Gebot und Angebot
Der junge Mann wollte leben, liebe Gemeinde, er wollte ganz leben, wirklich leben, endlich leben. Er wusste: Ein arbeitsreiches Leben bringt es nicht. Nur schlafen, arbeiten, schlafen, arbeiten, und dazwischen ein Bissen Brot, das ist der Rhythmus einer Ameise. Hermann Kasack war es, der die Sinnlosigkeit der Arbeit in seinem Buch "Die Stadt hinterm Strom" beschrieb: In dieser Stadt der Toten tun alle dasselbe wie im Leben. Auf dem Markt wird bis zum Einbruch der Nacht gehandelt und getauscht und siehe, am Ende landen alle Dinge wieder beim ursprünglichen Besitzer. Vor dem Friseurladen steht eine Schlange von Wartenden. Wer frisch rasiert ist, stellt sich gleich hinten wieder an. Zwei Riesenfabriken arbeiten in Schichten. Die eine macht aus Staub Kunststeine. Das Rohmaterial stammt von der zweiten Fabrik, die Kunststeine zu Staub zermalmt. In der Kantine wird endlos und gierig gegessen, aber keiner wird satt. Von Arbeit wird man tatsächlich nicht satt. Ein arbeitsreiches Leben bringt es nicht.
Der junge Mann wusste weiter: Ein strebsames Leben bringt es auch nicht. Trotz seiner jungen Jahre stand er oben auf der Karriereleiter. Mitglied des Hohen Rates war er, Mitredender in der höchsten kirchlichen und weltlichen Behörde, Oberkirchenrat und Ministerialrat zugleich. Karriere, Ansehen, Machtbefugnisse bringen Befriedigung, aber Erfüllung? Albert Einstein war es, der formulierte:"Die banalen Ziele menschlichen Strebens: Besitz, äußerer Erfolg, Luxus erscheinen mir seit meinen Jugendjahren verächtlich." Der Prediger im Alten Testament hatte recht, wenn er unterstrich: Alles ist eitel, das heißt alles ist nichtig, vergänglich und führt zu keinem erhofften Ziel. Ein strebsames Leben bringt es nicht.
Und der junge Mann wusste: Seine Flucht aus dem Leben bringt es erst recht nicht. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, das gegenwärtig ohne Visum die Grenzen überschreitet, erzeugt Fluchtgedanken. Nur weg von diesem sinnlosen Einerlei ins Vergnügen, in die Diskotheken, in die sehr frühen Ehen, in den Alkohol, in die harten Drogen und ganz am Ende in den Selbstmord. Aber das kann doch nicht der Sinn des Lebens sein, es zu zerstören. André Malraux war es, der ausrief: "Niemand lebt davon, dass er das Leben verneint." Wir leben doch nicht, um nicht zu leben. Die Flucht aus dem Leben bringt es nicht.
Der junge Mann will kein arbeitsreiches Leben und kein strebsames Leben und keine Flucht aus dem Leben, sondern ein ewiges Leben. "Meister, was soll ich tun, dass ich das ewige Leben habe?" Er will nicht Arbeit, Karriere, Flucht, sondern Ewigkeit, tiefe, tiefe Ewigkeit. Das ist mehr als nur eine Lebensversicherung für das Jenseits. Er will ein dauerhaftes, den Tod überwindendes und die Vergänglichkeit hinter sich lassendes Leben. Er will ein sinnvolles und erfülltes Leben. Er will leben, ganz leben, wirklich leben, endlich leben, ewig leben. Und das wollen wir doch auch. Ein Leben, in dem der Tod sein Büttelrecht verwirkt hat. Ein Leben, das von den Wogen des Hasses nicht mehr überspült wird. Ein Leben, frei von Angst und Verzweiflung. Ein Leben sub coelo dei, unter dem geöffneten Himmel Gottes. Ein Leben, prall gefüllt mit dem Sauerstoff der Hoffnung. Was sollen wir tun, dass wir das ewige Leben haben?
Jesu Antwort ist verblüffend einfach. Wer von ihm aufregende Neuigkeiten oder sensationelle Auskünfte erwartet, ist ernüchtert und enttäuscht. Jesus verweist nämlich ganz schlicht und ergreifend auf die Zehn Gebote. Er verlangt keine Spitzenleistung in puncto Frömmigkeit. Er will kein Übersoll in Sachen Glauben. Jesus sagt: Halte die Gebote Gottes. Halte die Gebote Gottes ganz. Halte dich ganz an Gottes Angebot.
1. Halte die Gebote Gottes
Dem jungen Mann war dieser Jesus als Gesetzesbrecher bekannt. Immer wieder hatte sich sein Kollegium mit dem Fall Jesus von Nazareth zu beschäftigen. Einmal hieß der Tagesordnungspunkt "Verletzung des Sabbatgebotes durch den Wanderprediger Jesus", und das andere Mal "Übertretung des 1. Gebots durch den Nazarener". In seinen Augen hatte dieser Jesus die Gebote seiner Zeit angeglichen und modernisiert. Jesus aber sagte: Halte die Gebote. Ich habe nichts annulliert und nichts modernisiert. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist, ich aber sage euch. Ich habe restauriert und sogar radikalisiert. Die Gebote Gottes sind in Geltung. Die Gebote Gottes sind der Mörtel unseres Lebens. Der Dekalog ist der Mörtel unserer Gesellschaft. Wenn er zerbröckelt, gibt es keinen Halt mehr im Leben. Wenn er aufgelöst wird, ist unsere Gesellschaft am Ende. Mit ein paar Parolen zur Mitmenschlichkeit ist nichts mehr zu flicken. Deshalb halte die Gebote.
Der Dekalog ist der Mörtel unserer Gesellschaft. Wenn er zerbröckelt,ist unsere Gesellschaft am Ende.
Der junge Mann setzt nach und fragt: welche? Jesus antwortet: Alle, eins bis zehn, die beiden Tafeln sind in Geltung - auch das 5. Gebot: Du sollst nicht töten. Gott ist ein Liebhaber und Freund des Lebens. Ihm gehört das Leben und er schenkt es weiter. Deshalb ist Mord nicht nur Raub am Menschen, sondern Raub an Gottes Eigentum. Mörder sind Gottesräuber, das ist die Tiefe ihres Verbrechens.
Unseren jungen Beamten trifft das nicht. Seine Personalakten sind ohne roten Bemerkungen. Und auch wir könnten beruhigt auf unser Vorstrafenregister verweisen, wenn, ja wenn Jesus nicht schon früher eine Erläuterung, eine Art Ausführungsbestimmung hinzugefügt hätte, die besagt - so nachzulesen in der Bergpredigt -, schon der Zorn gehört vor das Amtsgericht. Und wer zum Bruder Rache sagt, gehört vor das Landgericht. Und wer den andern in ehrenrühriger Weise beschimpft und ihn als Gottloser abmarktet, der gehört in die Gehenna, die Feuersglut am Ende der Geschichte.
Jesus will sagen: Man kann nicht nur mit der Maschinenpistole und der Neutronenbombe töten, sondern auch mit der Zunge, und mit dem Federhalter. Das 5. Gebot ist in Köln grässlich missachtet worden.*) Wir alle leiden darunter. Das 5. Gebot wird in vielen Gesprächen und in vielen Briefen brutal überfahren. Wir haben die Folgen zu tragen. Im Lichtkegel dieses Gebots treten unsere Opfer aus dem Dunkel des Vergehens auf: Alle die Menschen, die wir mit Worten getötet oder mit Schlagworten erschlagen haben. Alle die Menschen, die wir mit hässlichen und kalten Blicken erledigt haben. Alle die Menschen, die wir gar nicht haben werden, die Kinder, die wir nicht auf dem Kissen, wohl aber auf dem Gewissen haben. Haltet die Gebote Gottes.
Unser junger Freund hält dem allem stand. Selbst in diesem Lichtschein sieht er keinen Fleck auf seiner weißen Weste: "Das habe ich alles gehalten. Was fehlt mir noch?" Jesus sagt das Zweite:
2. Halte die Gebote Gottes ganz
Wörtlich fährt Jesus fort: "Gehe, verkaufe, was du hast, gib's den Armen und folge mir nach." Jetzt zuckt der Mann zusammen. Geht es hier um einen Kurs für Fortgeschrittene? Ist das die Doktorarbeit für ganz Fromme? Fügt Jesus ein 11. Gebot für hervorragende Christen an? Damit wäre allem Bisherigen eine besondere Leistung hinzugefügt, eine erhebliche Leistung, die der Beamte nicht übers Herz bringt. Verlangt Jesus dies wirklich: alles verkaufen, alles hergeben, alles dahinten lassen?
Von manchen hat er es verlangt. Von Matthäus, von Markus und Lukas, und von Petrus Waldus und Franz von Assisi auch. Manche trifft der Ruf, der solchen Verzicht einschließt. Trotzdem ist es kein weiteres Gesetz. Wollte jemand das hier Verlangte wirklich leisten und wäre es ihm nichts weiter als eine religiöse Pflichtübung, dann wäre er keinen Schritt weiter. "Und wenn ich all meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wär's nichts nütze", kommentiert Paulus. Ein Gesetz, ein 11. Gebot, eine besondere Leistung ist es nicht, aber was ist es dann? Ganz einfach ein Test. Er soll nichts weiteres tun als das 1. Gebot einmal ganz halten, nämlich Gott über alle Dinge fürchten, lieben und ihm vertrauen. Jesus hat einmal beim 1. Gebot getestet, wie es denn mit dem steht, was eigentlich selbstverständlich sein müsste. Und eben an diesem Test scheitert er. Eines fehlt ihm, alles fehlt ihm.
Das ist der Test auch für uns. Nicht darauf kommt es an, ob wir alles hergeben. Nicht jeder ist Franz von Assisi oder Petrus Waldus. Aber wir werden danach geprüft, ob Jesus bei uns nur an der Peripherie unseres Lebens eine Rolle spielt oder im Zentrum. Gott will nicht nur eine registrierbare Loyalität, sondern einen Gehorsam, der bis in die feinsten Verästelungen der Motive hinabreicht und Gott ebenso ungeteilt dient wie Gott selbst in sich ungeteilt ist. Ihn über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Jesus muss bei uns über alles gehen, über Beruf, über Ansehen, über Lohnstreifen, über Besitz.
Denken Sie bitte einen Augenblick an das Liebste in Ihrem Leben. Denken Sie vielleicht an Ihre Frau, an Ihre Freunde, an Ihr Kind. Denken Sie an Ihre Gesundheit, an Ihre Kraft, Ihren Ruf. Denken Sie an Ihren Schmuck, an Ihren Garten, Ihr Haus. Könnten Sie es um Jesu willen lassen? Können Sie es? Wenn nicht, dann sind Sie geteilt und haben kein ungeteiltes Herz für ihn. Jesus will nur solche, die ganz sein sind oder es ganz sein lassen. Haltet die Gebote Gottes ganz.
Unser Freund geht, geschlagen, betrübt, denn er hatte viele Güter, denn er liebte seine Speziallaster, denn er mochte seine Karriere nicht aufs Spiel setzen, denn er meinte, auf Menschen Rücksichten zu nehmen. Weil ihm dies eine fehlte, fehlte ihm alles. Die Jünger sind betroffen. Sie fragen zurück: "Ja, wer kann denn dann das ewige Leben haben?" Jesus sagt ein Letztes:
3. Halte dich ganz an Gottes Angebot
Das ewige Leben zu erlangen ist grundsätzlich menschenunmöglich. Wir wollen immer wieder selbst in den Himmel steigen. Die Religionen, Ideologien und Weltanschauungen zeigen uns Leitern, die angeblich ganz hinaufreichen. Ich sah einen Malermeister, wie er an einem fünfstöckigen Haus die Dachrinne streichen musste. Er hatte drei Leitern aufeinandergebunden um hinaufzugelangen. Wir können 10, 100, 1000 und mehr Leitern aufeinanderbinden, den Himmel erreichen wir nicht. Bei den Menschen ist unmöglich, das ist die Schlussbilanz einer Theologie des Gesetzes. Aber bei Gott sind alle Dinge möglich, das ist die Zusammenfassung des Evangeliums. Hier wird uns eine Leiter gezeigt, die vom Himmel zur Erde herabreicht. Jesus ist heruntergestiegen und hat seinen Fuß auf diese Erde gesetzt. Er ging zu den Gottsuchern und sagte ihnen, dass Gott Menschensucher sei. Er ging zu den Lebenssuchern und sagte ihnen: Ich bin das Leben. Er ging zu den Glücksuchern und sagte ihnen: Ich verkündige euch große Freude. Er ging zu allen und sagte: Kommet her zu mir! Damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Das ist kein Anlauf, kein Aufschwung, keine Anstrengung, sondern sein Angebot. Er will uns das schenken, dies dauerhafte, den Tod überwindende, die Vergänglichkeit hinter sich lassende Leben, wenn wir nur zwei leere Hände haben, um es zu fassen. Der junge Mann hatte nur eine Hand frei, mit der andern hielt er sich an seinem Besitz fest.
Jesus ist Gottes Angebot. Ewigkeit leuchtet in die Zeit hell herein, "dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine". Klein ist unser Glaube. Groß ist sein Vertrauen. Klein ist unsere Frömmigkeit. Groß ist seine Gerechtigkeit. Klein ist unsere Sorge. Groß ist seine Fürsorge. Klein ist unsere Ehre. Groß ist sein Ruhm. Klein ist unsere Person. Groß ist sein Name.
Amen
---- [Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]
*) Zwei Wochen vor der Predigt, am 5. September 1977, wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln von der Terrorgruppe RAF entführt. Dabei wurden sein Fahrer und drei Polizeibeamte ermordet.