Die Kantate von Philippi findet nicht im Konzertsaal, sondern im Gefängnis statt. Aber weil es so viel Gefängnisse gibt, in denen wir leben und leiden, tun wir gut daran, auf diese Kantate zu hören. Wer genau hinhört, der vernimmt die alte Leier, den hellen Ton und schließlich das neue Lied. - Predigt zum Sonntag Kantate aus der Stiftskirche Stuttgart


Kantate in Philippi, liebe Gemeinde, selbstredend nicht in einem altehrwürdigen Gotteshaus. Die Musikfreunde dieser römischen Veteranenkolonie gehen dazu auch nicht in einen Konzertsaal der städtischen Liederhalle. Die Musikliebhaber dieses römischen Bildungszentrums marschieren dazu auch nicht in einen Weißen Saal des Neuen Schlosses. Die Musikfans dieser römischen Kunstme­tropole pilgern dazu nicht in ein großes Haus der mazedonischen Staatstheater. Diese Kantate findet im Gefängnis statt. Diese geistliche Musik schallt aus vergitterten Fenstern. Dieses Gloria Patri für zwei Männerstimmen schallt durch Zellengänge und schwedische Gardinen. “Kantate im Knast”, so könnte eine flott aufgemachte Boulevardzeitung diesen Bericht am Kiosk verkaufen. Und weil diese Aufführung in Philippi solch nachhaltigen Eindruck hinterließ, wurde sie immer wieder in Gefängnissen gesungen und will bis heute in Gefängnissen gesungen werden. Dazu braucht es gar keine antike Haftanstalt, kein mittelalterliches Verlies, kein modernes Stammheim. Da ist die chic eingerichtete Wohnung, in der sich Ehepartner nur noch streiten, wie ein Gefängnis. Da ist der gut bezahlte Arbeitsplatz, an dem sich Kollegen nur mit Ellenbogen begegnen, wie ein Gefängnis. Da ist das blitzsau­bere Krankenzimmer, in dem der Operierte noch Wochen liegen muss, wie ein Gefängnis. Da ist die kleine Altenstube, in die einen die Kinder abgeschoben haben, wie ein Gefängnis. Weil es so viel Gefängnisse gibt, in denen wir leben und leiden, deshalb tun wir gut daran, auf diese Kantate zu hören. Und wer genau hinhört, der vernimmt die alte Leier, den hellen Ton und schließlich das neue Lied.

1. Die alte Leier

Im Polizeigefängnis in Philippi ist es Abend. Der leitende Vollzugsbeamte mit dem toten Paragraphengesicht macht die Türen dicht. Feierabend, endlich Feierabend. Aber dann schleppen die Gendarmen noch zwei Männer an. Mit blutenden Köpfen und zerrissenen Kleidern machen sie keinen vertrauenswürdigen Eindruck. Ärgerlich und misslaunisch werden sie registriert. Name? Paulus und Silas. Geburtsort? Tarsus und Antiochien. Beruf? Ohne feste Anstellung. Delikt? Ruhestörung, Fanatismus, Landfriedensbruch. “Also schwere Jungs”, folgert der Mann vom Fach und legt die Handschellen an. Wer so viel auf dem Kerbholz hat, braucht verschärfte Haftbedingungen. Er stößt die Arrestanten die Treppe hinunter, weist ihnen das letzte Loch zu, spannt ihre Füße noch sicherheitshalber in den Stock und verriegelt die Tür. Dort sollen sie sich eines Besseren besinnen, und sie besinnen sich.

Ruhestörung, wegen Ruhestörung sitzen wir hier? Jeden Morgen auf unserem Weg zur Gebetsstunde rannte uns dieses Weibsbild nach. Aus Leibeskräften schrie sie: “Diese Männer sind Knechte des allerhöchsten Gottes.” Anwohner rissen die Fenster auf und Passanten blieben bei diesem Heidenspektakel stehen. Wer hat denn nun die Ruhe gestört? Und Fanatismus, wegen Fanatismus hocken wir hier? Die Bürger der Stadt gingen auf die Palme, als wir dieser okkult besetzten Frau die Teufel austrieben. Sie war ja als Hellseherin, Kartenlegerin, Astrologin für ein paar gerissene Geschäftsleute, bei denen sie angestellt war, eine regelrechte Goldgrube, die nun mit einem Schlag geschlossen war. Wutentbrannt nahmen sie uns fest und zerrten uns durch die Straßen. Wer ist denn nun fanatisch? Und Landfriedensbruch, wegen Landfriedensbruch buchten sie uns ein? Die ganze Stadt wurde mobil gemacht. Eine keineswegs gewaltfreie Demo lief auf dem Marktplatz ab. Recht und Gerechtigkeit war selbst für den schnell herbeigeschafften Kadi nicht mehr durchzusetzen. “Dreckjuden!”, schrie der Mob, der mit eigener Lynchjustiz nicht lange fackelte und uns die Kleider vom Leibe riss und die Haut gerbte. Wer hat denn nun den Landfrieden gebrochen?

Paulus und Silas besinnen sich wirklich, aber sie besinnen sich nicht eines Besser­en, sondern des Besseren. Ihrem Herrn und Meister ist es auch nicht anders ergangen. Jesus sah sich genau den gleichen Anschuld­igungen gegenüber. Als er sagte: “Folge mir!” schrien sie: “Ruhestörung!”. Als er sagte: “Kehret um!” schrien sie “Fanatismus!”. Als er sagte: “Ich bin der König!” schrien sie: “Aufruhr!”. Am Schluss besaß er nur noch einen blutenden Kopf und zerschlissene Kleider. Jesus wurde als Ruhestörer, Fanatiker, Aufrührer zum Tode verurteilt. Paulus und Silas kommen über ihren Meister nicht hinaus.

Niemand kommt über ihn hinaus. Auch wenn es in unseren Breitengraden noch leiser und verhaltener klingt, so ist es doch die gleiche Melodie. Wenn ein junger Mann, wie kürzlich passiert, am Sonntagmorgen zum Gottesdienstbesuch aufsteht und dann von den andern Familien­mitgliedern zu hören bekommt: Muss denn diese Ruhestörung am Sonntagmorgen sein? Oder wenn ein junger Schüler, wie kürzlich passiert, in der großen Pause nicht auf den Schulhof, sondern zum Schülergebetskreis geht und dann von den Schulkameraden hören muss: Christen sind wir auch, aber muss man denn gleich so fanatisch sein? Oder wenn ein Richter, wie kürzlich berichtet, sich in einem offenen Brief für das ungeborene Leben einsetzte und dann durch die Presse geschmiert wurde: Unruhestifter sind unerwünscht. Es ist immer das alte Lied, die alte Leier, die wir zu hören bekommen: Christen stören die Ruhe. Christen machen nur Aufruhr. Die alte Leier.

2. Der helle Ton

Im Polizeigefängnis in Philippi ist es Nacht. Längst sind die Lichter gelöscht. Es geht auf Mitternacht zu. Da werden die Häftlinge plötzlich geweckt. Wegen einem Geräusch fahren sie aus dem Schlaf hoch und richten sich auf ihren Pritsch­en auf. Was war das für ein ungewöhnlicher Ton in diesem Zellenbau? Das Hallen der Schritte, das Drehen der Schlüssel, das Klirren der Ketten, das Knarren der Türen, das Brüllen der Wächter, das Klatschen der Peitschen, das Stöhnen der Ärmsten, das alles war ihnen wohl vertraut, aber dieses Singen von Männern? Das muss von draußen kommen: fröhliche, feuchtfröhliche Spätheimkehrer von der Kneipe. Das muss von droben kommen: selige, weinselige Aufpasser beim Kartenspiel. Aber der Gesang kommt von drinnen. Alte Kunden orten dies an der Zellenwand. Ein Duett wird gesungen. Ein Wohlklang geht durch die Räume. Ein Nachtkonzert erfüllt den Trakt. Auch wenn ihre Sperrsitze hinter abgesperrten Türen nicht die beste Akustik bieten, so tut ihnen dieses Lob Gottes wohl. Das Loblied hat immer stärkenden Charakter. Der Lobgesang hat immer einen tröstenden Aspekt. Der Lobpreis ist die Arznei für die kranke Seele.

Bei Paulus und Silas ist das Gotteslob der Cantus firmus, auf den sich alle andern Stimmen einstimmen müssen. Natürlich schmerzt die schmähliche Behandlung durch den Mob auf der Straße; ihre Rücken waren eine einzige Wunde. Natürlich drückte die verschärfte Haft im Bunker; ihre Füße waren schmerzhaft gepflockt. Natürlich bedrängt die ungewisse Zukunft als Verurteilte ohne Urteil; das Gefängnis ist ausbruchssicher. Aber weil die beiden Apostel sich jetzt nicht nach vorne oder hinten, sondern nach oben orientieren, sind sie des Lobes voll. Sie vernehmen nämlich von oben her den lebendigen Gott, der am Ostermorgen den hellen Ton in unserer Welt angestimmt hat. Er übertönt die Hasstiraden der Feinde. Er übertönt die Trauergesänge der Freunde. Er schwillt zu solch mächtigem Crescendo an, dass kein Tauber es mehr überhören kann: “Ich lebe und ihr sollt auch leben.” Und wenn ihr gelyncht werdet, ihr sollt leben. Und wenn ihr eingelocht werdet, ihr sollt leben. Und wenn ihr gevierteilt werdet, ihr sollt leben. Auch die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages.

Diesen hellen Ton singen die gebeutelten Missionare nach und loben damit Gott. Loben heißt nachsingen. Loben heißt mitsingen. Loben heißt einstimmen in den Jubel: “Gott hat es also wohlbedacht, und alles, alles recht gemacht, gebt unserem Gott die Ehre.” Andere haben es Paulus und Silas nachge­macht. Luther hat mitgemacht, als er schrieb: “Alle rechtschaffenen Knechte haben den Herrn nicht zuerst angerufen, sondern gelobt, denn niemand wird vom Bösen dadurch befreit, dass er auf das Übel, sondern dass er auf die Macht Gottes schaut. Versuche es und greif zum Lob Gottes, wenn dir nicht wohl zumute ist.” Jetzt müssen wir die Probe aufs Exempel machen. Einmal nicht herum-, sondern hinaufhören. Der helle Ton ist nicht verstummt. Es gibt keinen Platz, der im Hörschatten läge: “Ich lebe, und ihr sollt auch leben.” Und wenn ihr leidet, ihr sollt leben. Und wenn ihr krank seid, ihr sollt leben. Und wenn ihr sterben müsst, ihr sollt leben. “Der Glaube ist wie der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.” Der helle Ton.

3. Das neue Lied

Im Polizeigefängnis von Philippi ist Morgen. Etwas Unvorstellbares läuft dort ab. Statt Wasser und Brot gibt es Kaffee und Kuchen. Statt kärglicher Ration gibt es Essen die Fülle. Statt Frühstück in der Zelle gibt es ein Fest beim Direktor. Die aus dem Bett getrommelten Beamten reiben noch verdutzt die Augen. Die aus den Zellen befreiten Häftlinge sehen sich noch fragend und zweifelnd um. Die aus dem Schlaf gerissenen Familienmitglieder hüllen sich fröstelnd in Decken. Aber mitten drin steht der strahlende Kerkermeister und freut sich wie ein Schneekönig, dass er zum Glauben gekommen ist. Alles hatte sich in wenigen Minuten abgespielt. Kurz nach Mitternacht warf ihn ein Erdstoß aus dem Bett. Auf dem schwankenden Fußboden kam er zu sich. Kopflos stürmte er durch die Gänge: lauter aufgesprungene Türen. Natürlich wusste er, dass kein schräger Vogel bei solcher Chance im Käfig hockenbleibt. Auch wenn ihn wegen höherer Gewalt keine direkte Schuld trifft, kostet ihn jede Gefangenenbefreiung seinen angesehenen Posten. Die ganze Karriere ist dahin. Dem Selbstmord nahe steht er in der Zelle der beiden Männer. Im Fackellicht erkennt er die Missionare und er erkennt sich selbst. Nicht diese bedauernswerten Gestalten, sondern er selbst ist verloren und bedarf eines Retters. Deshalb ruft er: “Was soll ich tun, dass ich gerettet werde?”

Messerscharf trifft er den alles entscheidenden Punkt. Das Evangelium ist kein Leitfaden für Asoziale. Das Evangelium ist keine Erziehungsfibel für Gesetzesübertreter. Das Evangelium ist keine Handreichung für Vorbe­strafte. Das Evangelium ist das Rettungsseil, das Gott in den trüben Strom der Zeit geworfen hat, um alle zu retten. Alle sollen erkennen, dass sie dieses Retters bedürfen, wenn sie nicht rettungslos untergehen wollen. Jesus ist der Retter. Such ihn! Fass ihn! Halt ihn! “Glaube an den Herrn, so wirst du und dein Haus selig.” Doch, so einfach ist das. Er bietet sich an wie damals in der Dienstwohnung des Direktors. Zuerst werden Rücken behandelt und Striemen verbunden. Dann findet nach erstaunlich kurzem Katechismusunterricht eine Taufe statt. Dann wird Kaffee gekocht, die Festtafel gerichtet, die Kerzen angezündet. Ein Fest gibt’s, dass der Bau noch einmal bebt. Alle schmecken, wie freundlich der Herr ist. Und durch die nicht mehr verschließbaren Zellentüren schallt das neue Lied: “Christ, der Retter ist da.” Das neue Lied ist das Rettungslied. Es nimmt den Jubel vorweg, der dann einmal aufklingt, wenn der Herr auch das Todesge­fängnis öffnen wird, wenn der Herr auch unseren Mund voll Lachens und Rühmens macht, wenn der Herr an seine letzte große Festtafel ruft und jeden singen lässt: “Der Herr hat Großes getan, der Herr hat Großes an uns getan. Des sind wir fröhlich.”

Liebe Freunde, mag die alte Leier weitergespielt werden. Der helle Ton ist nicht mehr zu überhören. Wir können das neue Lied singen. Deshalb nicht nur Kantate in Philippi, Kantate in Stuttgart.

Amen

[Predigtmanuskript nicht wortidentisch mit der Aufnahme]