Wer wir sind

Konrad Eißler
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Wer bin ich eigentlich, wenn ich nichts mehr bin? Diese Frage nach unserem Ich wird nicht erst heute gestellt. Im 1. Jahrhundert schon griff Petrus in einem Brief diese Identitätsfrage auf und gab drei Denkanstöße. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Johann Friedrich Flattich, in Beihingen geboren und in Münchingen gestorben, war ein handgeschnitztes Original aus Gottes Theologenwerkstatt. Als Schüler von Johann Albrecht Bengel wurde er zu einem weit bekannten und gern gehörten Prediger in schwäbischen Landen. Weltoffen sei er gewesen, zugleich bibeltreu und schlagfertig, schrieben seine Zeitgenossen. Dieser Ruf drang bis zu den Ohren des Herzogs von Württemberg, der drüben im Alten Schloss residierte und auch oberster Dienstherr der Kirche war. Der bestellte den Flattich zu sich und merkte bei der ersten Begegnung, dass dieser kleine Dorfpfarrer einen großen Weit- und Durchblick hatte. So machte er ihn zum heimlichen Ratgeber, zum Geheimrat im wahrsten Sinne des Wortes, der oft den Weg von seiner Pfarre in die herzogliche Residenz unter die Füße nahm. Aber nicht nur als Berater war er dort geschätzt, sondern auch als Gesellschafter. Deshalb wurde er an die fürstliche Tafel geladen, wo Scherz mit Herz oder Sachen zum Lachen gefragt waren. Und bei solch einer hochnob­len Einladung kam Flattich neben einen berühmten General zu sitzen. Der, in wein- und leutseliger Stimmung, so zwischen Burgunder und Hors d’oeuvre, dröhnte zu seinem Sitznachbarn: “Sagen Sie mal, Herr Pfarrer, was wissen Sie eigentlich Genaues über die Ewigkeit?” Für einen Augenblick trat spöttisch-peinliche Stille ein, dann antwortete Pfarrer Flattich: “Herr General, etwas Genaues weiß ich schon: dass Sie dort nicht mehr General sein werden, und was wird dann noch an Ihnen sein?” Der Offizier zuckte zusammen. Seine Hände streiften den Generalsrock. Er hatte verstanden. Dass ich dort nicht mehr uniformiert sein werde, so mit dunkelblauem Tuch und goldenen Knöpfen, was wird dann noch an mir sein? Dass ich dort nicht mehr dekoriert sein werde, so mit Sternen auf der Achselklappe und Abzeichen auf der Brust, was wird dann noch an mir sein? Dass ich dort nicht mehr hofiert sein werde, so mit Hofknicks und Bücklingen, was wird dann noch an mir sein? Auch andere herrschaftliche Festgäste hatten verstanden. Der Herr Medizinalrat: dass ich dort keinen weißen Arztmantel mehr habe, was wird dann noch an mir sein? Der Herr Gerichtspräsident: dass ich dort keine rote Robe mehr habe, was wird dann noch an mir sein? Der Herr Konsistorialrat: dass ich dort keinen schwarzen Talar mehr habe, was wird dann noch an mir sein? Haben wir anständige und so gut bürgerliche Gottesdienstbesucher es verstanden: dass wir dort keinen Ehrentitel, keinen Amtskittel, kein Pöstchen, rein gar nichts mehr haben, das mich wenigstens ein paar Zentimeter über die andern erhebt, ohne Schutz und Putz, was wird dann noch an mir sein? Wer bin ich eigentlich, wenn ich nichts mehr habe? Wer bin ich eigentlich, wenn ich nichts mehr besitze? Wer bin ich eigentlich, wenn ich nichts mehr bin?

Liebe Gemeinde, diese Frage nach unserem Ich wird nicht erst heute gestellt. Die Identitäts­krise ist schon 2000 Jahre alt. Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrech­nung waren die ersten Christen verunsichert und suchten nach einer Antwort. Petrus rief seinen Sekretär Silvanus und diktierte ihm ein Zirkularschreiben. Mit dem Poststempel Rom ging er an die Klein- und Kleinstgemeinden im Gebiet der heutigen Türkei. Darin griff er diese Identitätsfrage auf und gab drei Denkanstöße:

1. Denkt daran, wer ihr wart

Petrus sagt: Gefangene wart ihr. Dabei denkt er nicht zuerst an einen Josef, der in einem ägyptischen Gefängnis hockte, nicht an einen Jeremia, der in einem Kasernenhof unter strengster Bewachung stand, nicht an einen Johannes der Täufer, der in der Festung Machaerus schmachtete, nicht an einen Johannes der Seher, der auf der Sporadeninsel Pathmos deportiert war, nicht an die Waldenser, nicht an die Hugenotten, nicht an die unzählig Inhaftierten, die um ihres Glaubens willen bis heute hinter Schloss und Riegel sitzen. Petrus denkt nicht zuerst an diese Gefangenen in Ketten, sondern an die Gefangenen in Zivil. Tat­sächlich gibt es Gefangene auch außerhalb des Gefängnisses. Ja, die größte Zahl der Gefangenen lebt gar nicht in, sondern außerhalb der Gefängnismauern. Manche Verhältnisse sind wie Fesseln, die einen binden. Zwangsläufigkeiten führten zur Unfreiheit. Ich denke an eine Ehe. Es hatte so strahlend angefangen. Die Türen zum Glück standen sperrangelweit offen. Dann verstand man sich nicht mehr und begann den andern zu hassen. Die gemeinsame Wohnung ist wie ein Arrest. Gefangene in der Ehe. Ich denke an den Beruf. Damals hat man alles munter angepackt. Die Arbeit machte richtig Spaß. Dann wechselte der Chef und die ganze Atmosphäre war mit einem Schlag vergiftet. Das Großraumbüro ist wie ein Gefängnis. Gefangene im Beruf. Ich denke an eine Krankheit. Zuerst wurde sie gar nicht ernstgenommen. Ein Wehwehchen hat jeder. Dann streute das Karzinom und warf aufs Leidenslager. Das Krankenhaus ist wie ein Zuchthaus. Gefangene in der Krankheit. Ich denke an den Tod. Auch wenn man diese Kette nicht sieht, so wie man die Handschellen kaum sieht, mit der ein Vollzugsbeamter drüben in der Ulrichstraße den Gefangenen zur Verhandlung führt, so sind wir beileibe keine Freien. Einer fesselt uns. Einer führt uns. Einer lässt uns nicht mehr los. Der Tod bringt uns alle auf den Friedhof. Gefangene des Todes. Und dabei haben wir die schmerzlichste Gefangenschaft noch gar nicht erwähnt. Pfarrer Traugott Hahn aus Riga wurde nach Ausbruch der russischen Revolution im Jahre 1917 verhaftet. Die Aufständler machten kurzen Prozeß mit ihm und brachten ihn um. Kurz vor seinem Märtyrertod schrieb er an seine Frau: “Ich bin zwar unschuldig im Gefängnis, aber nur vor Menschen unschuldig. Vor Gott habe ich mein Gefängnis tausendmal verdient.” Gefangene der Schuld. Oder haben wir uns nichts zuschulden kommen lassen? Haben wir keinen Dreck am Stecken? Haben wir eine blütenweiße Weste? Gefangene der Schuld, das ist das Schlimmste.

Jesus sagt: “Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht”, Sklave, Gefangener. Paulus schreibt: “Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich.” Und Petrus schreibt: “Das ist der nichtige Wandel nach der Väter Weise.” Denkt daran, wer ihr wart. Gefangene, Gefangene in Zivil.

2. Denkt daran, wer ihr seid

Petrus sagt: Befreite seid ihr. Dabei denkt er wiederum nicht zuerst an einen Mose, der mitsamt seinem Volk aus der ägyptischen Sklavenherrschaft herausgeführt wurde, nicht an eine Maria Magdalena, die von einer 7-fachen Kette, das heißt von 7 Teufeln erlöst wurde, nicht an einen Paulus, der aus dem Hochsicherheitstrakt eines Staatsgefängnisses geholt wurde, nicht an die unzähligen Befreiungen, die wie ein roter Faden durch die ganze Kirchengeschichte läuft. Petrus denkt nicht zuerst an diese Befreiung von Ketten, sondern an die Befreiung von Schuld. Nun ist es bei uns so, dass man entweder wegen Verbüßen der Strafe aus der Haft entlassen wird, bei lebenslänglich nach 25 Jahren. Oder man wird wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, bei Erlass der Reststrafe. Oder man wird wegen einer Generalamnestie auf freien Fuß gesetzt. Aber alle drei Möglichkeiten sind bei einer Schuldgefangenschaft ausgeschlos­sen. Keiner kommt wegen langer Verbüßung oder guter Führung oder einer Amnestie frei, sondern einzig und allein wegen Freikauf. In diesen Tagen läuft in Stuttgarter Kinos ein Film an. “Schindlers Liste” heißt der Titel und setzt dem sudetendeutschen Schweyk, Spieler und Menschenfreund Oskar Schindler ein spätes Denkmal. In seiner kleinen Emaillefabrik bei Krakau beschäftigte er während des Naziregime Zwangsarbeiter und hielt seine schützende Hand über sie. Dann gelang ihm eine atemberaubende Aktion. Durch Bezahl­ung von Gold und Brillanten an die Gestapo öffneten sich für 300 jüdische Frauen die Gittertore von Auschwitz. Sie meinten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, als sie bei finsterer Nacht in Viehwagen verladen und abtransportiert wurden. Als sie aber ausstiegen, entdeckten sie ihren Befreier. Oskar Schindler hatte für sie bezahlt. Vor Freude weinend lagen sie sich in den Armen. Ein Bild gewiss, ein schwaches Bild sogar für die Aussage des Petrus, aber vielleicht ein kleines Bild für die große Befreiungs­tat Jesu. Er sagte nicht: Du musst eben deine Strafe für dein ver­korkstes Leben abhocken. Oder du kannst wegen deiner guten Führung auf vorzeitige Entlassung hoffen. Oder du darfst immer mit einer göttlichen Generalamnestie rechnen. Jesus gelingt eine atemberaub­ende Aktion. Durch Bezahlung, nicht Gold oder Silber oder Brillant­en, nicht mit irgendeiner gängigen Währung, sondern allein mit seinem teuren Blut, das heißt mit seinem eigenen Leben öffnen sich nicht nur für 300 jüdische Frauen, sondern für alle glaubenden Menschen die Gittertore des Schuldgefängnisses. Selbst wenn unser letztes Stündlein schlägt und wir weggetragen werden, entdecken wir erst richtig unseren Befreier. Jesus Christus hat für uns bezahlt. Wissen wir noch etwas von jenen Tränen, die nach überstand­ener Qual vergossen werden? Wissen wir noch etwas von jener Freude, die nach geschenkter Freiheit erlebt wird? Wissen wir noch etwas vom Glück der Befreiten? “Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden. Er, der Sohn Gottes, der machet recht frei.” Denkt daran, wer ihr seid: Befreite, Befreite von Schuld.

3. Denkt daran, wer ihr sein werdet

Petrus sagt: Heilige werdet ihr sein. Dabei denkt er nicht an die unübersehbar große Ahnen­galerie von Heiligenbildern, in die schlussendlich auch mein gerahmtes Passbildchen aufgehängt werden könnte, sondern er denkt an die unübersehbar große Schar von heilig Gewordenen, die schlussendlich um den Thron Gottes stehen und ihr “Heilig, heilig, heilig” singen. Das ist die im Text bezeichnete Hoffnung zu Gott, die wir haben können. Bert Brecht, der keine Gelegenheit ausließ, Jenseitsspekulationen zu geißeln, schrieb einmal: “Ich gestehe, ich habe keine Hoffnung. Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich sehe. Wenn die Irrtümer verbraucht sind, sitzt als letzter Gesell­schafter uns das Nichts gegenüber.” Und Petrus sagt: Ich gestehe, ich habe eine Hoffnung. Wenn die Irrtümer verbraucht sind, steht uns der gekreuzigte und auferstandene Herr gegenüber. Seine Leute sind dann in guter Gesellschaft. Aber nicht erst dann, auch heute schon. Heilige Gewordene leben mit ihm. Sie schürzen das Gewand hoch und packen dort mit an, wo Hilfe nottut. Heilig Gewordene leiden mit ihm. Sie gehen den Kreuzweg und machen nicht gleich das Kreuz, wenn ihnen der Wind ins Gesicht bläst. Heilig Gewordene streben mit ihm. Sie sind auch auf der letzten Strecke nicht allein und fallen in seine Hände. Heilig Gewordene stehen mit ihm auf an jenem Tag, an dem es über den Gräbern klingt: “Kommet wieder Menschenkinder.” Martin Luther hat es wohl am schönsten zusammengefasst und unsere Konfirmanden werden es in 14 Tagen vor diesem Altar wieder nachsprechen: “Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahr­haftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr. Der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben und gewonnen von allen Sünden und von der Gewalt des Todes, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf dass ich sein eigen sei.”

Liebe Freunde, wer bin ich eigentlich, wenn ich nichts mehr bin? Sein eigen, sein Eigentum, heute, morgen, immer.

Amen