Die Wahrheit lässt sich finden

Konrad Eißler
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Wer Schwierigkeiten mit dem Glauben hat, der höre: Jesu Wahrheit wird für den klar, deutlich und verständlich, der sie praktiziert, der sie multipliziert und der sie differenziert. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Ich stelle mir einen Buben vor, der zur Schule geht, liebe Gemeinde. Er ist lernwillig und fleißig. Er ist pünktlich und ordentlich. Er erledigt seine Hausaufgaben trotz Fußballmarathon im Flimmerkasten. Dennoch weckt das bevorstehende Zeugnis schlimme Vorahnungen. Die Mutter, vom Ernst der Lage überzeugt, plant ein­en letzten Rettungsversuch vor den entscheidenden Klassenarbeiten und paukt mit ihm Vokabeln und Formeln. Bald aber stellt sie fest: Der Bub liest, aber er versteht nicht. Der Bub hört, aber er kapiert nicht. Der Bub lernt, aber es bleibt nichts hängen. So sagt es die Mutter zum Vater und beide sagen es dem Lehrer: “Warum reden Sie nicht klarer mit den Kindern? Unser Bub ist doch nicht auf den Kopf gefallen. Warum reden Sie nicht deutlicher mit den Schülern? Unser Bub ist doch nicht minderbemittelt. Warum reden Sie nicht verständlicher mit der Klasse? Unser Bub ist doch nicht schwer von Begriff. Wir haben einige Schwierigkeiten mit Ihrer Didaktik. Wir haben manche Probleme mit Ihrer Methodik. Wir hab­en erhebliche Zweifel an Ihrer Pädagogik. Muss nicht Klarheit und Deutlichkeit und Verständlichkeit die wichtigste Forderung sein?”

So fragen besorgte Eltern - und so fragen besorgte Jünger. Sie sehen Menschen, die in die Schule Jesu gehen. Am See Genezareth sitzen sie scharenweise zu Füßen des Meisters. Lernwillig und fleißig sind sie, auch pünktlich und ordentlich, nichts wird ihnen zu viel. Dennoch stellen die Jünger fest: Die Leute lesen, aber sie verstehen nicht. Die Leute hören, aber sie kapieren nicht. Die Leute lernen, aber es bleibt nichts hängen. So sagen die Jünger zueinander, und dann sagen sie es miteinander Jesus: “Warum redest du nicht klarer und deutlicher und verständlicher? Die Rabbinen verwenden in ihrem Unterricht auch Gleichnisse, um die Wahrheit zu verdeutlichen. Aber mit deinen Bildreden wird Wahrheit geradezu verschleiert. Wir können mit dieser Didaktik wenig anfangen. Wir können mit dieser Methodik nicht arbeiten. Wir können mit dieser Pädagogik nicht weiterkommen. Muss nicht Klarheit und Deutlichkeit und Verständlichkeit die wichtigste Forderung sein?”

So fragen besorgte Jünger - und so fragen auch besorgte Christen. Sie sehen Leute, die in den Konfirmandenunterricht, in die Bibelstunde, in den Gottesdienst gehen. An Lernwillen, Fleiß und Pünktlichkeit fehlt es nicht. Dennoch bleibt ihnen vieles unverständlich. Dennoch geht ihnen kein Licht auf. Dennoch steigen sie nicht durch. So sagen die Christen unterein­ander, und dann sagen sie es gegeneinander: “Warum wird nicht klarer gesprochen? Warum wird nicht deutlicher gelehrt? Warum wird nicht verständlicher gepredigt? Gleichnisse sollen aufschließen, nicht zuschließen. Bildreden sollen erhellen, nicht verdunkeln. Rätselworte sollen enthüllen, nicht verhüllen. Wir brauchen neue didaktische, methodische und pädagogische Gesichtspunkte. Muss nicht Klarheit und Deutlichkeit und Verständlichkeit die wichtigste Forderung sein, wenn es um die Wahrheit geht?”

Jesus stellt sich dieser Frage. Er ist nicht nur für die Ja-Sager, sondern auch für die Warum-Frager da. Jesus weicht nicht aus. Er ist nicht nur für die Gewissen, sondern auch für die Zweifler zuständig. Jesus gibt Antwort.

Jesus ist nicht nur für die Ja-Sager, sondern auch für die Warum-Frager da.

Und wer auch seine Schwierigkeiten mit diesem Glauben hat, und wer auch seine Probleme mit diesen Wahrheiten hat, und wer auch seine erheblichen Zweifel an diesen Glaubenswahrheiten anmeldet, der höre genau hin: Jesu Wahrheit wird für den klar, deutlich und verständlich, der sie praktiziert, der sie multipliziert und der sie differenziert.

1. Jesu Wahrheit praktizieren

Ein Physikprofessor kann seinen Studenten eine elektrische Ladung vorführen. Er nimmt eine Leidenflasche und setzt sie unter Strom. Dann wird die Ladung für das Auge sichtbar. Ein Physikprofessor kann Elektrizität demonstrier­en.

Oder ein Fremdenführer kann seinen Gästen ein städtisches Quartier erklären. Er lädt sie in einen Bus und fährt durch die Straßen. Dann wird das Quartier für das Auge sichtbar. Ein Fremdenführer kann Städtebau demonstrieren.

Oder ein Fernsehreporter kann seinen Zuschauern ein fußballerisches Spektakel begreiflich machen. Er lässt die Kameras über den Platz schwenken und fängt die Fouls ein. Dann wird das Gerangel für das Auge sichtbar. Ein Fernsehreporter kann Fußball demonstrieren.

Jesus kann das Reich Gottes so nicht vorführen wie Elektrizität. Jesus kann das Himmelreich so nicht erklären wie den Städtebau. Jesus kann den Glaub­en so nicht begreiflich machen wie die Fußballregeln. Jesus kann seine Wahrheit überhaupt nicht demonstrieren, weil sie praktiziert sein will. Nur wer sich engagiert, kapiert. Zuschauer begreifen nichts. Nur wer versucht, versteht. Zuschauer lernen nichts. Nur wer einsteigt, steigt durch. Zuschauer bekommen nichts mit.

Nur wer einsteigt, steigt durch. Zuschauer bekommen nichts mit.

Es ist auffallend, wieviele von ferne zuschauen. Sie kommen mir wie Leute vor, die den Kunstgenuss bei einer Schallplatte auf das Betrachten der Rillen beschränken. Die Platte jedoch will gespielt sein, wenn die Melodie aufklingen soll. Es ist auffallend, wieviele von ferne kritisieren. Die kommen mir wie die Leute vor, die Matthias Claudius, der Wandsbecker Bote, in seinem silbernen ABC gemeint hat: “Vor Kritikastern hüte dich, wer Pech angreift, besudelt sich.” Jesu Wahrheit lässt sich von uns nicht kritisieren. Es ist auffallend, wieviel von ferne diskutieren. Sie kommen mir wie Leute vor, die seit Jahr und Tag an Christus herumlaborieren und herumspintisieren und die immer tiefer in den Wust von Erwägungen und Erörterungen versinken. Ein Fingerbreit realer Gehorsam ist mehr wert als 1000 Kilometer Diskussion über ihn. “So jemand meinen Willen tun will, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei oder nicht.” Das heißt doch: So jemand nicht zuschauen, kritisieren oder diskutieren, sondern seine Wahrheit praktizieren will, der wird Klarheit erhalten.

Wenn also Jesus sagt: “Betet ohne Unterlass!”, dann geht es nicht darum, nach einem funktionstüchtigen Satelliten Ausschau zu halten, der meine Wünsche auch tatsächlich zum Himmel überspielen könnte. Es geht darum, die Hände zu falten und vor ihm unser so beschwertes und belastetes Herz auszuschütten. Wenn Jesus sagt: “Suchet in der Schrift!”, dann geht es nicht darum, die Bibel nach Sagen und Legenden und Gemeinbildungen auseinanderzudividieren und sie nach Wert und Unwert einzutaxieren. Es geht darum, sie als Brief Gottes an mich zu lesen, der eine persönliche Botschaft enthält. Wenn Jesus sagt: “Liebe deinen Nächsten!”, dann geht es nicht darum, Untersuchungen anzustellen, ob der unsympathische und widerliche Kollege solche Sympathie überhaupt verdient hat. Es geht darum, auch ihm jene Liebe weiterzuspiegeln, die mir von Gott widerfahren ist. Jesu Wahrheit praktizieren, und:

2. Jesu Wahrheit multiplizieren

Jesus sagt es so: “Wer da hat, dem wird gegeben. Wer da nicht hat, dem wird auch genommen, was er hat.” Das klingt sehr kapitalistisch und erinnert an den so­genannten Mehrwert in Karl Marx Theorie, dass eben der Kapitalkräftige große Gewinne mache und der Kapitalschwache bankrott gehe. “Wer da hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird genommen, was er hat.” Das klingt sehr modern und erinnert an die sogenannte Schere in der heutigen Weltwirtschaft, dass eben Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden. “Wer da hat, dem wird gegeben, wer da nicht hat, dem wird genommen.” Das klingt sehr angstmachend und erinnert an die sogenannte Prädestinationslehre, dass eben doch alles so kommt, wie es kommen muss.

Aber auch wenn es so klingt, liebe Freunde, gemeint ist etwas ganz anderes. Jesus will nicht sagen, dass das religiöse As immer mehr Fortschritte in der Wahrheit macht, während die religiöse Niete eben ein hoffnungsloser Fall ist. Jesus will nicht ausdrücken, dass der fromme Typ sich zum Heiligen fortentwickelt, während der gottlose Kerl sich zum Beelzebub mausert. Jesus will nicht feststellen, dass die einen zu Engeln und die andern zu Teufeln bestimmt sind. Jesus erläutert ganz anders: Glaubenserkenntnis wächst in der Ausübung des Glaubens. Glaubenserkenntnis gedeiht in der Praxis des Glaubens. Glaubenserkenntnis reift im Vollzug des Glaubens. Wer ständig die Hände faltet, wird immer deutlicher Jesu Stimme vernehmen. Wer ständig die Bibel aufschlägt, wird immer klarer die Weisungen Gottes vernehmen. Wer ständig in der Liebe bleibt, wird immer eindeutiger Gottes Liebe erfahren. Wer also nicht nur einmal praktiziert, sondern wer die Wahrheit multipliziert, der kapiert immer mehr.

Es ist nicht so, dass wir in unserer Wahrheitserkenntnis ein für allemal festgelegt wären. Zwar wird dies immer wieder behauptet. Die einen sprechen von der Erbanlage, die wir über die Gene mitbekommen hätten und uns dirigiert. Die andern sprechen von Milieu, das uns präge und festlege. Und die Dritten kommen von der Verhaltensforschung und billigen uns nur einen begrenzten Spielraum zu. Alle lassen den Mensch nicht mehr Mensch sein, sondern machen aus ihm eine Marionette, ein Produkt, ein Ergebnis. Kein Wunder, dass dieser Mensch dann Computer schafft, weil er selbst nur noch ein Welt-Computer-Ergebnis ist. Jesus aber lässt uns Mensch sein und traut uns zu, dass wir gewisse Schritte des Glaubens tun können. Wer Glaube wagt, dem werden die Augen immer größer werden über einen Herrn, “der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet.” Wer seinen Willen tut, der wird aus dem Staunen nicht herauskommen über einen guten Hirten, “der dich wohl weiß zu bewirten, der dich liebet und dich kennt und bei deinem Namen nennt”. Wer Wahrheit multipliziert, der wird den Mund nicht mehr halten können über diesem wunderbaren König: “Er ist Gott, Zebaoth, er nur ist zu loben, hier und ewig droben.”

3. Jesu Wahrheit differenzieren

Ein ernstes Wort schließt die Gedankenkette ab. “Mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht.” Wenn die Sonne scheint, scheint sie über alle. Wenn der Regen fällt, fällt er über alle. Wenn die Nacht hereinbricht, bricht sie über alle herein. Bei Jesu Wahrheit ist das anders. Wenn er predigt, sind nicht alle betroffen. Wenn er verkündigt, sind nicht alle getroffen. Wenn er das Heil ausruft, sind nicht alle angesprochen. Gewiss ist das Evangelium an alle adressiert, aber wirksam wird es nur bei denen, die es annehmen. So kommt es doch am Ende zu dem, was Jesaja gewissermaßen als die Rückseite der frohen Botschaft formuliert hat: “Dieses Volkes Herz ist verstockt.” Jesus differenziert zwischen denen, die ihn aufnehmen und die ihn ablehnen, zwischen denen, die sich ihm öffnen und die sich verschließen, zwischen denen, die mit ihm sind und ohne ihn sind. Wer sich auf Jesus und seine Wahrheit nicht einlassen will, entscheidet sich nicht etwa dafür, dass er das Heil nur von ferne oder in beschränktem Umfang zu Gesicht bekommt, er sieht gar nichts. Davor müssen wir bewahrt bleiben.

Eine bewegende Szene zum Schluss, die Alexander Solschenizyn in seinem meisterlichen Buch “Der erste Kreis der Hölle” schildert. Sie handelt in einem besonderen Straflager Russlands, wo Intellektuelle interniert sind. All diese Wissenschaftler, Techniker, Mathematiker sind weltanschaulich durch das unerhörte, sinnlose, kaum auszusagende Leiden völlig nihilistisch geworden. Es gibt für sie überhaupt nichts Gewisses, Gültiges, Ewiges mehr. Dann entschließt sich einer von ihnen, Merschin, einen aus dem Volk zu fragen, einen von jenen Häftlingen, die nur zum Schippen im Lager sind. Sie treffen sich unter dem Winkel der Treppe. Und während die Holzpantoffeln der andern über sie hinwegpoltern, stellt Nerschin, der Kluge, an Spiridon, den Einfachen, die entscheidende Frage: “Sag mal, du Wrack von einem Mensch, gibt es doch etwas Wesentliches, etwas, von dem alles andere seinen Sinn hat?” Und zu seinem Erstaunen erwidert der Schipper fröhlich und sofort: “Die Schäferhunde haben recht und die Menschenfresser haben unrecht!”

Will sagen: Ein Hirte lebt, eine Treue waltet, eine Schutzmacht ist da. Auch in Ihrem Winkel gilt das: Er lebt! Der einfache Mann hat selbst im tiefsten Dunkel die Wahrheit gefunden. Doch, die Wahrheit lässt sich finden, klar, deutlich, verständlich, wenn sie praktiziert, multipliziert und differenziert wird. Fangen wir endlich an, heute.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]