vater ganz persönlich, individuell. Das Vaterunser kann ich nur als ein Kind beten, das diesen Vater zusammen mit ganz vielen anderen Kindern anbetet. Diese Kinder sind möglicherweise dieselben Menschen, über die ich mich gerade vor diesem Kruzifix ärgere. Ich stehe in Solidarität mit vielen anderen, mit denen ich vielleicht gerade Stress habe.
Das Vaterunser ist kein Privatgebet. Ich kann es nur in einer unsichtbaren Gemeinschaft mit allen Schwestern und Brüdern dieser Welt beten. Das relativiert noch einmal, was mir gerade so wichtig ist. Wenn ich dieses Gebet bete, dann kann es nicht nur um meine eigenen Anliegen gehen. Es muss immer auch darum gehen, was uns allen in dieser riesigen Solidarität der Schwestern und Brüder wichtig ist. Ich kann dieses Vaterunser immer nur mit den Schwestern und Brüdern beten und nicht gegen sie.
Zum Dritten: Wir reden unseren gemeinsamen Vater als den an, der im Himmel ist. Das heißt, als einen, der nicht einfach ein Teil dieser Welt ist, der nicht den Bedingungen, den Nöten und den Grenzen dieser Welt unterworfen ist. Nun ist der Himmel auch nicht irgendwo hinter der Milchstraße, hinter Alpha Centauri oder so etwas. Der Himmel ist eine Dimension, die mir näher ist als mein Hemd. Der Himmel ist mitten unter uns, aber er ist eine andere Dimension, die ich nicht sehen kann.
Gott ist im Himmel und gleichzeitig unendlich nah bei mir, nicht in fernen Galaxien, sondern mir näher als mein Hemd. Aber Gott, der in dieser ganz anderen Wirklichkeit zu Hause ist und der alle Macht im Himmel und auf Erden hat, den bitte ich, dass er jetzt in meine Wirklichkeit, in der ich hier vor diesem Kruzifix stehe, mit meinen Sorgen, mit meinem Ärger, mit meinem Frust, hineingreift. Dass er aus seiner ganz anderen Welt, mit den ganz anderen Möglichkeiten, in meine Wirklichkeit eingreift.
Die ersten Bitten: Gottes Handeln im Mittelpunkt
Und dann beginnt das Vaterunser und geht weiter mit drei Bitten, in denen es zunächst überhaupt nicht um mich geht. Das war ja das, was mich am Anfang gestört hat. Ich stehe da, ärgerlich, frustriert, ein bisschen wütend und merke, dass es gar nicht um mich geht.
Beim zweiten Mal merke ich: Oh, es geht nicht um mich. Das hat vielleicht einen tiefen Sinn: Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Das sind drei Bitten, für deren Erfüllung ich so gut wie nichts tun oder beitragen kann. In ihnen geht es aber um die zentralen Dinge dieser Welt und ihrer Zukunft. Wir bitten Gott, dass er selbst das tut. Dass Gott selbst für die Heiligung seines Namens eintritt.
Dabei geht es darum, dass Gott für die Anerkennung und die Anbetung seines Namens sorgt. Gott soll selbst dafür sorgen, dass möglichst alle Menschen zur Anerkennung und Anbetung seines Namens kommen. Das meint „Dein Name werde geheiligt“. Wir beten dafür, dass Gott dafür sorgt, dass Menschen die Mitte ihres Lebens im Lob Gottes finden. Und wir können das nicht tun, aber wir bitten Gott darum, dass er es tut.
Außerdem soll er sein künftiges Reich kommen lassen, damit die Not und das Elend dieser Welt, damit Leid, Tränen und Not ein Ende nehmen. Auch dafür kann ich so gut wie nichts tun, nur relativ wenig. Ich kann nur darum bitten. Aber dass dieses Reich kommt und dass Gott es kommen lässt, dass sich Gottes Wille erfüllt und geschieht, das ist wichtiger als alles andere, was mich in meinem Leben je betreffen könnte. Es ist in jedem Fall wichtiger als der Frust und der Ärger, mit dem ich an diesem Morgen vor diesem Kruzifix stand und den ihr vielleicht heute in euch tragt – oder die Sorgen, die ihr in euch tragt.
Mit den ersten Zeilen des Vaterunsers rückt uns Gott unseren Blick zurecht. Er lenkt ihn weg von unseren Nöten und hin auf das, was ihm wirklich wichtig ist. Der Grund ist: Wenn Gott zu seinem Ziel kommt, dann komme ich auch zu meinem Ziel. Wenn Gott zu seinem Ziel kommt, komme ich auch zu meinem Ziel.
Wenn Gottes Name nicht geheiligt würde, wenn Menschen nicht zur Anerkennung und Anbetung seines Namens kämen, wenn sein Reich nicht kommen würde, wenn sein Wille nicht geschehen würde, dann wäre auch all das, was mich gerade umtreibt, restlos vergeblich. Dann wäre völlig egal, was ich tue und was mir wichtig ist.
Indem mich das Vaterunser zuerst zum hilflosen und bittenden Kind macht und mich in eine Gemeinschaft von Kindern einreiht, die mit mir und neben mir dieses Gebet sprechen, wird vieles klein und nichtig, was mir im Moment so groß und wichtig erscheint. Das tut das Vaterunser zuallererst am Anfang mit uns.
Und ihr merkt: Wenn wir das Vaterunser beten, findet im ersten Satz diese Rollenklärung statt. Es wird erklärt, wer der ist, mit dem wir reden, wer wir sind, die wir hier beten, und in welchem Verhältnis wir zueinander stehen. Auch das Verhältnis, in dem wir als Schwestern und Brüder zueinander stehen, wird deutlich.
Dieses Gebet macht uns mit vier Worten bescheiden und demütig: Unser Vater im Himmel. Mit diesen vier Worten macht es uns bescheiden und demütig. Und mit den ersten drei Bitten, in denen es nur ums Handeln Gottes geht, wird auch all dem, was uns umtreibt, ein bescheidener Platz zugewiesen.
Nun ist eines ganz wichtig: Das geschieht nicht, weil wir Gott nicht wichtig wären. Es geschieht nicht, weil ihm unsere Anliegen, unsere Stimmungen, unsere Nöte, Sorgen, unser Ärger und unsere Frust egal wären. Sondern es geschieht dazu, dass wir in ein gesundes Verhältnis zum Vater im Himmel, zu unseren Schwestern und Brüdern und zu uns selbst kommen.
Die Bedeutung von Gemeinschaft und Demut in einer individualistischen Zeit
Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen nach dem pubertären Motto leben: Ich, alles und sofort. Es ist eine Zeit des Individualismus, in der es nur noch kleine Sonnenkönige gibt, um die sich die ganze Welt drehen soll. Oft fühlen wir uns und benehmen uns wie solche kleinen Sonnenkönige, für die sich alles drehen muss und die ihre Bedürfnisse und Wünsche möglichst schnell erfüllt bekommen wollen.
Jesus lehrt uns hier ein Gebet, in dem wir zu Kindern werden – zu Kindern neben anderen Kindern, die plötzlich unsere Geschwister sind. Es ist ein Gebet, das bis zur Hälfte nicht um uns persönlich geht, sondern um Gott, um seine Zukunft, sein Reich und seinen Willen.
Das ist eine Klärung. Vielleicht spürt man, was dieses Gebet an diesem Morgen mit mir gemacht hat. Anfangs konnte ich mit diesem Vaterunser überhaupt nichts anfangen, weil mich meine Emotionen und Gefühle so blockiert haben. Doch nach dreimaligem Beten dieses Gebets wurde mir klar: Das ist die Botschaft dieses Vaterunsers. Es geht nicht um dich. Es geht zuerst gar nicht um dich, sondern um Gott. Und wenn es um Gott geht, werden irgendwann auch deine Probleme klarer, gelöster und lösbarer.
Die zweite Hälfte des Vaterunsers: Wer wir sind und was wirklich zählt
Das Vaterunser zeigt uns, wer wir sind und was wirklich wichtig ist. Nach den ersten drei Bitten, in denen es um Gottes Namen, Gottes Reich und Gottes Willen geht, folgt eine ganz andere Dimension: Es geht nun um mich – aber in einer anderen Weise.
Drei Bitten richten sich nicht auf das „Ich“, sondern auf das „Wir“. Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Wir beten nicht für mein täglich Brot, für meine Schuld oder für meine Versuchung. Stattdessen bitten wir um unser täglich Brot, um unsere Schuld, und wir sagen: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Auch hier stehen wir nicht als Einzelne vor Gott, sondern als Gemeinde. Wir müssen lernen, dass Gott uns niemals als Einzelkinder oder Einzelkämpfer sieht, sondern als Geschwister einer großen Kinderschar und als Glieder einer weltweiten Gemeinde.
Ein weiteres Auffälliges ist, wofür wir im Vaterunser nicht bitten. Wir beten nicht für Reichtum, Ehre, Karriere, Einfluss, Macht oder Geld. Für all das beten wir merkwürdigerweise nicht. Wir bitten nicht um Erfolg, nicht einmal um Lebensglück, nicht einmal um eine glückliche Ehe und Familie. Auch um Gesundheit beten wir nicht direkt. Es ist hochspannend zu sehen, was alles in diesem Gebet nicht die erste Rolle spielt.
Das soll nicht heißen, dass man nicht dafür beten dürfte. Aber es ist hochinteressant, dass diese Themen im Vaterunser nicht im Vordergrund stehen. Wir beten nur um drei Dinge. In diesen drei Bitten zeigt sich, was wirklich wichtig ist im Leben: um das tägliche Brot, um die Vergebung unserer Schuld – und wir sprechen die Vergebung unserer Schuld anderen zu – und wir beten darum, dass wir nicht in Versuchung geführt, sondern von dem Bösen erlöst werden. Hier ist mit „dem Bösen“ der Satan, der Teufel gemeint.
In der Bitte um das tägliche Brot wird deutlich, was wir elementar zum Leben brauchen. Das steht in einem unübersehbaren Kontrast zu dem, was wir meinen, was wir für unser Leben alles bräuchten. Gott schenkt uns sehr viel, keine Frage. Er schenkt uns tolle Kleidung, Smartphones, Kino und Pizza. All das schenkt Gott auch, und dafür dürfen wir gerne beten. Aber in dieser Brotbitte wird klar, was wirklich wichtig ist und was nur Zugabe ist.
Ohne Brot würden wir innerhalb von dreißig Tagen verhungern, ohne Wasser wären wir in drei Tagen tot. Zum Leben brauchen wir weder Smartphones noch Kino, aber ohne Brot und Wasser geht es nicht. Wenn wir diese Bitte wieder im Plural aussprechen – „unser täglich Brot“ – dann stehen wir mit dieser Bitte in einer weltweiten Solidargemeinschaft. Wir beten, dass wir alle das bekommen, nicht nur ich, sondern dass wir alle als weltweite Kinder Gottes das bekommen.
Hier spüren wir, dass diese Bitte auch eine Verpflichtung mit sich bringt. Ich kann nicht gedankenlos um mein tägliches Brot bitten, sondern wenn ich um „unser täglich Brot“ bitte, muss ich automatisch an die Schwestern und Brüder denken, für die das eine sehr existenzielle Frage ist. Für uns ist die Essensfrage meist eine Entscheidungsfrage: Burger oder Döner oder irgendetwas anderes. Für viele Menschen ist das eine existenzielle Frage. Im Südsudan zum Beispiel ist es für manchen Familienvater alles andere als klar, ob er morgen noch Essen für seine Kinder besorgen kann.
Die Bitte um das tägliche Brot zeigt uns, dass wir bedürftige Geschöpfe sind – mit unserer menschlichen Natur unglaublich bedürftige und zerbrechliche Geschöpfe. Sie zeigt uns auch, dass Gott gütig ist. Gleichzeitig relativiert sie das, was uns oft so wichtig erscheint. Wir können auch ohne den tollsten Urlaub leben, ohne das beste Smartphone, ohne die teuersten Klamotten. Aber wir brauchen das Brot und das Wasser zum Leben.
Dann folgt die Bitte um Vergebung. Gott macht uns klar, was das Hauptproblem unseres Lebens ist: die Schuld, die mich von Gott und meinem Nächsten trennt. Er zeigt uns auch, dass die Schuld irreparabel ist. Ich kann sie nicht einfach reparieren oder von mir aus wieder gutmachen. Eine einmal begangene Sünde kann ich nicht selbst wieder aus der Welt schaffen. Da bin ich hilflos – abgrundtief hilflos. Die Schuld steht zwischen mir und Gott, zwischen mir und meinen Mitmenschen.
Die einzige Möglichkeit, mit dieser Schuld klarzukommen, ist Vergebung. Anders geht es nicht. Wir brauchen Gottes Vergebung – so sehr wie die Luft zum Atmen. Und wir brauchen Vergebung und Versöhnung untereinander.
Wenn wir einmal sterben – und jeder von uns muss sterben – dann kommt es auf drei Dinge an: Erstens die Versöhnung mit Gott, zweitens die Versöhnung mit unseren Mitmenschen und drittens die Versöhnung mit uns selbst. Auf diese drei Dinge kommt es an, wenn wir sterben müssen. Genau darum geht es in dieser Bitte.
Wir bitten um Vergebung. Im ersten Johannesbrief heißt es: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1. Johannes 1,9). Gott will vergeben, er sehnt sich danach, uns zu vergeben, aber er zwingt uns seine Vergebung nicht auf. Gott will gebeten werden, und das tun wir im Vaterunser.
Mit dieser Bitte um Vergebung ist eine Selbstverpflichtung verknüpft: die Verpflichtung zur Vergebung gegenüber anderen. Das ist eine heikle Sache. Es kann sein, dass wir viel Zeit brauchen, um anderen zu vergeben, wenn sie uns tief verletzt haben. Gott zwingt uns nicht, das im Eilverfahren zu tun. Er lässt uns Zeit.
Doch in dieser Bitte steckt eine tiefe Wahrheit unseres Lebens: Wenn wir nicht vergeben, schadet das nicht dem anderen, der uns schuldig geworden ist, sondern am Ende uns selbst. Nicht zu vergeben ist wie Rattengift zu trinken und zu hoffen, dass die Ratte stirbt. Die Leidtragenden sind immer wir selbst, niemals der Schuldige.
Deshalb ist Vergebung das beste Mittel, um selbst gesund und geistlich lebendig zu bleiben – um heil zu werden. Wir gehen an unvergebener Schuld selbst zugrunde. Deshalb ist Vergebung ein Heilmittel für uns selbst.
Das gilt ganz besonders auch für die unvergebene Schuld gegenüber uns selbst. Wir machen uns ja am häufigsten selbst fertig für das, was wir getan haben, weil wir uns nicht vergeben können. Wir brauchen Versöhnung mit Gott, wir brauchen Versöhnung mit anderen und wir brauchen Versöhnung mit uns selbst.
„Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – das heißt auch: Vergib dir selbst, wenn du dich selbst anklagst. Versöhne dich mit dir selbst.
Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie ich nach dem dreimaligen Beten des Vaterunsers vor diesem Kruzifix stand an diesem Morgen. Ich hatte einen dicken Hals, war sauer auf andere, und dann musste ich dreimal diese Zeilen beten. Dabei wurde mir klar, wie sehr ich auf meinen Ärger und Frust fixiert war. Ich hatte keinen Blick mehr für die Schuld-Dimension meines Lebens und meiner Beziehungen.
Plötzlich stand die Frage im Raum: Wo bin ich vielleicht an meinen Mitarbeitern und Kollegen schuldig geworden? Wo habe ich sie vielleicht verletzt? Wo bin ich vielleicht vor allem über mich selbst verärgert und projiziere diesen Ärger auf andere? Wie viel von meinen Anklagen ist eigentlich Selbstanklage?
Wenn wir das Vaterunser beten, ist es eigentlich eine große Aufarbeitung und Klärung unserer Beziehungen: unserer Beziehung zu Gott, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst.
Versuchung und Erlösung: Die tiefere Dimension des Bösen
Schließlich geht es noch um Versuchung und Erlösung. Ich stand wieder mit meinem Ärger und meiner Frustration da, betete und sprach: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Das Böse war in dieser Konfliktsituation für mich völlig klar: Das Böse ist woanders, ich bin es nicht. Die Lösung erschien mir ebenfalls klar: Gott, hau drauf und erlöse mich von dem ganzen Mist.
Doch dann wurde mir sehr schnell bewusst, dass es hier um eine viel tiefere Dimension geht. Wenn wir vom Bösen sprechen, dann meinen wir nicht das Böse als abstrakte Größe, sondern den Bösen – den Satan, den Teufel. Die größte Gefahr unseres Lebens, meines Lebens, ist nicht, dass an unserer Hochschule etwas schiefläuft oder nicht funktioniert. Die größte Gefahr ist, dass ich mich vom Bösen verführen lasse, etwas Falsches zu tun, an etwas Falschem zu hängen, falsche Werte und Ziele zu setzen.
Die größte Gefahr ist, dass ich etwas verfolge, das ich unbedingt haben will, obwohl es nicht Gottes Wille ist. Vielleicht hat Gott ein ganz anderes Ziel mit meinem Leben und mit dieser Hochschule.
An diesem Morgen stand ich in der Versuchung, meine eigenen Ziele und Wünsche höher und wichtiger zu nehmen als Gottes Pläne. Mit der Bitte um Versuchung und Erlösung zwingt uns Gott, zu fragen, was uns im Leben wirklich am wichtigsten ist.
Dieses Thema war an diesem konkreten Tag mein Hauptanliegen. Immer wieder stellt uns diese Bitte vor die Frage, ob es in unserem Leben noch andere Größen, andere Götter und Götzen neben Gott gibt, die uns wichtig sind und uns in Versuchung führen, anderen Zielen eine größere Priorität als Gott zu geben.
Diese Bitte stellt uns auf einen Prüfstand, damit wir uns nicht verirren im Leben. Mit der Bitte um das tägliche Brot, um Vergebung und um Erlösung vom Bösen will Gott uns klarmachen, was wirklich wichtig ist.
Wir sind zerbrechliche Menschen und brauchen das tägliche Brot, sonst ist unser Leben in Gefahr. Wir brauchen Vergebung, sonst sind unsere Beziehungen zu Gott, zu Mitmenschen und zu uns selbst gefährdet. Und wir brauchen Erlösung vom Bösen, sonst ist unsere Ewigkeit in Gefahr.
Auch mit diesen Bitten zeigt uns Gott, was groß und wichtig ist und was klein und nichtig. Ich stand vor diesem Kruzifix, vor diesem Feldkreuz, und plötzlich wurde mir klar: Das, was mich verärgert und frustriert hat, war wirklich klein und nichtig.
Komischerweise hat mich dieses Gespräch mit Gott im Vaterunser wieder in die Lage versetzt, eine neue Perspektive auf diese schwierige Situation zu gewinnen. Die Werte wurden neu justiert, und es wurde klar, was mir wirklich wichtig war und was für Gott eigentlich ganz unwichtig ist.
Vertrauen auf Gottes Kraft und das Loslassen eigener Kontrolle
Ein drittes und letztes Mal stellt mir das Vaterunser den vor Augen, der das kann, was ich nicht kann.
An diesem Morgen habe ich ständig darüber nachgedacht, was ich tun kann, was ich anders oder besser machen sollte, wie ich reagieren sollte – ob ich wütend und verärgert sein, draufhauen oder geschmeidig und sanft sein sollte, ob ich ganz anders handeln sollte.
Dann macht mir Gott klar: „Du hör mal her, am Ende dieses Vaterunsers betest du: ‚Denn dein ist die Kraft und das Reich und die Herrlichkeit.‘“ Damit zeigt er mir, dass er Möglichkeiten hat, die ich nicht habe. Er kann besser handeln, als ich es je könnte. Ich war in der Versuchung, die Dinge selbst lösen zu wollen, obwohl nur er sie lösen kann und auch lösen will.
Das war mir wirklich peinlich. Ich stand wahrscheinlich eine Viertelstunde vor diesem Kruzifix. Dass mich jemand gesehen hat, war mir in dem Moment egal. Ich habe eine besondere Geschichte mit Jesus, mit diesem Kruzifix und dem dreimaligen Beten des Vaterunsers erlebt.
Gott macht mich ohnmächtig, damit ich seine Macht und Größe erkennen kann. Damit ich sehe, was wirklich wichtig ist und wem ich eigentlich vertrauen sollte.
Diese Konferenz heißt „Gott machen lassen“. Am Ende des Vaterunsers geht es ums Loslassen, denn „dein ist die Kraft und das Reich und die Herrlichkeit“. Es geht darum, unsere Wünsche, unsere Möglichkeiten und unsere Ziele loszulassen.
Es geht darum, wieder in Gottes Nähe zu kommen, an seine Seite zu treten, uns seine Perspektive und seinen Blick für die Dinge in unserem Leben und in dieser Welt geben zu lassen. So können wir uns wirklich mit seinen Zielen vereinen.
Dieser Morgen, dieser Spaziergang und das Stehen vor diesem Kreuz haben mir ein anderes Verhältnis zu diesem Gebet geschenkt. Daran wollte ich euch Anteil geben. Vielen Dank fürs Zuhören.
Abschlussgebet und Segenswunsch
Ich möchte ein Gebet sprechen.
Du guter Herr, danke für dieses Gebet.
Danke, dass du uns mit diesem Gebet wieder in deine Nähe bringst.
Danke, dass du uns durch dieses Gebet einen Blick für das gibst, was dir groß und wichtig ist.
Und danke, dass du uns einen Blick darauf schenkst, was für unser Leben entscheidend ist.
Jetzt wollen wir das gemeinsam tun: vor Gott dieses Gebet sprechen.
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme,
dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Gott segne euch.
