Einführung und Kontext des Gleichnisses
Ich möchte heute Morgen mit euch ein Gleichnis anschauen, das wir nur im Lukasevangelium finden, und zwar in Lukas 18,9-14. Es ist das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner, die beide in den Tempel gehen, um dort anzubeten, sich aber sonst ganz unterschiedlich verhalten.
Zuerst möchte ich dieses Gleichnis vorlesen. Danach wollen wir gemeinsam betrachten, was davor und was danach steht. Wir überlegen auch, wen Jesus wohl mit diesen beiden Personen meint, die dort auftauchen. Wenn wir das geklärt haben, können wir dazu übergehen, was das Gleichnis uns heute zu sagen hat. Dabei schauen wir, wo wir selbst hineinpassen und mit welcher der beiden Rollen wir uns möglicherweise identifizieren können oder müssen.
Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner im Tempel aus dem Lukasevangelium, Kapitel 18, Verse 9 bis 14:
Dann richtete Jesus dieses Gleichnis an gewisse Leute, die von sich selbst überzeugt waren, gerecht zu sein und die die anderen verachteten. Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Aufrechtstehend betete der Pharisäer bei sich selbst so: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie der Rest der Menschen hier, wie die Räuber, Ehebrecher, Rechtsbrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte.“
Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten. Stattdessen schlug er sich auf die Brust und sagte: „O Gott, sei mir einem Sünder wieder versöhnt!“
Ich sage euch: Dieser stieg als der Rechtfertigte wieder hinunter nach Hause, nicht jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, aber derjenige, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
Soweit das Gleichnis.
Zusammenhang mit vorherigen und nachfolgenden Texten
Schauen wir hinein, was vorher und was nachher steht, gibt es da einen gewissen Bezug?
Direkt vorher finden wir ein anderes Gleichnis, nämlich das von der bittenden Witwe. Dabei handelt es sich um eine Frau, die bei einem ungerechten Richter Recht bekommen will und ihn immer wieder auffordert, ihr Recht zu sprechen. Hier merken wir, dass es eine gewisse Parallele gibt, denn in beiden Gleichnissen geht es ums Gebet.
Im ersten Gleichnis geht es um das kontinuierliche Gebet, die bittende Witwe. Auch wenn Gott nicht direkt auf dein Gebet antwortet, sollst du immer wieder beten und ausdauernd bleiben. Nicht, weil Gott nicht hört, sondern weil Gott will, dass es dir etwas kostet und dein Vertrauen bleibt, auch wenn du nicht sofort eine Antwort bekommst.
Im zweiten Gleichnis, das wir heute etwas näher anschauen wollen – das von dem Pharisäer und dem Zöllner – geht es ebenfalls ums Gebet. Hier steht jedoch mehr die Stellung des Menschen zu Gott im Mittelpunkt: Warum bete ich? Was beabsichtige ich damit? Nicht so sehr die Kontinuität, sondern die Umstände und der Inhalt des Gebets werden hier näher betrachtet. Dennoch merken wir, dass es eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Gleichnis gibt.
Nach dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner folgt die Segnung der Kinder. Das heißt, es werden Kinder zu Jesus gebracht, er segnet sie und sagt, dass ihnen das Reich Gottes gehört. Hier erkennen wir ebenfalls eine Verbindung: Es geht darum, wen wir für den idealen Christen oder guten Gläubigen halten.
Damals galten Kinder in Israel nicht so viel. Zwar waren sie zweifellos ein Geschenk Gottes, doch wir wissen von einigen Begebenheiten, bei denen die Jünger sogar versuchten, die Kinder von Jesus fernzuhalten. Direkt danach wird deutlich, dass Jesus auch für diese Kinder da ist – er ist nicht nur für die Erwachsenen und nicht nur für die Frommen.
Auch hier gibt es eine Beziehung zu dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Denn in diesem Gleichnis wird uns einer gezeigt, der ganz fromm und vorbildlich zu sein scheint – zumindest auf den ersten Blick. Dem gegenüber steht ein Mann, bei dem man denkt, dass er eigentlich nichts im Tempel zu suchen hat: der Zöllner. Er lebt in Sünde, so scheint es, und sollte sich erst bekehren, seinen Job aufgeben, bevor er zu Gott kommen und beten kann.
Wir merken also, dass hier ein direkter Bezug besteht – sowohl zu dem, was vorher berichtet wird, als auch zu dem, was nachher folgt: Zum einen das Thema des Gebets, zum anderen die Frage, für wen das Reich Gottes eigentlich gedacht ist – nämlich für alle.
Darüber hinaus erinnert uns dieser Text vielleicht auch an die Begebenheit von Maria und Martha. Einige von uns kennen die Geschichte: Jesus kommt zu Maria und Martha nach Hause. Martha arbeitet fleißig, und das ist grundsätzlich gut. Maria hingegen sitzt scheinbar faul da und hört Jesus nur zu.
Am Ende der Geschichte heißt es, dass sich Maria richtig verhalten hat, denn in diesem Moment war es wichtiger, Jesus zuzuhören. In unseren Köpfen wird hier etwas umgedreht. Normalerweise denken wir, der Fleißige sei das Vorbild. In vielen Fällen ist das auch so, und Jesus sagt nichts dagegen. Es soll niemand falsch verstehen und denken, man solle am besten nichts tun.
Ich weiß nicht, manche unserer Kinder würden das vielleicht so auslegen: „Ich bin der Frömmere, ich bleibe zuhause und lese oder höre etwas im Radio oder Hörspiel.“ Das gilt aber nicht immer. Hier in dieser Situation werden unsere gewohnten Verhältnisse plötzlich auf den Kopf gestellt.
So ähnlich ist es auch bei dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Was uns auf Anhieb auffällt: Der Zöllner schneidet bei der Darstellung durch Jesus nicht gut ab. Ich hoffe, das ist euch schon beim ersten Lesen aufgefallen, sonst werden wir noch genauer darauf eingehen.
Etwas erinnert mich das Ganze auch an die Geschichte von Maria und Martha. Diese Geschichte finden wir im Lukas-Evangelium Kapitel 10, Verse 38 bis 42. Direkt davor, in Lukas 10, Vers 30, steht die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Auch diese Geschichte ist ein Gleichnis, das Jesus erzählt.
Das erinnert mich ebenfalls an diese Begebenheit: Dort gibt es den frommen Priester, der dem zusammengeschlagenen Mann helfen sollte. Stattdessen geht er seinen frommen Pflichten nach und kümmert sich nicht darum. Auch hier haben wir wieder den Gegensatz zwischen dem Frommen und dem wirklich Frommen.
Der Pharisäer geht in den Tempel und betet, schneidet aber schlecht ab. Der Samariter, der eigentlich nicht den richtigen Glauben aus jüdischer Sicht hat, schneidet dagegen gut ab. So ähnlich ist es auch hier.
Ich glaube, es gibt Beziehungen zwischen den Erzählungen, die Jesus erzählt. Sie stehen nicht ganz neutral da, sondern sind miteinander verbunden.
Die Adressaten des Gleichnisses und ihre Haltung
Wir sollten auch im Blick behalten, wen Jesus hier anspricht, das heißt, vor wem er überhaupt dieses Gleichnis erzählt. Selbstverständlich sind da seine Jünger. Mit seinen Jüngern sitzen wir sozusagen mit dabei, hören zu und müssen uns fragen: Meint Jesus vielleicht auch uns damals als Jünger und heute als Christen?
Es geht aber nicht nur um die Jünger. Bereits vorher lesen wir, nämlich einmal in Kapitel 16, Vers 14. Dort beginnt die ganze Rede Jesu. Dort steht: „Dies alles hörten aber die Pharisäer, sie waren geldgierig und spotteten über ihn.“ Und wenn wir noch ein Stück weiter lesen, in Kapitel 17, Vers 20, heißt es: „Als aber von den Pharisäern er gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt …“
Das bedeutet, dass direkt im Zusammenhang, also unmittelbar davor, zweimal erwähnt wird, dass unter den Zuhörern Jesu viele Pharisäer sind. Wenn Jesus hier in der Geschichte einen Pharisäer auftreten lässt, ist das wahrscheinlich nicht vollkommen willkürlich. Denn einige der Zuhörer gehören genau zu dieser Personengruppe. Sie fühlen sich deshalb wahrscheinlich auch angesprochen – oder zumindest angesprochen fühlen sollten.
Allerdings sehen wir hier auch, dass Jesus noch kommunikationsbereit ist. Er spricht noch mit den Pharisäern. Er hätte sie auch einfach ignorieren können. Vorher hatten wir ja schon gelesen, dass das diejenigen waren, die geldgierig und ichzentriert waren, die nur scheinfromm waren. Trotzdem geht Jesus auf sie zu und erzählt ihnen eine Geschichte – ihnen zur Hilfe. Denn diese Geschichte soll nicht dazu dienen, dass unsere vorgefertigten Urteile bestätigt werden.
Wir als Christen heute neigen ja schnell dazu zu sagen, die Pharisäer seien die Bösen und natürlich die anderen, wir aber die Frommen – also die Zöllner sozusagen. Doch wenn wir genauer hinschauen, merken wir, dass das nicht ganz aufgeht. Das klappt nicht so einfach. Gleich werden wir noch etwas näher darauf eingehen.
Wir sollten also nicht zu vorschnell urteilen, denn möglicherweise finden wir uns ab und an auch mal in der Rolle des Pharisäers wieder, der hier dargestellt wird.
Die Einleitung des Gleichnisses und Charakterisierung der Zuhörer
Nun, Jesus wird angegriffen, und er antwortet ihnen. Jetzt wollen wir uns Schritt für Schritt in dieses Gleichnis hineinarbeiten.
Im ersten Vers, nämlich Vers 9, richtet er dieses Gleichnis an gewisse Leute, die von sich selbst überzeugt waren, gerecht zu sein, und die die anderen verachteten. Es ist interessant, wie das eingeleitet wird. Hier werden die Adressaten des Gleichnisses bewusst genannt – es wird nicht einfach gesagt, er rede zu irgendjemandem. Aber eigentlich werden sie dann doch auch wieder nicht namentlich genannt.
Es steht ja, er richtete es an gewisse Leute – das klingt interessant – und dann werden sie auch noch etwas näher beschrieben, aber nicht mit Namen. Es ist keine Gruppe wie die Pharisäer, Sadduzier, Schriftgelehrten oder sonst jemand, sondern „gewisse Leute“. Und dann wird das Charakteristikum, das diese Leute auszeichnet, noch etwas näher vor Augen geführt.
Diese Leute sind von sich selbst überzeugt, gerecht zu sein. Hier wird nicht ausgesagt, ob sie tatsächlich gerecht waren oder nicht. Es könnte durchaus sein, dass es wirklich vorbildliche Menschen waren. Das wird von Jesus gar nicht in Zweifel gezogen. Aber das, was er hier als Kriterium nennt, ist, dass sie sich dessen ganz bewusst sind. Egal, ob sie es sind oder nicht.
Das heißt, diese Selbstgerechtigkeit, ob begründet oder unbegründet, wird von Jesus gar nicht aufgegriffen. Aber diese Selbstgerechtigkeit, mit der diese Menschen auftreten, ist geprägt von dem Bewusstsein: Ich bin ein gerechter Mensch. Eigentlich müssten alle so sein wie ich. Oder nein, eigentlich besser nicht, denn wenn alle anderen so wären wie ich, würde ich mich ja nicht mehr hervorheben können.
Denn was hier noch hinzukommt, ist, dass sie einen Teil ihrer Selbstgerechtigkeit daraus beziehen, die anderen zu verachten. Das geht häufig Hand in Hand. Je besser ich mich darstelle oder je mehr ich von mir denke, desto leichter ist das, wenn ich die anderen erst einmal schlecht mache. Dann muss ich gar nicht mehr viel tun.
Vielleicht kennt man das von Streitereien unter Kindern: Ein Kind wird auf einen Fehler hingewiesen, zum Beispiel, dass es Süßigkeiten genommen hat, die ihm nicht gehörten. Und dann kommt das Kind und sagt: „Aber der andere, mein Bruder, macht das jeden Tag.“ Bist du deshalb besser dran? Nein. Aber wenn der andere noch schlechter ist, dann bist du selbst mit deinen Fehlern noch ganz gut.
Oder ein Geschwisterteil gibt dem anderen eine Ohrfeige. Die Eltern fragen: „Was hast du da gemacht? Warum hast du das getan?“ Und die Antwort lautet: „Ja, aber der andere hat mir einen Kinnhaken gegeben.“ Ein Kinnhaken ist schlimmer als eine Ohrfeige, also bin ich doch gar nicht so schlimm. Da steckt schon etwas von Selbstgerechtigkeit drin: Der andere ist so schlimm, dadurch bin ich automatisch schon gut.
Das ist etwas, was diese Selbstgerechtigkeit der gewissen Leute kennzeichnet, die hier angesprochen werden. Die Sünde, die sie haben, ist der geistliche Stolz – egal, ob sie wirklich auf etwas stolz sein können oder ob es nur eingebildete gute Eigenschaften sind, die sie an sich haben.
Diese Leute waren in Bezug auf sich selbst überzeugt. Es ist ein Selbstvertrauen, eine Arroganz, die dahintersteht. Es wird nicht gesagt, dass sie auch wirklich gerecht vor Gott sind – und das wäre eigentlich das Entscheidende, das Wichtige, was wir in unserem Leben brauchen.
Es geht darum, dass das Leben unser Gewissen bestimmt und nicht das Gewissen unser Leben. So könnte man es sagen. Das heißt, sie leben, und was sie leben, das ist gut. Also sagt ihr Gewissen dann: „Aha, du bist gut.“ Das Gewissen wird danach ausgerichtet, wie wir handeln.
Wenn du zum Beispiel ein cholerischer Mensch bist und ab und zu aus der Haut fährst, dann sagst du dir: „Cholerisch sein ist natürlich, das ist keine Sünde, alles normal.“ Und dann sagt dein Gewissen hinterher auch: „Du bist gut“, weil das, was du machst, in Ordnung ist.
Oder vielleicht bist du ein „Flechmatiker“ – dann laufen die Sachen alle nicht so, alles geht mehr so: „Naja, es kommt heute nicht, oder morgen nicht, oder es läuft gar nicht.“ Und dann sagst du dir: „Das ist normal, das ist gut.“ Also dein Gewissen sagt dir nicht mehr, dass das falsch ist. Mit der Zeit gewöhnt sich dein Gewissen daran und sagt dir: „Du bist gut.“
So ist das auch bei Lügen: Du erklärst bestimmte Dinge nicht mehr als Lüge, sondern als interpretierte Wahrheit oder so. Und mit der Zeit glaubt dein Gewissen das auch. So ist es bei dem Pharisäer, der genau weiß, wie gut er ist, weil sein Gewissen auf sein Leben geeicht ist.
Was wir brauchen, ist aber gerade das Gegenteil: Wir brauchen ein Gewissen, das von Gott geeicht ist, das von Gott bestimmt wird und uns im Leben oft Ärger macht und sagt: „Das, was du hier tust und sagst, ist falsch. Da musst du etwas verändern.“
Das tut dieser Pharisäer gerade nicht. Er hat sein Gewissen nur nach sich selbst, nach dem Ist-Zustand ausgerichtet. Nun hält er die anderen für nichts. So wird es hier ausgedrückt. Das ist ein starker Ausdruck der Verachtung.
Derselbe Ausdruck wird zum Beispiel auch benutzt, als Jesus vor Herodes geführt wird, ganz am Ende seines Lebens. Da steht auch, dass Herodes ihn für nichts achtete. Er dachte: „Was ist das für einer? Der bringt ja nichts zustande.“
Hier zeigt sich eine ernste Gefahr, in der wir als Christen stehen können: Wir bauen unser Selbstbewusstsein in erster Linie darauf auf, wie schlecht die anderen sind. Es gibt ja im christlichen Bereich eine Art Literaturgattung, die beschreibt, wie schlimm die Welt ist. Je schwärzer wir die Welt um uns herum malen, desto besser stehen wir selbst da, und wir müssen nichts mehr tun.
Zum Beispiel bei mir: Ich trinke nicht gerne Alkohol. Und je mehr ich heraushebe, wie die ungläubige Welt ihre Alkoholexzesse und Orgien feiert, desto besser kann ich mich fühlen und sagen: „Bin ich nicht heilig, bin ich nicht gerecht, weil ich nicht so bin wie diese bösen Zöllner und Sünder?“
Das könnte ich durchaus machen, und das wäre nicht mal gelogen, weil ich tatsächlich nichts von Alkohol halte. Ich bin auch nicht jemand, der jedes Wochenende in der Disco durchfeiert. Ich würde lieber das ganze Wochenende lesen oder studieren.
Aber ich könnte jetzt richtig sagen, wie böse die Welt ist – die Schlägereien, die Drogen und was sonst noch alles in der Disco passiert. Wie gut bin ich da nicht. Ich meine, wie gut bin ich jetzt gerade?
Das ist eine Gefahr, in der wir als Christen schnell stehen können. Wir sehen die böse Welt da draußen, und manchmal ist sie ja auch böse. Das heißt nicht, dass alles, was Menschen ohne Gott tun, in Ordnung ist. Aber ich sollte mein Selbstbewusstsein nicht in erster Linie dadurch aufbauen, dass ich die anderen verachte und schlecht mache.
Wenn überhaupt, dann sollte ich im wahrsten Sinne des Wortes über die Menschen weinen, die ihr Leben mit unsinnigem Zeug vertun. Aber dann weinen um ihrer Willen, nicht um zu zeigen, wie toll ich bin. Sondern weil ich weiß, dass es gut wäre, wenn die Menschen anders leben würden, wenn sie erkennen würden, dass es viel wichtigere Dinge im Leben gibt als das, womit sie ihr Leben verschwenden.
Das wäre eine richtige Einstellung. Vielleicht würde das dazu führen, dass der Pharisäer später im Gebet bittet: „Hilf du den Leuten! Diese Leute! Oder ich will ihnen selbst helfen.“ Das wäre noch besser, wenn er das betet. Vielleicht betet er so im stillen Kämmerlein, muss ja nicht in der Öffentlichkeit zeigen, wie er über die anderen denkt.
Aber ich glaube, hier liegt eine Herausforderung, in der wir stehen können. Manchmal merken wir auch in Gemeinden, in denen wir sind, Schwierigkeiten, weil dort diese „richtig sündigen Menschen“ sind. Da sind wir ja froh, dass wir mit denen nichts zu tun haben – die sind ja draußen.
Und wenn dann mal jemand in die Gemeinde kommt, der sich nicht von vornherein total verändert hat – also Kleidung, Frisur und alle Gewohnheiten im Alltag müssen verändert werden –, dann darf der gar nicht zum Gottesdienst kommen.
Ich weiß nicht, wie das bei euch ist. Bei uns gibt es quasi eine „Gesichtskontrolle“ am Gottesdienst. Dann wird noch mal gerochen an der Kleidung: Riecht der nach Rauch? Mund auf, einmal hauchen – nein, Alkohol – zack, geh nach Hause, schlaf dich aus.
Nicht, dass ihr denkt, ich gehe tatsächlich zu so einer „Sälze“ in der Gemeinde. Das machen wir nicht. Das war jetzt ein Stilmittel der Übertreibung, um eine Sache deutlich zu machen.
Ich glaube, manchmal kann das dazu führen. Stellt euch mal vor, wirklich so ein totaler Freak mit Tätowierungen, Arme voll struppig, Bart, riecht nach Alkohol und Knoblauch, trägt durchgesessene Hose und was weiß ich noch – das würde wahrscheinlich ein Problem sein.
Manche würden sich schon besser fühlen, wenn sie denken: „Gut, dass ich nicht so bin wie der.“ Andere würden sagen: „Der stört uns hier, geh mal wieder woanders hin.“
Aber das ist eigentlich nicht das Richtige. Theoretisch wissen wir das, aber die Herausforderung Jesu ist hier praktisch: Bauen wir unsere Selbstgewissheit, unser Gutsein darauf auf, dass wir in erster Linie schauen, wie schlecht die anderen sind?
Selbst wenn die wirklich alle schlecht sind – was macht das besser an deinen eigenen Sünden und Problemen? Darum soll es doch gehen. Wenn ich Kontakt mit Gott habe, soll ich mich nicht beklagen, wie schlimm die anderen sind, sondern meine Sünden und Fehler bekennen und vor Gott eingestehen.
Das tut dieser Mann eben gerade nicht. Für ihn sind die anderen eigentlich nur da, um sich selbst herauszukehren. In seiner Theologie sind die anderen nichts anderes als Brennmaterial für die Hölle. So malt er sich ein schwarz-weißes Bild.
Aber sonst braucht man die eigentlich nicht. Und da merkt man: Das ist falsch. Das ist das Problem dieses Menschen. Das hat er eben nicht verstanden.
Die beiden Männer im Tempel: Pharisäer und Zöllner
Nun kommen wir ein bisschen näher an die Geschichte heran. Es werden uns zwei Personen vorgestellt: eine Gruppe von Menschen, die Jesus anspricht, nämlich solche, die viel von sich halten. Das liegt vor allem daran, dass sie schlecht über andere denken.
Dann werden zwei Männer vorgestellt. In Vers 10 heißt es: Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Dieses Hinaufsteigen ist in der Bibel typisch. Jerusalem, wo der Tempel liegt, befindet sich im judäischen Bergland und ist tatsächlich etwas erhöht. Das Hinaufsteigen soll außerdem ausdrücken, dass man sich Gott nähert, zu Gott aufsteigt.
Damals glaubten die Juden, Gott wohnt im Tempel. Wenn man zum Tempel geht, ist man in der Gegenwart Gottes. Das Hinaufsteigen zeigt also symbolisch die Annäherung an Gott.
Interessant ist, dass beide Männer hier erst einmal gleich sind. Beide tun dasselbe: Der Zöllner geht morgens nicht in die Kneipe, sondern zum Tempel, um zu beten. Äußerlich gesehen tun beide dasselbe.
Beide sind eher ungewöhnliche Typen im Tempel. Im Tempel war damals viel los in Jerusalem, aber diese beiden würden wir nicht unbedingt dort erwarten. Den Zöllner nicht, weil man denkt, er sei nur geldgierig und kümmere sich nicht um fromme Dinge. Er scheint das auch nicht zu brauchen.
Der Pharisäer war eigentlich so fromm, dass er mit den normalen Leuten im Tempel nichts mehr zu tun haben wollte. Die Pharisäer waren starke Kritiker der Sadduzäer. Die Sadduzäer stellten zum großen Teil die Priesterkaste im Tempel, also auch die Hohenpriester. Sie hatten eher eine Zusammenarbeit mit den Römern und standen deshalb besser da.
Normalerweise wollten die Pharisäer nichts mit den Sadduzäern zu tun haben, weil sie diese für zu verweltlicht hielten. Deshalb beteten die Pharisäer meistens in den Synagogen, nicht im Tempel. Die Sadduzäer waren durch ihre politische Haltung eher weltlich geprägt.
Beide Männer wären also ungewöhnlich im Tempel. Jesus greift diese beiden Personen wahrscheinlich gerade deshalb auf. Über beide staunt man: Der eine ist zu fromm, der andere zu wenig fromm. Beide begeben sich in den Tempel.
Jetzt stellt sich die Frage: Wo genau sind sie im Tempel? Wir dürfen uns den Tempel nicht vorstellen wie griechische Tempel mit großen Säulen und einem riesigen Götterbild am Ende. Der Tempel in Jerusalem bestand aus verschiedenen großen, nicht überdachten Höfen.
Ringsum um diese Höfe gab es Hallen, zum Beispiel die Halle Salomos. Dort wurde gehandelt, geredet und Opfer gekauft. Dann gab es den großen Vorhof der Heiden, zu dem alle Menschen Zutritt hatten.
Darauf folgte der Vorhof der Frauen, wo jüdische Frauen zum Beten hinkonnten. Dann kam der Vorhof der Männer, wo jüdische Männer beteten, aber keine Frauen oder Heiden Zutritt hatten.
Anschließend gab es den Bereich, in den nur die Priester durften, und schließlich das Tempelgebäude selbst, in das die Priester nur selten hineingingen. Darin befand sich das Allerheiligste.
Wahrscheinlich sind die beiden Männer hier im Vorhof der Männer, also an einem etwas exklusiven Ort. Wir müssen uns vorstellen, dass dort jeden Tag Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen zum Gebet kamen – auch an ganz normalen Tagen.
Die Juden gingen zum Frühopfer oder zum Spätopfer zum Gebet in den Tempel. Dort waren viele Menschen versammelt. Die beiden Männer stehen also nicht allein, sondern mit vielen anderen.
Für den Pharisäer ist das besonders wichtig, denn er betet laut. Er betet nicht nur leise, sondern bewusst so, dass andere ihn hören. Gäbe es keine Zuhörer, wäre die Hälfte seines Stolzes verloren.
Das heißt, es müssen Zuhörer da sein, die sehen, wie er sich selbst lobt und zeigt: „Bin ich nicht ein toller Kerl? Schaut mich an!“ Am liebsten würde er jemandem auf die Schulter klopfen und hören: „Ja, super, dass du hier bei uns bist! Zeig uns doch mal, wie du fastest und opferst!“
Also sind viele Menschen da, und diese beiden Männer sind mit dabei. Es ist keine Hausgemeinde, sondern öffentliches Gebet.
Bei öffentlichem Gebet müssen wir auch heute noch vorsichtig sein. Öffentliches Gebet kann leicht zur Selbstdarstellung dienen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manche Leute im Gebet gar nicht wirklich zu Gott sprechen, sondern eher eine Predigt halten wollen.
Da sie im Gottesdienst nicht predigen dürfen, tun sie es dann im Gebet. Manchmal sprechen sie im Gebet nicht mehr zu Gott, sondern zu den Menschen in der Gemeinde und sagen ihnen, was sie tun sollen.
Manche Gebete sind so mit frommen Floskeln überladen, dass sie fast triefen vor Frömmigkeit. Trifft man diese Leute später ganz normal im Alltag, zum Beispiel im Supermarkt, sprechen sie ganz normal und nicht mehr mit Halleluja oder Gloria.
Man wundert sich, ob das dieselben Menschen sind. Ich glaube, hier besteht die Gefahr, dass man nicht wirklich zu Gott spricht, sondern sich vor anderen Gläubigen präsentieren will.
Man möchte zeigen: „Siehst du, wie fromm ich bin? Ich beherrsche die Sprache und die richtigen Ausdrücke.“ Wir müssen aufpassen, nicht in diese Versuchung zu geraten.
Immer wieder sollten wir uns fragen: Wenn ich bete, spreche ich dann wirklich zu Gott oder eigentlich nur für andere Menschen, die um mich herum sind?
Damals war solches öffentliches Beten sogar hoch angesehen. Heute kann man das nur noch in der Gemeinde machen. Wenn man sich heute auf den Marktplatz stellt und sagt: „Danke, dass ich so gut bin und nicht wie die Sünder um mich herum“, würden die Leute einen komisch anschauen.
Vielleicht rufen manche sogar einen Krankenwagen. Aber kaum jemand würde einen dafür bewundern.
Damals war das anders. Damals galt so ein frommer Mensch als vorbildlich. Heute ist das nur noch in der Gemeinde möglich, aber auch dort sollten wir es nicht so tun.
Hier heißt es, der Pharisäer trat auf und betete. Das griechische Verb für „beten“ im Infinitiv Präsens drückt eine Handlung aus, die gewohnheitsmäßig stattfindet, also regelmäßig.
Das Verhalten des Zöllners ist hier nicht ein einmaliges Versehen, sondern er ging regelmäßig zum Beten in den Tempel. Das wird hier ausdrücklich erwähnt. Es handelt sich also um eine regelmäßige Handlung.
Das Gebet des Pharisäers und seine Haltung
Nun kommen wir zum nächsten Vers. Aufrechtstehend betete der Pharisäer bei sich selbst: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie der Rest der Menschen, wie die Räuber, Ehebrecher, Rechtsbrecher oder auch wie dieser Zöllner.“
Der Zöllner wird hier nur sehr kurz vorgestellt, ebenso der Pharisäer. Über diesen erfahren wir so gut wie nichts, außer dass er Pharisäer ist. Wir wissen nicht, ob er verheiratet war, wo er lebte oder ob er noch einen Beruf hatte. Denn die meisten Pharisäer waren damals keine Vollzeit-Pharisäer, sondern eher Teilzeit-Pharisäer.
Im Gebet war es damals vorgeschrieben, zuerst zu knien als Zeichen der Demut vor Gott. Das tat der Pharisäer wahrscheinlich auch. Danach stand er auf. Es wird hier ausdrücklich erwähnt, dass er „aufrechtstehend“ betete. Man kann sich vorstellen, wie er stolz das Gesicht emporhob und den Rücken durchdrückte, mit der Selbstbewusstheit: „Ich bin jemand, schaut her zu mir.“ Das soll das Wort „aufrechtstehend“ ausdrücken.
Dass die Leute damals im Stehen beteten, wissen wir zum Beispiel aus dem Achtzehn-Bitten-Gebet. Dieses Gebet stammt aus dem jüdischen Umfeld des ersten Jahrhunderts. Es besteht aus achtzehn Bitten und wurde regelmäßig in der Synagoge gebetet. Dort wird berichtet, dass die Juden zu dieser Zeit meistens stehend beteten, oft mit erhobenen Händen. Das heißt, die Juden der damaligen Zeit beteten häufig mit erhobenen Händen.
Das Gebet mit aufrechtstehenden Händen war übrigens auch in der Urgemeinde üblich. Wenn wir uns Paulus vorstellen, lesen wir oft, dass die Gläubigen die Hände zum Gebet hoben. Vieles vom jüdischen Gebet wurde so praktiziert.
Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Heute jedoch ist diese Gebetshaltung nicht mehr neutral. Wer heute mit erhobenen Händen betet, wird oft als Charismatiker erkannt, weil diese Haltung als Kennzeichen dieser Gruppe gilt. Das kann manche hemmen. Wenn ich jetzt plötzlich so beten würde, würden manche vielleicht denken: „Die Bibelschule Brake ist charismatisch geworden.“ Dabei wäre das, wenn ich es tue, gar nicht unbedingt charismatisch, sondern einfach nur die Gebetshaltung zur Zeit des Neuen Testaments.
Dieser Mann hebt also wahrscheinlich die Hände auf und richtet sie auf Gott aus. Er betet hier laut, sodass alle anderen es hören können. Sogar der Zöllner, der nur ein Stück weiter steht, kann es hören. Dann sagt der Pharisäer: „Gut, dass ich nicht so bin wie dieser Zöllner!“ Was für eine Demütigung muss das für den Zöllner gewesen sein! Und was für ein hohes Gefühl für den Pharisäer, sich selbst so hervorzuheben, während er betet.
Aus der damaligen Praxis schließe ich, dass stilles Gebet kaum üblich war. Normalerweise beteten die Leute laut. Wenn nicht ausdrücklich erwähnt wird, dass jemand im Stillen betet, darf man davon ausgehen, dass er laut oder zumindest normal laut betet, so dass Umstehende es wahrnehmen können.
Eine Ironie der Geschichte ist, dass es heißt: „Er betete bei sich selbst.“ Das ist eigentlich absurd. Wenn wir beten, sollten wir doch zu Gott sprechen. Aber hier betet er „bei sich selbst“. Das heißt, er redet eigentlich nicht für Gott, sondern für sich selbst. Er ist ein armer Typ, der total einsam ist. Er schneidet sich von allen anderen Menschen ab, weil sie alle böse sind und er so gut. Gleichzeitig schneidet er sich auch von Gott ab. Gott könnte ihm ja noch sagen, dass bei ihm auch etwas falsch ist, aber das will er nicht hören. Sein Gewissen ist so eingestellt: „Alles, was ich tue, ist richtig.“ Gott soll ihm nichts mehr sagen; die Menschen auch nicht. Er ist ganz alleine. Das drückt das Wort „bei sich selbst“ aus. Es geht ihm nur um sich.
Das merken wir auch am Inhalt seines Gebetes. Er bittet Gott nicht um Vergebung, Veränderung oder Erkenntnis. Das hat er ja alles schon, meint er zumindest. Hier zeigt sich ein falsches Verhalten. Sicherlich karikiert Jesus den Pharisäer hier etwas. Die meisten Pharisäer hätten das so übertrieben nicht gemacht, genauso wenig wie wir das heute übertrieben tun würden. Aber Jesus stellt es so krass dar, damit wir das Grundproblem des Pharisäers erkennen und uns hinterfragen, ob wir nicht manchmal in einer ähnlichen Situation sind, in der wir uns nur darstellen, uns selbst loben oder auf andere herabschauen.
Er isoliert sich hier von Gott und von den Menschen. Deshalb redet er immer von „ich“ und „mir“, von sich selbst. Im nächsten Vers sagt er: „Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte.“ Damit geht er sogar über das hinaus, was im Alten Testament gefordert war.
Im Alten Testament war eigentlich nur einmal im Jahr Fasten vorgeschrieben, am Yom Kippur, dem großen Versöhnungstag. Das steht in Sacharja 8,18-19. Die Pharisäer zur Zeit Jesu hatten das Fasten jedoch noch übertrieben und zwei Tage festgelegt: Montag und Donnerstag. Ein frommer Pharisäer fastete an diesen Tagen. Er wollte damit sagen: „Ich tue nicht nur, was Gott fordert, sondern ich gehe darüber hinaus.“
Ähnlich war es beim Zehnten. Im Alten Testament war genau festgelegt, was verzehntet werden sollte, nämlich ein bestimmter Anteil der Ernte. Dieser Pharisäer geht auch hier darüber hinaus und gibt den Zehnten von allem, was er erwirtschaftet. Das musste er gar nicht, denn es war nur auf bestimmte Güter festgelegt.
Jesus stellt an anderer Stelle einen Pharisäer vor, der den Dill und die Minze verzehntet. Stellt euch vor, ihr seid heute beim Mittagessen, streut etwas Pfeffer darauf und müsst den zehnten Teil des Pfeffers wegnehmen und zum Opfer bringen. Das zeigt, wie kleinlich und übertrieben diese Überfrömmigkeit war.
Das Problem ist, dass der Pharisäer durch seine Selbstgerechtigkeit sich selbst vor Gott verurteilt. Wenn er wirklich offen vor Gott gewesen wäre, hätte er im Römerbrief lesen können: „Es gibt keinen Menschen, der gerecht ist, auch nicht einen.“ (Römer 3,10). Aber das war das Problem der Pharisäer. Sie hatten ihre Frömmigkeit aufgebaut und waren nicht bereit, sich von Gott hinterfragen zu lassen.
Das führt oft dazu, dass wir unseren eigenen Katalog von Sünden zusammenstellen. Natürlich dürfen es nie mehr als zehn oder fünfzehn sein, sonst wird es unübersichtlich. Am besten wählt man Sünden, mit denen man sowieso wenig zu tun hat. Zum Beispiel: Ich bin kein Bankräuber, also kann ich mich jeden Morgen gut fühlen. Ich habe mich auch noch nie betrunken, also setze ich das auf meinen Katalog. Ich habe noch nie die Ehe gebrochen, das kommt auch auf die Liste. Und Morden darf man auch nicht. So hat jeder seinen Privatkatalog, mit Sünden, die man vermeintlich nicht begeht. Damit kann man sich immer wieder selbst bestätigen: „Wie gut bin ich!“
In vielen Gemeinden gibt es das auch so. Aber kennt ihr eine Gemeinde, die wegen Geiz, Neid oder übler Nachrede Gemeindezucht übt? Nein, das sind doch Kavaliersdelikte. Das macht doch jeder, und es ist nicht so gemeint. Plötzlich haben wir alle möglichen Entschuldigungen. Die Frage ist, mit welchen Sünden wir selbst Probleme haben, nicht mit den bösen Leuten um uns herum. Das hilft niemandem.
Das ist genau das, was der Pharisäer hier macht. Er stellt seine Frömmigkeitskriterien zusammen, die er bereits erfüllt hat. Für ihn ist es kein großes Problem, zweimal die Woche zu fasten. Er tut es aus Selbstgerechtigkeit, um sich darzustellen. Er geht über das hinaus, was Gott fordert, und erwartet von anderen, dass sie das genauso tun.
In manchen Gemeinden werden ganze Kataloge von Dingen aufgestellt, die die Bibel gar nicht fordert, die aber als notwendig für Frömmigkeit angesehen werden. Damit will ich nicht sagen, dass diese Dinge schlecht sind. Zum Beispiel gibt es Gemeinden, die sagen: Wer bei uns ist, darf keinen Fernseher haben. Diese Regel finde ich eigentlich nicht schlecht. Ich sympathisiere damit und würde das sogar in der Gemeinde unterstützen. Aber wir müssen aufpassen: Das macht uns nicht zu frommeren Christen. Es ist keine biblische Forderung, weder im Alten noch im Neuen Testament. Man kann lange suchen, es gibt keinen Vers, der sagt: „Fernseher sind für Christen verboten.“
Das Problem ist aber, dass viele Menschen nicht gut mit dem Fernseher umgehen können. Statistisch gesehen sitzt der durchschnittliche Deutsche drei Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Ich frage mich, wer von euch meine Stunden alle mitschaut. Irgendwo muss das ja wieder aufgehen, aber dafür lese ich für euch mit.
Nach derselben Statistik liest der durchschnittliche Deutsche nur vierzehn Minuten am Tag. Da habe ich mich gefragt, welchen Durchschnitt sie genommen haben. Ich komme selbst auf vier oder fünf Stunden pro Tag, also müsste ich hier eigentlich für alle mitlesen.
Aber gut, das wäre meine pharisäische Einstellung: „Wie gut bin ich im Vergleich zu euch?“ Nein, das soll es nicht sein. Gerade das ist der Fehler. Wir sollen das eben nicht tun. Wenn du merkst, dass dir etwas schadet, verzichte darauf, wirf es weg oder so. Aber mach nicht den Fehler zu denken: „Jetzt habe ich das geschafft, ich bin der beste Christ, und alle anderen müssen so sein wie ich.“
Das ist das Problem, das wir hier sehen, und das hatte auch der Pharisäer. Übrigens haben die Christen das später übernommen. Sie sagten: „Weil die Juden am Montag und Donnerstag fasten, machen wir das nicht, sondern am Mittwoch und Freitag.“ Das gab es schon 50 Jahre nach Entstehung der Gemeinde. In katholischen Gegenden wird das bis heute beachtet. Vielleicht kennt ihr noch die Reste davon. Da sagt man: Am Freitag ist Fastentag, da wird kein Fleisch gegessen, sondern nur Fisch. Das gilt auch als Fasten.
Manche sagen: „Ich esse ja viel lieber Fisch als Fleisch.“ Aber dann kannst du dich gut fühlen. Sag es aber niemandem, sondern schau mit saurem Gesicht und sag: „Ich faste heute, ich esse kein Fleisch, nur ein bisschen Fisch.“ Dann bist du in katholischer Umgebung gut angesehen.
Hier merken wir wieder: All das bringt es nicht. Jesus ist ja gar nicht gegen das Fasten. Fasten ist gut, wenn wir uns Zeit für Gemeinschaft mit Gott nehmen wollen, uns nicht ablenken lassen und bereit sind, etwas für Gott zu opfern.
Aber wenn Fasten nur dazu dient, sich am Sonntag mit langem Gesicht hinzustellen und zu sagen: „Ich bin so fromm, ich habe gefastet, schaut her auf mich!“, dann ist es völlig verfehlt. Jesus sagt bei der Einleitung zur Bergpredigt: „Die haben ihren Lohn schon erhalten.“ Sie brauchen sich nicht mehr bei Gott dafür zu rühmen, denn sie haben sich vor den Menschen schon gerühmt und die Anerkennung schon bekommen.
Dieser Mann übertreibt es in seiner Frömmigkeit. Wir müssen aber auch beachten: Jesus nennt ihn an keiner Stelle einen Lügner. Scheinbar war dieser Pharisäer wirklich fromm, und das trifft uns auch. Ich rede nicht von denen, die in Gemeinden lügen, sondern von denen, die wirklich fromm leben.
Das Problem war nicht das fromme Leben, nicht das Fasten. Das Problem war, dass er die anderen niedermachte und selbstgerecht war. Er bildete sich etwas darauf ein, was er alles geleistet hatte. Der Dank an Gott ist hier eigentlich nur Nebensache.
Die Haltung und das Gebet des Zöllners
Dann haben wir als Nächstes den Zöllner. Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten. Er schlug sich an die Brust und sagte: „O Gott, sei mir Sünder wieder versöhnt!“ Oder wie Luther sagt: „Sei mir Sünder gnädig!“ Aber „versöhnt“ trifft es hier vielleicht noch ein bisschen besser. Damit soll ausgedrückt werden, dass er zurück zu Gott will. Er merkt, dass er eigentlich ungerecht vor Gott ist. Was er tut, sind viele Fehler und Versagen. Das muss ihm keiner sagen, denn er ist sich seiner Sünde bewusst.
Das ist aber der erste Schritt, um Vergebung zu bekommen. Wenn wir uns nie sagen lassen, wo etwas falsch läuft in unserem Leben – auch wenn wir schon seit Jahren oder Jahrzehnten Christen sind –, dann werden wir keine Veränderung erleben. Dann werden wir auch keine Vergebung bekommen. Der erste Schritt ist die Einsicht: Da ist etwas falsch. Gott will es uns zeigen, garantiert. Er will ja nicht, dass wir in der Sünde bleiben. Wenn Gott uns auf Sünde aufmerksam macht, tut er das nie, weil er sich darüber freut, dass wir so schlecht dran sind. Gott hat nie Freude an Sünde oder, wie die Bibel auch sagt, am Tod des Ungerechten. Gar nicht.
Aber wenn wir unsere Sünde nicht erkennen, wie sollen wir sie loswerden? Dann leben wir als Christen vielleicht Jahrzehnte mit unseren Sünden, weil wir uns daran gewöhnt haben. Wir haben unseren Katalog von Sünden zusammengestellt, die wir nicht tun, und die anderen werden alle toleriert. Und wir wundern uns, dass unser geistliches Leben stagniert und nicht vorankommt, dass Gott scheinbar in weiter Entfernung ist. Dabei sollte uns das nicht wundern, denn wir selbst stoßen Gott in dem, was wir tun, zurück.
Das, was der Zöllner hier tut, ist richtig. Der Zöllner hält sich auf Distanz. Wir stellen uns die Frage: Warum? Hat er Angst vor Gott? Hat er ein falsches Gottesverhältnis? Ich würde darauf tippen, es ist bei ihm einfach die Demut. Er ist sich seiner Schlechtigkeit bewusst und weiß: Eigentlich habe ich gar kein Anrecht, in die Nähe Gottes zu treten. Deshalb sein vorsichtiges Reden, deshalb auch das Nicht-Hochsehen zum Himmel.
Damals war es für die Juden so: Sie schauten nach oben zu Gott. Dort war der prächtige Tempel. Wir wissen, dass er goldene Zinnen hatte und eines der Weltwunder der Region war. Normalerweise hatte man sich in Judäa gefreut, dort zu sein, es zu sehen und zu sagen: „Ich gehöre auch dazu, ich bin Diener dieses Gottes, dem dieser Tempel gewidmet ist.“
Der Zöllner tut das bewusst nicht. Ich glaube, es ist ein Verzicht darauf. Er will sich nicht ablenken lassen von dem Prächtigen, was ringsumher ist, sondern er ist sich ganz bewusst seiner Distanz und Schlechtigkeit vor Gott. Er sucht nicht selbst Anerkennung und keine Entschuldigung für das Böse, das er getan hat. Er will Wiederherstellung seiner Person. Er will Rechtfertigung von Gott. Er will Vergebung seiner Sünden haben.
Das heißt, er ist sich hier seiner Menschlichkeit durchaus bewusst. Er verhindert sich hier die Freude daran, ihm das alles anzuschauen, und bittet um Vergebung.
Die Rechtfertigung des Zöllners und die Lehre des Gleichnisses
Dann kommen wir zum Vers 14: Ich sage euch, jener stieg, als er Recht bekommen hatte, wieder hinunter nach Hause. Eher als jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, aber derjenige, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
„Erhöht“ wird hier statt „rechtfertigen“ verwendet. Am Anfang steht ja: Der Herr hat Recht bekommen, also wird er gerechtfertigt. Dieses Rechtfertigen wird im Anschluss mit „erhöht“ oder „erniedrigt“ verglichen. Dieses Erhöhtwerden ist eine Perspektive, die die Zukunft betrifft.
Hier haben wir Zukunft auf zweierlei Ebene: Zum einen wird gesagt, er wird erhöht werden. Das kann einerseits in der Herrlichkeit bei Gott sein. Denn wir wissen, dass es bei Gott auch ein Preisgericht gibt, bei dem dann entschieden wird, was du getan hast. Hier geht einer zur Rechten, hier einer zur Linken. Es gibt also ein Preisgericht für die Christen. Wir merken, wie du lebst und was du tust, das wird einmal aufgerechnet – wenn nicht hier auf der Erde, dann spätestens, wenn wir vor Gott stehen.
Ich glaube aber, dass noch mehr damit gemeint ist. Im ersten Teil wird ja gesagt, er hatte Recht bekommen oder er stieg gerechtfertigt wieder zurück nach Hause. Das heißt, er ging ein Stück weit nach Hause und ist seine Sünde und Schuld losgeworden.
Der Pharisäer hingegen nicht. Der hatte auch Schuld, andere Fehler. Aber er ging mit der Schuld wieder nach Hause, weil er sie Gott gar nicht bekannt hat. Wie lesen wir im 1. Johannes 1,9: Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt von aller Ungerechtigkeit.
Ist das für Ungläubige geschrieben? Nein. Wenn wir den Brief anschauen, der 1. Johannesbrief ist an Gläubige gerichtet. Also heißt das auch: Wir als Gläubige müssen immer wieder zu Gott kommen und uns Vergebung bitten für das, was wir falsch gemacht haben.
Es geht nicht darum, dass wir deshalb ewig verloren gehen. Wenn du Christ bist, bist du ja gerettet, weil Jesus für dich gestorben ist. Das musst du tun: Wenn du merkst, du hast etwas falsch gemacht im Leben, dann musst du das auch vor Gott eingestehen. Sonst hilft es dir nichts.
Wenn du es nur verdrängst oder beiseiteschiebst, und sagst: „Das machen doch alle“, bleibt die Schuld da. Stell dir vor, du fährst bei Rot über die Ampel, wirst angehalten und sagst dem Polizisten: „Das tun doch alle.“ Hilft das? Normalerweise nicht. Es sei denn, der Polizist ist sehr großzügig – oder wie unsere Tochter zum Beispiel.
Wir sind da immer in Diskussionen, gerade mit dem Internet, mit einer unserer Töchter. Dann sagt sie: „Ja, aber ich will Lieder runterladen.“ Ich sage ihr: „Aber das ist illegal.“ Dann hört sie auch darauf. Aber sie sagt: „Das tun doch alle.“ Nein, wenn alle etwas Illegales tun, kann es doch nicht so schlimm sein? Nein. Das zählt nicht. Auch bei Gott nicht. Das spielt keine Rolle.
Was falsch ist, ist falsch. Deshalb lüg dir nicht in die Tasche. Wenn du Sachen falsch machst, wirst du vor Gott Rechenschaft ablegen müssen – früher oder später. Deshalb komm zu ihm und bitte ihn um Vergebung. Da haben wir die Möglichkeit, dass Gott uns wirklich vergibt.
Das ist das, was er uns Christen ermöglicht: die Ehrlichkeit, einzugestehen, dass wir schuldig vor Gott sind. Und dann zu Gott zu kommen und zu sagen: „Glücklicherweise hast du dafür bezahlt, sonst müssten wir bezahlen mit unserem Leben. Ich will das in Anspruch nehmen. Ich will jetzt auch mit dir leben, ich will dein Kind sein.“
Und wenn wir Christ geworden sind, hört das nicht auf. Dann sind wir zwar gerettet, das stimmt. Aber wenn wir schuldig geworden sind, müssen wir das immer wieder bekennen und immer wieder sagen.
Das ist eben das, was derjenige hier tut. Er geht gerechtfertigt nach Hause. Dieses „gerechtfertigt“ ist ein juristischer Ausdruck, also ein griechisches Wort, das so viel bedeutet wie: vor Gericht freigesprochen, gerechtgesprochen.
Das ist das, was diejenigen erwartet, die Gott um Vergebung ihrer Schuld bitten. Der Zöllner hingegen erlebt etwas anderes. Bei ihm geschieht eine Verwandlung, weil er Gott begegnet ist.
Interpretationen aus der Kirchengeschichte und praktische Anwendung
Ich möchte euch am Ende noch einige kurze Interpretationen geben, die Personen in der Kirchengeschichte in diesem Text wiedergefunden haben.
Eines davon stammt von Augustinus, den ich auch gestern schon zitiert habe. Er sagte, es geht hier eigentlich um das Gebet und um den Glauben. Es ist ein Gleichnis gegen den Stolz beim Beten und dagegen, andere im Gebet oder in der Realität zu beschimpfen. Die Vermessenheit, nichts nötig zu haben, wird hier angeklagt. Ebenso wird kritisiert, sich nur um Kleinigkeiten zu kümmern und dabei das Wesentliche außer Acht zu lassen. Kleinigkeiten könnte man sagen, na ja, dass er jetzt verzehnt ist, ja, lieb und nett. Aber wo ist das eigentliche Problem in deinem Leben?
Albert der Große hat dazu gesagt, hier wird die menschliche Natur beschrieben, die sich in erster Linie auf das Materielle, das Greifbare und das Äußerliche ausrichtet. Das kann schnell in Gesetzlichkeit und veräußerlichte Frömmigkeit münden.
Luther sagt, das sei das Vorbild, dass wir uns allein am Glauben genügen lassen sollen. Es richtet sich gegen Heuchelei und gegen gute Werke, wenn sie dafür eingesetzt werden, uns besser zu machen. Gute Werke sind dafür da, weil wir merken, dass es richtig ist, sie zu tun, weil wir damit Gott loben wollen. Wenn gute Werke jedoch lediglich dazu dienen, uns besser darzustellen, vergiftet das jede Gottesbeziehung. Letztendlich geht es dann nur noch darum, uns selbst rechtfertigen zu können oder zu müssen.
Was können wir davon mitnehmen? Ich hoffe einiges. Ich glaube, jeder von uns muss sich erst einmal irgendwo in einer ruhigen Stunde damit konfrontieren: Bin ich vielleicht dieser Zöllner? Habe ich vielleicht gewisse Züge davon? Sicherlich nicht so übertrieben wie er. Aber ist es so, dass ich manchmal die anderen noch schlechter mache in meinen Gedanken? Schaue ich auf die Christenheit herab, vielleicht sogar gerechtfertigt? „Die sind ja so Bibelkritiker, die sind ja so unmoralisch, die sind ja so gesetzlich, die sind ja so was weiß ich alles“, um mich selbst besser darzustellen?
Das heißt nicht, dass wir nicht sagen sollen, was wahr ist. Diese Bibelverse sagen uns ja nicht, dass wir die Wahrheit verschweigen sollen. Aber wir sollen es in Liebe sagen, so dass es dem anderen hilft und nicht, damit wir selbst besser dastehen.
Denn das, was uns hier gesagt wird: Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden vor Gott. Das gilt auch für uns. Wenn wir uns darstellen als die, die alles super in der Hand haben – und sei es noch ein bisschen fromm verkleidet – keiner von uns würde das ja so tun. Wir würden immer am nächsten sagen: „Ja, aber Gott sei ja Dank dafür und Gott gelobt und danke so und so.“ Aber es kommt aufs Selbe hinaus, es ist nur eine andere Floskel.
Da, glaube ich, sollten wir uns alle hinterfragen: Wie sieht unsere Selbstgerechtigkeit aus? Seid gerecht und lebt gut, gar keine Frage, das sollen wir tun. Aber lasst es nicht zu Selbstgerechtigkeit kommen. Bildet euch nichts darauf ein. Habt trotzdem ein offenes Auge dafür, was Gott euch noch zeigen will, wo in eurem Leben Sachen nicht in Ordnung sind.
Versucht dann nicht, es zu verdrängen, sondern richtet euer Leben nach eurem Gewissen. Lasst euer Gewissen von Gott prägen, damit er euch immer wieder Dinge zeigen kann, die falsch liegen. Kommt dann zu Gott, bittet ihn um Vergebung, empfangt Vergebung, und ihr könnt gerechtfertigt wieder nach Hause gehen – so wie Jesus es über den Zöllner gesagt hat.
Schlussgebet
Ich bete mit euch. Vater im Himmel, vielen Dank auch für dieses Gleichnis. Es ist ein anschauliches Gleichnis, in das wir uns hineinversetzen können – in diese beiden Männer, die im Tempel stehen.
Ich möchte dich bitten, dass du uns allen deutlich machst, wo wir in der Gefahr stehen, so wie der Zöllner zu sein. Hilf uns, nicht dieselben Fehler zu machen, nicht stehenzubleiben und nicht in eine veräußerlichte Frömmigkeit zu verfallen.
Gleichzeitig bitte ich dich, uns zu helfen, trotzdem ein gutes Leben zu führen. Gib uns Kraft, Dinge zu tun, die du gut und richtig findest. Hilf uns, auch ein Auge auf unsere Geschwister zu haben, damit wir ihnen helfen können, ebenfalls ein solches Leben zu führen, zu entscheiden, zu leben und zu handeln – so, wie du es willst.
Und auch wenn es uns wehtut, bitte ich dich, zeige uns immer wieder behutsam, wo wir etwas falsch machen. Lass uns Dinge verändern können und erfahren, dass du uns dabei beistehst.
Vielen Dank dafür, dass ich immer wieder erleben darf, dass du Geduld hast, dass du Vergebung schenkst und dass du Kraft gibst, um Veränderungen im Leben anzustreben – auch wenn dies über eine längere Zeit nötig ist.
Amen.