Hoffnung
Einer erzählte mir von seiner Osterreise, die ihn in diesem Jahr in die englische Hauptstadt geführt hat. Auf meine Frage, ob denn London schon im März eine Reise wert sei, antwortete er, dass er nicht die Tower Bridge oder den Hyde-Park besichtigen, sondern eine Messias-Aufführung erleben wollte. Schon als Bub habe er gelesen, dass dort das große Halleluja, in dem dieses herrliche Oratorium gipfelt, die Zuhörer in Bewegung setze und von den Stühlen reiße. Sicher gebe es solche, denen diese Töne so fern und fremd seien, dass sie keinen Zugang zu dieser Welt der Musik hätte! Sicher gebe es auch solche, denen diese Akkorde so lieb und vertraut seien, dass sie längst sich daran gewöhnt hätten. Wen aber der Geist Georg Friedrich Händels berühre, der sei so überwältigt von dem gewaltigen Jubel, der sei einfach so mitgerissen von diesem mächtigen Crescendo, der sei einfach so gefangengenommen von dieser stürmischen Freude, dass er von seinem Stuhl aufspringe und stehend hinhöre, bis der letzte Takt verklungen sei. Um dies einmal zu erleben, sagte mir mein Gegenüber, sei ihm keine Mark zu schade, keine Entfernung zu weit und keine Mühe zu viel.
Zugegeben: Ich wäre gerne mit ihm gereist. Aber vielleicht braucht es gar keine weite Reise nach England. Vielleicht könnten wir uns die teure Eintrittskarte für die Royal Albert Hall sparen. Vielleicht geht es sogar ohne Georg Friedrich Händel noch viel besser. Wir müssen nur die Bibel aufschlagen und jenes große Halleluja hören, das Petrus als Ouvertüre vor seinen Brief setzt: "Gelobt sei Gott der Vater, unseres Herrn Jesus Christus, der uns wiedergeboren hat zu seiner lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten." Sicher gibt es solche, denen diese Worte so fern und fremd sind, dass sie keinen Zugang zu dieser Welt der Bibel haben. Sicher gibt es auch solche, denen diese Begriffe so lieb und vertraut sind, dass sie sich längst daran gewöhnt haben. Wen aber der Geist Gottes ergreift, der ist so überwältigt von diesem gewaltigen Jubel, wen aber der Geist Jesu Christi ergreift, der ist so mitgerissen von diesem mächtigen Crescendo, wen aber der Heilige Geist ergreift, der ist so gefangengenommen von dieser stürmischen Freude, dass er von seinem Stuhl aufspringt: wenn nicht auswendig, so doch inwendig, wie jener Lahme an der schönen Pforte des Tempels, von dem es heißt: "Er sprang auf, konnte gehen und stehen, lief und sprang und lobte Gott." Dieser Lobpreis ist stärker als ein oratorischer Glanzpunkt. Dieser Lobpreis ist gewaltiger als Händels großes Halleluja. Dieser Lobpreis hat eine mitreißende Kraft, obwohl er nicht in einer Liederhalle erklingt, im Gegenteil. Die ersten Hörer oder Leser waren alles andere als Konzertbesucher, die sich in Schale werfen und auf den Rängen Platz nehmen. Fremdarbeiter waren es, "Fremdlinge in der Zerstreuung", sagt Petrus, Geschnittene und Gemiedene, die oft genug den Sklavenschurz tragen und am Katzentisch der Gesellschaft Platz nehmen mussten. Eigentlich hätten sie sagen müssen: "Was gibt mir das, dass ich den Namen Gottes kenne?" Eigentlich hätten sie klagen müssen: "Was bringt mir das, dass ich zur Gemeinde zähle?" Eigentlich hätten sie sich fragen müssen: "Was habe ich davon, dass ich Christ geworden bin, ja, was hab ich davon?" Aber sie sagen und klagen und fragen nicht, sondern sie loben, mitgerissen und hingerissen: "Gelobt sei Gott der Vater unseres Herrn Jesus Christus!" Wie kommt das? Wie ist so etwas möglich? Wie könnten auch wir, die wir so oft auf Moll gestimmt sind, von diesem gloria dei ergriffen werden? Bedenken wir drei Aussagen dieser Satzperiode.
1. Gott schafft die Lebensrettung
Stellen wir uns einmal in Gedanken eine Gruppe von Menschen vor, die Schiffbruch erlitten haben und sich auf eine einsame Insel retten konnten. Froh, dass sie Sturm und Wellen entkommen sind, sagen sie sich: Es nützt jetzt gar nichts, unser Schicksal zu beklagen. Die Lage ist keineswegs hoffnungslos. Wir müssen dies Leben bewältigen. So machen sie sich an die Arbeit. Sie errichten Hütten, damit sie ein Dach überm Kopf haben. Sie legen Gärten an, dass sie Pflanzen und Blumen haben. Sie stellen Werkstätten hin, damit sie Arbeit und Beschäftigung haben. Sie tun alles, um ihr Leben erträglich zu gestalten. Und dabei erinnern sie sich an den Trost der Religion, die Frömmigkeit schenke, Sittlichkeit festige und Mitmenschlichkeit fördere. Deshalb bauen sie auch noch eine Kapelle für den lieben Herrgott und halten ihre Zusammenkünfte. So kommen die Gestrandeten mit ihrer Lage ganz ordentlich zurecht. Freilich, von ihrer Heimat sind sie abgeschnitten. Die Brandung der Wellen donnert Tag und Nacht an die felsige Küste.
Ein letztes Heimweh bleibt, so wie bei uns. Ein letztes Heimweh bleibt. Die Brandung des Todes schlägt Tag und Nacht an unser Ufer. Von unserer Heimat sind wir abgeschnitten, seit wir mit unserem Stolz und Eigensinn Schiffbruch erlitten haben. Gestrandetsein ist unser Schicksal. Nun müssen wir dieses Leben auf dem Eiland Erde bewältigen, mit Straßenbau, Häuserbau, Städtbau, Fabrikenbau. Gott sei Dank hilft uns neben der Arbeit die Religion, denn gemeinsames Leid ist geteiltes Leid und frommes Denken vertreibt böse Gedanken. So leben wir recht und schlecht auf den Tag hin, von dem der Psalmist sagt: "Des Menschen Geist muss davon, alsdann sind verloren all seine Anschläge." Aber liebe Freunde, ist das alles? Religion, damit wir es auf unserer Todesinsel erträglicher und tröstlicher haben? Religion, damit wir unsere mitmenschlichen Beziehungen gütiger und hilfreicher gestalten? Religion, damit wir anvertraute Jugend tüchtiger und sittlicher erziehen? Religion, damit wir unsere ewigen Friedensdiskussionen durch religiöse Gesichtspunkte anreichern und unsere erschütternde Hilflosigkeit durch Trostsprüche verdecken können? In unserem Text weht doch ein anderer Geist, brennt doch ein heißeres Feuer, leuchtet doch ein strahlenderes Licht. Religion als Lebensbewältiger mag sein Gutes haben, aber Gott schafft Lebensrettung. Das ist die neue Dimension. Petrus meint mit der lebendigen Hoffnung: Die Hilfe ist im Gange. Die Bergung der Gestrandeten ist eingeleitet. Die Rettung und Rückkehr von der Insel in die Heimat steht bevor. Dies und nichts weniger meint das ganze Evangelium. Wir sind nicht mehr dazu verurteilt, dieses Leben mitsamt seinen Pflichten und Mühen, Entbehrungen und Enttäuschungen allein bewältigen zu müssen. Wir sind nicht mehr dazu verdammt, unserem Tod entgegenzuleben bis zu dem Tag, an dem der letzte, schäbige Rest von Leben auch noch kassiert wird. Wir sind vielmehr durch die Auferstehung Jesu Christi in einen völlig neuen Horizont gestellt, der im Morgenglanz der Ewigkeit seine Konturen erhält. Als Hoffende stehen wir am Ufer, der Rettung gewiss. Und wer als Skeptiker dort steht und die Nachricht von der Lebensrettung in Zweifel zieht, der bedenke die zweite Aussage dieser Satzperiode.
2. Gott schickt den Lebensretter
Er hat von sich aus die Initiative ergriffen. Er selbst hat sich ins Zeug gelegt. Weil unsere Lage so ist, dass Gott erbarm, hat er in seiner großen Barmherzigkeit eine Rettungsaktion in Gang gesetzt. Barmherzigkeit meint also mehr als jenen Almosen, den wir einem Bettler vor der Kirchentür in seine umgestülpte Mütze werfen. Barmherzigkeit meint auch mehr als jenen Scheck, den wir der Aktion Brot für die Welt oder Hilfe für Brüder zur Verfügung stellen. Barmherzigkeit meint viel mehr. Sie erschöpft sich nicht in einem Becher von Mitleid. Barmherzigkeit hat ein anderes Format. Sie geht nicht in einer Handvoll Mitgefühl auf. Barmherzigkeit im biblischen Sinn ist so groß wie Gott selbst. Sie umfasst alles Leid und Elend der Kreatur. Sie reicht vom höchsten Himmel, wo er seine Wohnung aufgeschlagen hat bis in die tiefsten Schächte der Angst und Schuld, in denen je einer hinuntergestürzt ist. Deshalb zirkelt dieser Gott nicht ein paar Bibelsprüche an den Himmel. Deshalb funkt er nicht ein paar Trostworte vom Jenseits. Deshalb speist er nicht ein paar erbauliche Predigten in unser Kabelnetz ein. Gott entschloss sich zu dieser einmaligen Lebensrettung, indem er seinen einzigen Sohn als Lebensretter losschickte. Jesus Christus hat sich aufgemacht zu unserer Todesinsel. Er hat den Ort aufgesucht, an den uns das Schicksal, nein, unsere Schuld verschlug. Er hat genau die Winkel aufgespürt, in denen sich die ganze Verzweiflung verschanzte. "Durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes hat uns der Aufgang aus der Höh besucht", rief der greise Zacharias. Dann ist er durch den ganzen Schutt irdischer Hoffnungen hinabgestiegen bis auf den tiefsten Grund menschlicher Traurigkeit. Dann ist er am Kreuz gestorben wie ein gemeiner Verbrecher. Dann ist er begraben worden im Felsengrab des Ratsherrn Josef von Arimathia. Dann schien jede Hoffnung auf Rettung endgültig ausgelöscht. Aber dann geschah das Unfassliche. Gott, hat diesen größten Grabstein gestorbener Hoffnungen weggeschoben wie ein Stück Papier. Er hat dem Tod den Meister gezeigt. Er hat seinen Sohn auferweckt. Er hat ihn zum Lebensretter gemacht, der seinen Leuten versichert: "Ich lebe und ihr sollt auch leben!" Damit überragt Jesus alle Religionsstifter. Konfuzius hätte uns nur sagen können: "Macht euch eure Erfahrungen zunutze." Buddha hätte uns nur sagen können: "Vielleicht geht es euch besser, wenn ihr das nächste Mal auf die Welt kommt." Mohammed hätte nur sagen können: "Ob ihr untergeht oder gerettet werdet, in jedem Fall geschieht der Wille Allahs". Jesus aber sagt: "Folge mir. Nimm meine Hand. Ich bring dich ins Heimatland." Jesus Christus ist der Beweis unserer Lebensrettung. Bedenken wir aber noch die dritte Aussage unserer Satzperiode.
3. Gott schützt die lebend Geretteten
... weil die Rettungsaktion noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Petrus unterstreicht ausdrücklich: Zu einer Hoffnung hat uns der Vater wiedergeboren, und zu einem Erbe hat uns der Herr eingesetzt. In dem Begriff Hoffnung steckt aber ein deutliches "noch nicht". Wer eine Hoffnung hat, kann sie nicht vorweisen wie ein Abizeugnis, weil er sie im Herzen und nicht auf der Hand hat. Wer ein Erbe hat, kann nicht darüber verfügen wie über ein Eigenheim, weil er es in Aussicht und nicht im Besitz hat. So sind wir der lebendigen Hoffnung und des unverwelklichen Erbes gewiss, aber noch stehen wir am Ufer. Noch warten wir auf die Rettung. Noch sind wir nicht daheim. Nur in der Gestalt der Hoffnung haben wir das Heil. Und das bedeutet, dass an diesem Uferplatz viel Raum für Anfechtungen und Bedrängnisse ist. Je mehr unser Glaube Ernstfall ist und nicht Verlegenheitslösung, je mehr unser Christsein Umkehr und nicht christliche Begleitmusik zur Allerweltsmusik ist, je mehr unsere Gotteskindschaft Gehorsam und nicht Tapete über gelebte Gottlosigkeit ist, je mehr werden wir mit Anfechtungen zu tun bekommen. "Wir müssen dem Teufel täglich in die Spieße laufen", sagt Luther, weil er als Fürst der Todesinsel keinen aus seinem Revier entlassen will. Aber Petrus sagt: "Es ist eine kleine Zeit." Wenn wir von Fragen angefochten sind, die einem angesichts dieser Weltlage zu schaffen machen, so gilt: "Es ist eine kleine Zeit". Wenn wir von den Zweifeln angefochten sind, die einem den Glauben langsam aber sicher zerfressen, so gilt: "Es ist eine kleine Zeit." Wenn wir von den Sorgen angefochten sind, die uns die eigenen Kinder machen, so gilt: "Es ist eine kleine Zeit." Wenn wir von den Schmerzen angefochten sind, die einem die Krankheit verursacht, so gilt: "Es ist eine kleine Zeit." Ja, das ganze Zwischenspiel zwischen Ostern und Wiederkunft ist mit Gottes Maß gemessen eine kleine Zeit. Darin schützt er seine Leute. Darin bewahrt er seine Leute. Darin trägt er sie durch bis zur Ewigkeit. Deshalb: "Gelobt sei Gott."
Liebe Freunde, habe ich übertrieben, wenn ich davon sprach, dass dieser Lobpreis stärker sei als ein oratorischer Glanzpunkt? Habe ich zu dick aufgetragen, als ich davon redete, dass dieser Lobpreis gewaltiger sei als Händels Großes Halleluja? Habe ich den Mund zu voll genommen, wen ich davon predigte, dass dieser Lobpreis Gottes mitreißende Kraft hat?
Amen