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Johannes der Täufer sagt es werbend: Bereitet den Weg des Herrn! Ohne Straßenbau bleibt Weihnachten im Dreck stecken. Es geht um das Abräumen unserer hohen Einbildung, das Aufräumen unserer tiefen Sicherheit, das Wegräumen unserer krummen Tour. - Adventspredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Eine haarsträubende Geschichte, diese Bibelgeschichte. Eine unglaubliche Geschichte, diese Adventsgeschichte. Eine skandalöse Geschichte, diese Johannesgeschichte. Echt ein dicker Hund.

Da sitzen Leute in Jerusalem, gebeutelt von der Weltpolitik. Ein Statthalter Pontius Pilatus gibt die Rolle des knochenharten Besatzers. Deshalb warteten sie auf ein Wort der Liebe. Da sitzen die Leute in Jerusalem, getroffen von der Landespolitik. Ein Landesfürst Herodes nahm seine Landeskinder nach Strich und Faden aus. Deshalb warteten sie auf ein Wort des Trostes. Da sitzen Leute in Jerusalem, geschlagen von der Kirchenpolitik. Ein Hohepriester Kaiphas war ein schlauer und durchtriebener Fuchs. Deshalb warteten sie auf ein Wort der Hoffnung.

Und dann ging es wie ein Lauffeuer durch die Straßen: Das Wort ist da. Das Wort in der Wüste ist da. Das Wort in der Wüste durch Johannes ist da. Männer legten ihre Hämmer weg, Frauen packten ihre Wäsche beiseite, Kinder freuten sich auf den Familienausflug. Ein ganzer Zug bewegte sich Richtung Osten. Endlich standen sie vor diesem Prediger in der Wüste. Seltsam war sein Aufzug schon. Kamelhaartalar mit Leibriemen, ein echter Alternativer. Noch seltsamer war seine Nahrung: Heuschreck­en und wilder Honig, ein echter Öko. Aber am seltsamsten war seine Predigt, die damit begann: “Ihr Schlangenbrut, ihr Otternge­zücht, ihr Vipern!” Und wegen diesem Gotteswort haben wir uns aufgemacht? Und wegen diesem Donnerwetter sind wir in die Wüste marschiert? Und wegen dieser massiven Beleidigung stehlen wir uns die Zeit?

Die Enttäuschung war riesengroß, so wie sie bei uns auch wäre. Als Gebeutelte von dem, was in der Welt vorgeht, warten wir auf ein Wort der Liebe. Als Getroffene von dem, was sich im Lande abspielt, warten wir auf ein Wort des Trostes. Als Geschlagene von dem, was selbst in der Kirche möglich ist, warten wir auf ein Wort der Hoffnung. Dann begänne die Predigt nicht mit “liebe Gemeinde”, sondern mit “ihr Schlangenbrut, ihr Otterngezücht, ihr Vipern!” Und wegen diesem Gotteswort sind wir aufgestanden? Und wegen diesem Donnerwort sind wir in die Kirche marschiert? Und wegen dieser massiven Beleidigung stehlen wir uns die Zeit? Enttäuschte fragen sich, ob denn solch ein Primitiver aus der Epoche der Jäger und Sammler, ob denn solch ein Alternativer aus der Zeit Rousseauscher Hirtenromantik “Zurück zur Natur”, ob denn solch ein verrückter Faster unser Hinhören verdient?

Aber Johannes ist jemand ganz anderes. Der Vierfürst Herodes setzt ihn hinter Schloss und Riegel. Um seiner Botschaft willen hebt er selbst beim Richtschwert den Kopf hin. Das tut ein Starrkopf oder Dummkopf oder Feuerkopf nicht. Das tut nur einer, der mit dem Kopf durch unsere Betonwand der Gleichgültigkeit will: Ich kann nicht zusehen, wie man Heiligen Abend vorbereitet, Christbaum und Lebkuchen und Märklin-Eisenbahn, aber nicht die Ankunft des Herrn. Ich kann nicht hinhören, wie man alles erhofft, stille Stunden, freie Tage, ein g’führiger Schnee, aber nicht den König aller Könige. Ich kann nicht ausstehen, wie man alles vor dem Fest zusammenkehrt, aber nicht umkehrt zum wiederkom­menden Herrn. Johannes, der Grenzwächter zwischen altem und neuem Testament, sagt es werbend, bittend, dringend: Baut die Straße, führt die Trasse, machet Bahn. Ohne Erdbewegungen gibt es keinen Weg, ohne Planierarbeiten gibt es keine Verbindung, ohne Straßenbau bleibt Weihnachten im Dreck stecken. Bereitet den Weg des Herrn.

Johannes denkt konkret an das Abräumen unserer hohen Einbildung, an das Aufräumen unserer tiefen Sicherheit, an das Wegräumen unserer krummen Tour.

1. Unsere hohe Einbildung

… beruft sich auf den Satz: Wir sind doch Abrahams Kinder. Uns kann gar nichts passieren. Uns darf gar nichts passieren. Uns wird gar nichts passieren. Jeder Besuch Gottes wird selbstredend nur eitel Freude sein, denn wir sind Abrahams Stamm, wir sind Abrahams Enkel, wir sind Abrahams Erben.

In der Tat zeigt die Vererbungslehre, dass wir alle erblich stark belastet oder bereichert sind. Einer ist musikalisch. Auf den Tonleitern steigt er traumwandlerisch rauf und runter. Ganz die Mutter, sagen die Bekannten. Einer ist linkisch. Immer ist er etwas neben der Kapp und fällt mit seiner Unbeholfenheit auf. Ganz der Vater, sagen die Verwandten. Der dritte ist sportlich. Jeden Morgen turnt er seine Übungen vor dem offenen Fenster ab. Ganz der Großvater, sagen die Freunde. Wer seinen Stammbaum gründlich studiert, muss zugeben, dass viele vermeintlich originelle Züge nur vererbt sind.

Aber das Heil Gottes ist kein Erbgut. Man mag den frömmsten Vater haben, man mag seine selige Großmutter nicht vergessen, man mag den gottergebenen Urgroßvater in Ehren halten, ja man mag den Abraham als Ur-Ur-Urgroßvater benennen, das Heil kommt nicht über die Gene und geht nicht über die Gene. Wieviel Elternherzen sind deshalb wund, weil sie dem Sohn ein Sparbuch mitgaben, ein Grundstück vermachten, ein ganzes Haus vererben konnten, aber nicht den Glauben. Den ließ er wie ein sperriges Möbel zurück. Das Heil erbt niemand. Die Begegnung mit Gott muss jeder selber machen, ganz allein, ohne Beistand. Die Konfrontation mit Jesus muss jeder selber durchstehen, ganz allein, ohne Beihilfe. Die Entscheidung für oder gegen ihn muss jeder selber treffen.

Und dieses Zusammentreffen bahnt sich an. Der Besuch Jesu ist kein harmloses Weihnachtsbesüchlein der Schenktante, die um den 25. herum aufkreuzt und ihr Päckchen im Hausgang abstellt. Das Kommen Jesu ist keine vergnügliche Festtagseinladung des Freundes, der bei Kerzenschein und Räuchermännchen bei uns seinen Glühwein trinkt. Die Erscheinung Jesu ist eine böse Überraschung für alle eingebildeten Leute, denn er will Buße, das heißt Umkehr, eine Drehung um 180 Grad, eine Kehrtwendung der ganzen Existenz. Wir würden es in der Computersprache heute Neuprogrammierung unseres Wesens nennen. Die “bugs” müssen heraus, die Störelemente des alten Menschen, die nur dazwischenfunken und alles durcheinanderbringen. Die Speicher brauchen neue Informationen, die der Geist vermitteln kann. Nur Gott soll der Programmierer meines Lebens sein. Unsere hohe Einbildung muss weg.

2. Unsere tiefe Sicherheit

… trällert das Liedchen: “Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Alle Jahre wieder kehrt es ein in jedes Haus. Alle Jahre wieder ist es mir zur Seite, still und unerkannt.” Und Johannes singt dagegen: “Er kommt zum Weltgericht, zum Fluch dem, der ihm flucht.” Gott hat doch nicht die Richterrobe ausgezogen und sich als Weihnachtsmann verkleidet. Gott hat sich doch nicht eines Besseren besonnen und den Richtertisch durch einen Gabentisch ersetzt. Gottes Gericht fällt nicht flach: “Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt.”

Hier werden nicht Christbäume geschmückt, sondern geschlagen. Die Erde ist aufgegraben, die Baumwurzeln freigelegt, die Axtschläge stehen bevor. Wer offene Ohren hat und sich nicht die Rede vom Pax Christi als Ohropax in die Ohren stopft, der hört schon etwas vom Baumschlagen Gottes in unserer Welt. Ich höre die Kanonenschläge in immer mehr Krisengebieten unserer Erde. Ich höre die Brandanschläge auf immer mehr Unterkünfte unschuldiger Ausländer. Ich höre den unverzeihlichen Todesschlag gegen das ungeborene Leben. Sicher sind das keine Uhrenschläge an Gottes Weltenuhr, die uns die genaue Zeit angeben könnten, aber es sind unüberhörbare Axtschläge an einem Baum, der faul und zum Fällen reif ist. Wenn dieser Baum heute noch steht, wenn dieser Lebensbaum heute noch Leben ermöglicht, wenn dieser Früchtebaum heute noch Früchte wachsen lässt, so nicht deshalb, weil es Spalierobst erster Güteklasse wäre, sondern einzig und allein, weil Jesus selbst den Schwung der Axt aufgehalten hat: “Herr, lass ihn noch dies Jahr, ob er doch nicht gute Früchte bringe. Wenn nicht, so haue ihn ab.”

Um Jesu willen haben wir gute Gelegenheit, reinen Tisch zu machen mit unserer Schuld, die wir herumschleppen: Noch dies Jahr. Einen neuen Anfang wagen mit unserem Mann, der andere Wege ging: Noch dieses Jahr. Die Sorge vor morgen ihm überlassen, der sie tragen will: Noch dies Jahr. Alle Todesangst in der Auferstehungshoffnung begraben sein lassen: Noch dies Jahr. Unsere tiefe Sicherheit muss weg.

3. Unsere krumme Tour

… fragt ganz unschuldig: Was sollen wir denn nun tun? Welche guten Früchte sollen wir denn jetzt bringen? Wie sieht das alles ganz praktisch aus? Schau, lieber Johannes, hier am Jordanufer ist alles so schön und feierlich wie in der Stiftskirche, wo man hört und singt, wo man betet und opfert, wo man dem andern nicht auf die Zehen tritt und ihm nicht die Sonne wegnimmt. Aber guck, lieber Bußprediger, dort, wo wir zuhause sind, in Jerusalem, in Stuttgart, in Münster, in Cannstatt, in Degerloch, unter tausend Leutchen, in schwierigen Verhältnissen, im ganzen Krimskrams des Geschäftes, dort ist es unendlich schwer, ein rechter Mensch, geschweige denn ein guter Christ zu sein. Es gibt sogar Leute unter uns aus bestimmten Berufen, denen es praktisch unmöglich ist, ein anständiger Mensch zu sein. Wir sind Zöllner, sagen ein paar, unser Beruf ist von A bis Z auf Korruption angelegt. Wir können es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Und wir sind Händler, sagen ein paar andere, unser Beruf ist hart bei der Konkurrenz auf dem Bazar. Alle Steuern können wir auf keinen Fall bezahlen. Und wir sind Soldaten, sagen wieder ein paar andere, unser Beruf ist hart und blutig. Frag uns nicht, wie wir in dieses Handwerk hineingeschlittert sind. Wie kann man denn rechtschaffen sein, ein ordentlicher Mensch sein, gute Früchte bringen, das fragen wir uns, Zöllner, Händler, Soldaten, das fragen wir dich, Johannes.

Aber der durchschaut dieses ewige Ausweichmanöver, diese krumme Tour um Jesus herum, die alles verkomplizieren will. Der Rufer in der Wüste weist auf das Nächstliegende: Der Zöllner soll sich an sein Tarifbüchlein halten. Der Händler soll in die Steuerliste gucken. Der Soldat soll nicht durch Plünderung seinen Sold nachbessern. So einfach ist das, kein steiles Programm, kein großartiges Prinzip, kein kategorischer Imperativ: Du sollst! Nein, das Allernächste und Erstbeste ist jetzt dran.

Was ist es bei Ihnen? Ein Wort zum andern: Verzeih, können wir neu miteinander beginnen? Eine Postkarte zum andern: Danke, dass du gekommen bist. Ein Geschenklein für den andern: Ich mag dich und ich vergesse dich nicht. Geben Sie doch ein kleines Signal, dass Sie die große Neuigkeit gehört haben: Baut die Straße! Führt die Trasse! Machet Bahn!

Es ist nicht der Ruf eines Starrkopfes. Es ist der Schrei eines Märtyrers. Eine liederliche Prinzessin fordert im Übermut den Kopf dieses Mannes auf einem Tablett. So ist es gleichsam sein Testament, mit Blut versiegelt. Legen Sie es nicht ab! Gehen Sie nicht achtlos vorüber! Hören Sie es doch: Bereitet den Weg des Herrn, damit Weihnachten wird, bei Ihnen!

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]