Gnade sei mit euch und Frieden von dem, der da war, der da ist und der da sein wird: Jesus Christus. Amen.
Den Bibeltext für die heutige Karfreitagspredigt haben wir bereits in der Textlesung gehört. Vielen Dank, Sabine, für das Vorlesen dieses langen Textes. Ich werde ihn jetzt nicht noch einmal wiederholen. Es lohnt sich jedoch, während der Predigt immer wieder in diesen Evangelientext hineinzuschauen.
Ich nenne noch einmal die Stelle: Matthäus-Evangelium Kapitel 27, Verse 33 bis 55. Ihr findet sie im hinteren Teil der ausliegenden Bibeln auf den Seiten 40 und 41.
Bevor wir uns den Text genauer anschauen, möchte ich mit uns beten:
Himmlischer Vater, aus Liebe zu uns Menschen hast du deinen Sohn gesandt. Er hat unter uns gelebt und deine Barmherzigkeit verkündet. Mit offenen Armen ist er auf uns zugegangen und hat uns befreit aus unseren Sündenverstrickungen. Er hat uns in die Nachfolge hineingerufen.
Jesus hat uns durch seinen Tod ewiges Leben gebracht. Herr, bitte lass uns dieses Geheimnis des Kreuzes immer tiefer begreifen. Amen!
Die Bedeutung des Verrats und persönliche Erfahrungen
Verrat ist ein tiefer Vertrauensbruch. Experten, die sich mit seelischem Schmerz beschäftigen, sagen, dass man einem Menschen kaum etwas Schlimmeres zufügen kann, als ihn zu verraten. Besonders schlimm ist der Verrat, wenn Täter und Opfer sich nahestehen.
Ich selbst – einige von euch wissen das – bin in der Nähe von Dresden in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Die Älteren unter uns wissen noch, was die DDR ist. Ich habe dort in der Sächsischen Schweiz eine sehr schöne Kindheit erlebt.
Mein Vater ist 1979 sozusagen fluchtartig verschwunden. Er hat die Deutsche Demokratische Republik verlassen. Damals gab es die Möglichkeit, einen sogenannten Ausreiseantrag zu stellen, um eine Familienzusammenführung zu erreichen. Das haben wir auch gemacht und mussten dann zwei Jahre auf eine Antwort warten.
Wenn man so einen Ausreiseantrag genehmigt bekam, musste man innerhalb von sieben Tagen das Land verlassen. Nach zwei Jahren kam die Genehmigung, und wir haben uns riesig gefreut. Ich habe dann mit meinen engsten Freunden eine Abschiedsparty gefeiert.
Am nächsten Morgen kam meine Mutter weinend nach Hause und erklärte mir: „Ron, die Genehmigung wurde zurückgezogen. Du hast dich gestern Abend über die DDR lustig gemacht.“ Einer meiner besten Freunde hat für die Staatssicherheit gearbeitet und mich verraten.
Das ist ein relativ harmloser Verrat. Ich habe ihn gut verkraftet. Ich kann mir auch gut vorstellen, wie er da hineingezogen worden ist.
Der größte Verrat und die Hinrichtung Jesu
In der heutigen Predigt befassen wir uns mit dem schlimmsten Verrat, der je stattgefunden hat. Ein Mensch, der niemals ein Gesetz gebrochen hatte, wird zu einem grausamen Verbrechertod verurteilt.
Man kann es auch so ausdrücken: Der gerechteste Mensch, der je gelebt hat, wird in dem ungerechtesten Prozess, der je geführt wurde, verurteilt und auf brutalste Weise hingerichtet.
Bemerkenswert ist, dass Matthäus, der Verfasser des Evangeliums, mit dem wir uns heute beschäftigen, kaum Wert auf die körperlichen Qualen von Jesus legt. Stattdessen konzentriert er sich auf andere Aspekte.
Alles, was Matthäus über die leiblichen Folterungen berichtet, fasst er kurz zusammen, nachdem Jesus bereits gekreuzigt worden war. Er lenkt die Aufmerksamkeit seiner Hörer und Leser vor allem auf das Umfeld und auf die Worte, die Jesus kurz vor seinem Tod am Kreuz herausgeschrien hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Diese Worte wollen wir uns nun genauer anschauen.
Ablauf von Prozess und Kreuzigung
Gehen wir zunächst einmal in den Prozess und mit in diese Kreuzigung hinein. Dann hören wir auf die Worte, die Jesus herausgerufen hat. Schließlich denken wir darüber nach, was das mit uns zu tun hat und warum Jesus gestorben ist.
Also beginnen wir mit dem ersten Punkt: dem Prozess und der Kreuzigung. Jesus erreicht zum Passafest Jerusalem, die goldene Hauptstadt. Das Passafest erinnert, wie ihr wisst, an den Auszug aus Ägypten, an den Auszug aus der Gefangenschaft.
Die Leute, die in Jesus einen Befreier sahen, denken: Endlich erreicht der König seine Heimat und wird seine Herrschaft antreten. Hosianna! Doch Jesus kommt gar nicht als ein politischer Herrscher. Nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Esel reitet er nach Jerusalem. Jesus kommt nicht als Eroberer, sondern als Friedensstifter.
Er wird trotzdem verhaftet, verhört und schließlich zum Tode verurteilt. Das Todesurteil durften damals nur die römischen Statthalter vollziehen lassen. So landete Jesus vor Pilatus. Als Statthalter stellte Pilatus fest, dass Jesus eigentlich unschuldig ist. Er konnte bei ihm keine Verfehlungen finden.
Aber er gibt schließlich dem Drängen der Volksmassen nach. Als Pilatus fragt: "Was soll ich mit diesem Mann, mit diesem Jesus machen?", fordert das Volk: "Kreuzige ihn!" Unter dem Volk, das zunächst gejubelt hatte, als Jesus nach Jerusalem einzog, sind nicht wenige, die plötzlich ganz geschockt reagieren.
Jesus ist plötzlich nicht mehr der attraktive Held. Die Soldaten hatten ihn gefoltert, er ist gezeichnet durch blutende Wunden, und er trägt eine Dornenkrone. So sieht kein siegreicher König aus.
Schließlich bringen sie Jesus nach Golgatha, was übersetzt „Schädelstätte“ bedeutet. Das ist ein Hügel außerhalb der Stadt Jerusalem, wo die Vollstreckungen der Todesurteile stattfinden. Dort werden all die Leute hingerichtet, die als Verbrecher oder schlimme Verbrecher verurteilt worden sind.
Dass Jesus dort bald sterben wird, bedeutet zum einen, dass er zu den Verfluchten gehört. Er wird zu den schlimmsten Verbrechern gerechnet, die es überhaupt gegeben hat. Zum anderen bedeutet es, dass er als stellvertretendes Sühneopfer sein Leben hingibt.
Symbolik von Golgatha und das Sühneopfer
Wenn wir das dreizehnte Kapitel aus dem Hebräerbrief aufschlagen – ihr müsst das jetzt nicht machen, aber ihr könnt es gern zu Hause nachlesen – werdet ihr Folgendes herauslesen: Dort wird davon gesprochen, dass die Opfertiere außerhalb des Lagers verbrannt wurden.
In Vers 12, Kapitel 13, heißt es: „Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut – Blut steht für Leben –, gelitten draußen vor dem Tor.“ So wie die Opfertiere aus dem Lager gebracht wurden, so ist Jesus aus der Stadt gebracht worden und dort gestorben.
Sie nageln den Menschensohn ans Kreuz, und sie verlosen seine Kleidung. Hier finden wir einen ersten Bezug zum Psalm 22. In diesem Psalm wird beschrieben, wie die Soldaten die Kleider verlosen und verteilen – damit erfüllt sich eine Prophezeiung dieses Psalms.
In Vers 37 im Matthäusevangelium lesen wir dann weiter: „Und oben über sein Haupt setzen sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, König der Juden.“
Was soll das bedeuten? Dieses Bekenntnis soll die Juden verhöhnen und ihnen Angst machen. Ganz im Sinne von: „Legt euch nicht mit Rom an, dort ist die ewige Stadt, dort ist der wahre König, nicht hier in Jerusalem.“
Doch genau in dem Ereignis, in dem das Böse zu triumphieren scheint, wird offenbar, dass der Herr aller Herren die Weltgeschichte lenkt. Denn tatsächlich ist Jesus nicht nur der König der Juden, er ist der König aller Könige. Jesus regiert vom Kreuz aus.
Spott und Ablehnung am Kreuz
Es sind viele Menschen gekommen, um sich das Spektakel anzuschauen. Wenn man auf der richtigen Seite steht – das kennen wir – dann fällt es einem leicht zu spotten und zu lästern. Drei Männer, Jesus und die beiden Räuber, stehen im Todeskampf, und die Menge lacht und spottet: "Du, Jesus, du wolltest doch den Tempel abreißen und in drei Tagen wieder aufrichten! Hilf dir selbst, wenn du der Sohn Gottes bist!"
Hinter dem Gelächter des Volkes und hinter dem Spott verbirgt sich – ich möchte es mal so nennen – ein dämonisches Flüstern. Schon in der Wüste hatte Satan versucht, Jesus davon abzubringen, den Willen des Vaters zu tun. Und hier versucht er es wieder. Er will Jesus davon abhalten, diesen bitteren Kelch zu trinken.
Stellen wir uns nur mal kurz vor, was es bedeuten würde, wenn Jesus auf dieses Flüstern gehört hätte.
Auch die religiöse Elite ist dabei. Sie sagen: "Der hat anderen geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. Wenn er vom Kreuz herabsteigt, dann wollen wir ihm glauben. Dieser Mensch hat Gott vertraut. Nun gut, wenn Gott ihn liebt, dann wird er ihn aus seiner Not erretten."
Und schließlich sind dann noch die Räuber links und rechts – und sogar sie lästern über Jesus.
Hier wird darüber nichts gesagt, aber im Lukasevangelium lesen wir, dass einer dieser Räuber seine Meinung dann noch geändert hat. Er hat umgedacht und Jesus verteidigt.
Reaktionen der Jünger und der Frauen
Ein großes Spektakel! Viele Menschen sind dabei: Priester, Schriftgelehrte, Soldaten und das Volk ergötzen sich an der Hinrichtung von drei Menschen. Einer von ihnen ist unschuldig.
Die Jüngerinnen werden ebenfalls erwähnt. Sie waren auch anwesend, jubelten jedoch nicht mit dem Volk mit. Stattdessen haben sie sich etwas zurückgezogen, wahrscheinlich sehr besorgt und verzweifelt. Das Drama haben sie aus der Ferne beobachtet, wie wir in Vers 55 lesen.
Aber wo sind die Jünger? Petrus, Jakobus, Johannes, Andreas und all die anderen? Matthäus schweigt sich aus und sagt nichts dazu. Lukas erwähnt jedoch, dass sie sich immerhin in der Nähe der Frauen aufgehalten haben. Sie sind vor Angst weggelaufen und haben ihren Rabbi im Stich gelassen. In der schwersten Stunde war Jesus allein verraten.
Erinnern wir uns an das Bekenntnis des Petrus: „Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.“ Jesus hatte schon beim letzten Abendmahl angekündigt: „Heute Nacht werdet ihr euch von mir abwenden, denn es heißt in der Schrift: Ich werde den Hirten töten, und die Schafe werden sich zerstreuen.“
Die übernatürliche Finsternis und ihre Bedeutung
Das alles ist schwer auszuhalten, was Jesus hier durchmacht, aber es kommt noch schlimmer. Matthäus erzählt ab Vers 45: Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das Land bis hin zur neunten Stunde. Nach unserer Zeit entspricht das von zwölf Uhr mittags bis fünfzehn Uhr.
Es handelt sich um eine übernatürliche Finsternis. Das Passahfest findet bei Vollmond statt, daher kann es keine natürliche Finsternis gewesen sein. Was soll uns diese Dunkelheit sagen? Nun, Finsternis gab es zum Beispiel bei der neunten Plage beim Auszug aus Ägypten. Die alttestamentlichen Propheten berichten von Finsternis als einem Gerichtshandeln Gottes. So erklärt zum Beispiel der Prophet Amos im achten Kapitel, dass sozusagen mittags die Sonne verschwinden wird.
Fast scheint es, als ob die Dunkelheit den ersten Schöpfungstag rückgängig machen möchte, als ob es Gott leidtäte, diese wunderbare Welt überhaupt erschaffen zu haben. Wahrscheinlicher ist jedoch ein anderer Gedanke: Mit der Kreuzigung ist die Mitte der Heilsgeschichte erreicht. Gott fängt noch einmal von vorne an. Mit der Kreuzigung, so könnte man sagen, startet die Neuschöpfung der Welt.
Tatsächlich beschreibt die Bibel Jesus als den zweiten Adam, der die zerbrochenen Beziehungen zwischen Menschen, das gebrochene Verhältnis zur Schöpfung und das zerbrochene Verhältnis zu Gott wiederherstellt. Während der erste Adam versagt hat, lebte Jesus ein vollkommenes Leben und überwand all diese Versuchungen. Er erfüllte die Rolle des ersten Adam unter viel schwierigeren Bedingungen. Und er hat die Konsequenzen getragen, die wir der Schuld von Adam zu verdanken haben. Die Sünde eröffnet den Weg für einen Neuanfang.
Noch etwas ist wichtig. Das ist bei modernen Theologen eher unbeliebt, aber wir kommen daran nicht vorbei: Es deutet vieles darauf hin, dass die Dunkelheit auch den Zorn Gottes repräsentiert. Den Zorn über Israel, weil es den wahren König verworfen hat. Den Zorn über die Sünde der Welt, die großes Verderben gebracht hat. Ja, sogar den Zorn Gottes über meine und deine Sünde und Gottvergessenheit.
Drei Stunden dauert die Finsternis, und so lange musste Jesus unvorstellbare Qualen erleiden.
Der Schrei am Kreuz und seine Bedeutung
Und dann, um drei Uhr nachmittags, also zu der Stunde, in der die Passalämmer geschlachtet wurden, ruft Jesus laut: „Eli, Eli, Lama, Asabtani“. Das ist Aramäisch und bedeutet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Die Leute, so lesen wir, denken, er ruft um Hilfe. Warum? Weil das aramäische „Eli“ sehr leicht mit „Elija“ verwechselt werden kann. Die Juden schreiben dem Propheten Elija eine große Rolle in der Zeitenwende zu. Sie glauben, Jesus verlangt nach Elija und hoffen, dass er erscheint und ihm hilft.
Wir als Leser und Hörer des Evangeliums wissen jedoch, dass etwas anderes hinter diesem Schrei steckt. Aber was? Ist Jesus verzweifelt? Sind die leiblichen Qualen so unerträglich, dass er den Schmerz nur so ausdrücken kann? Ja, das spielt eine Rolle, und doch gehört noch viel mehr dazu.
Hier landen wir ein zweites Mal bei Psalm 22. Jesus zitiert in seinem Schrei den ersten Vers dieses Psalms, den David gedichtet hat. Ein wichtiger Punkt: In vielen Psalmen, die David geschrieben hat, verarbeitet er als König eigene Erfahrungen, zum Beispiel die Verfolgung durch Saul oder seinen Ehebruch. Aber ist das auch bei diesem Psalm der Fall?
Hören wir uns einige Ausschnitte aus Psalm 22 an:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Alle, die mich sehen, verspotten mich,
sperren das Maul auf und schütteln den Kopf.
Ich klage es dem Herrn, der mir heraushelfen soll.
Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe,
und meine Zunge klebt mir am Gaumen.
Du legst mich in den Staub des Todes.
Sie haben meine Hände und meine Füße durchbohrt,
sie teilen meine Kleider unter sich
und werfen das Los um mein Gewand.“
Wird hier beschrieben, was David erlebt hat? Zumindest im Neuen Testament wird das so nicht geschildert. Alttestamentler sagen uns, dass es in diesem Psalm gar nicht um Verzweiflung wegen einer Krankheit oder Verfolgung geht. Es handelt sich um eine Klage angesichts einer Hinrichtung. Manche deuten sogar auf eine Kreuzigung hin, obwohl diese damals noch nicht verbreitet war.
Ich bin mir sicher, ihr habt Psalm 22 alle schon studiert. Ich weiß nicht, wie oft in eurem Leben ihr das „Eingehende vorzusingen nach der Weise Hirschkuh in der Morgenröte“ gehört habt. Habt ihr euch das schon mal gefragt? Geht es da nur um eine Melodie?
Ich selbst bin mit dieser Frage groß geworden und erst bei Martin Luther fündig geworden. In dem Bild geht es um Feinde, die jemanden umstellt haben, so wie Jäger einen Hirsch umstellen, der schon von Pfeilen durchbohrt ist und verblutet.
Der „Tagum“ – eine aramäische Übersetzung des Alten Testaments mit Kommentar – geht sogar so weit, zu sagen, dass es sich hier um eine morgendliche Opfergabe eines Lammes handelt.
Um es kurz zu machen: David kündigt in Psalm 22 prophetisch das Leiden von Jesus auf Golgatha an. Die letzten Worte von Jesus sagen uns: „Ich bin der, von dem David geschrieben hat. Ich bin der gekreuzigte König, der von seinem Volk verworfen wurde. Ich sterbe wie ein Verbrecher am Fluchholz, und die Menschen spotten über mich.“
Die Bedeutung des zerrissenen Tempelvorhangs
Was aber bedeuten inhaltlich genau die Worte „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“?
Vers 51 hilft uns, das zu verstehen. Als Jesus stirbt, zerreißt im Tempel der Vorhang von oben nach unten. Dieser Vorhang trennt das Allerheiligste von allen anderen Bereichen im Tempel.
Wir könnten vermuten, dass Gott sich verärgert aus dem Allerheiligsten zurückgezogen hat. Doch das Neue Testament lässt diese Deutung nicht zu. Im Gegenteil: Der zerrissene Vorhang steht nicht für den Rückzug Gottes, sondern dafür, dass Gott sich uns Menschen zuwendet.
Eigentlich war der Vorhang dazu da, den Zugang zu Gottes Gegenwart zu beschränken. Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr mit einem Opfer das Allerheiligste betreten, um die Sünden Israels zu sühnen. Gott ist so heilig, dass es für Sünder gefährlich sein kann, in seiner Nähe zu sein.
Ich habe das einmal im Unterricht erwähnt. Einige junge Leute schauten mich entsetzt an und fragten: „Ist das denn wirklich so? Ist Gott nicht die reine Liebe?“ Ich öffnete dann mit ihnen das zweite Buch Mose, wo zum Beispiel Gott zu Mose sagt: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Kurz darauf heißt es: „Denn der Herr, dein Gott, ist wie ein verzehrendes Feuer, ein eifernder oder ein eifersüchtiger Gott.“
Außerbiblische Quellen deuten darauf hin, dass die Juden dem Hohenpriester, wenn er einmal im Jahr in das Allerheiligste hineinging, ein Seil befestigten. Man war sich nicht sicher, ob der Priester lebend aus dem Allerheiligsten wieder herauskommt. Für den Notfall wollte man so eine Möglichkeit haben, ihn herauszuziehen.
Tatsächlich erklärte Gott dem Mose am großen Versöhnungstag, dass der Bruder des Mose, Aaron, nicht allzu oft in das Allerheiligste gehen soll, damit er nicht sterbe. Denn Gott ist dort gegenwärtig.
Das vollendete Sühnopfer Jesu
Nun kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt, den wir wirklich verstehen müssen, wenn wir das Kreuz und das Sühnopfer des Hohepriesters begreifen wollen.
Dieses Opfer konnte die Menschen nicht für immer vom Zorn Gottes retten. Die Sünde wurde immer nur für eine bestimmte Zeit gesühnt. Deshalb mussten immer wieder neue Opfer gebracht werden.
Dass nun im Tempel der Vorhang von oben nach unten zerreißt, bedeutet, dass Gott ein für alle Mal das hinweggenommen hat, was uns Menschen von ihm trennt. Jesus bietet sich selbst als das Sühnopfer an. Er sühnt vollständig und ein für alle Mal.
Besonders der Hebräerbrief, Kapitel 10, macht das deutlich. Dort wird beschrieben, dass in der alttestamentlichen Ordnung immer wieder neue Opfer gebracht werden mussten, die die Sünde letztlich doch nicht hinwegnehmen konnten. Christus hat sich dann als einziges Opfer für alle Sünden hingegeben. Damit ist der Weg frei zu Gott, frei von Schuld.
So weit ist das für uns, hoffe ich, klar. Aber wir müssen noch ein Stück tiefer einsteigen.
Was genau meint Jesus, wenn er sagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wir wissen doch irgendwie, dass Sohn, Heiliger Geist und Vater alle zu Gott gehören. Das sind drei Personen, die Gott sind. Wie kann der Vater den Sohn verlassen?
Der Schmerz, der hier zum Ausdruck kommt, hat etwas mit dem unendlichen Leid zu tun, das Jesus auf sich genommen hat. Gott muss, weil er heilig ist, die Gottlosigkeit richten. Die Folge ist, dass Menschen, die unter dem Zorn Gottes stehen, eines Tages auf eine liebevolle Abwendung von Gott zusteuern.
Gott wird sich sozusagen nicht mehr liebevoll zuwenden. Im 2. Thessalonicher 1,7-9 wird geschrieben, dass die Menschen, die dem Evangelium nicht gehorsam werden, einen Tag der Vergeltung erleben werden.
Indem Jesus die Sünde der Welt auf sich nimmt, erlebt er genau diese angekündigte Gottesferne, das Gericht des Vaters über die Sünde. Obwohl er selbst nie gesündigt hat, trifft ihn die Gottverlassenheit.
Er, der immer mit dem Vater in einer wunderbaren Harmonie und Gemeinschaft war, durchlebt am Kreuz einsam die Hölle.
Der Ruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ hat aber nicht nur etwas mit der Gottesferne zu tun. Er ist auch ein Zeugnis dafür, dass Jesus am Kreuz vollkommen gehorsam ist.
Der Sohn spürt den Verlust der väterlichen Liebe und tut trotzdem genau das, was der Vater von ihm erwartet.
Ein englischer Puritaner, Richard Sibbes, hat dazu einmal gesagt: Jesus ist nie gehorsamer gewesen als in dem Moment, als er ausgesprochen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ In der schwersten Stunde tut er genau das, was der Vater von ihm möchte.
Der doppelte Tausch am Kreuz
Das, was am Kreuz geschieht, wird von einigen als ein doppelter Tausch beschrieben.
Jesus nimmt die Sünde der Menschheit auf sich und leidet passiv die Gottesferne. Das ist der erste Tausch. Gleichzeitig ist Jesus bis zum Letzten gehorsam und erwirbt so die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Er war vollkommen gerecht und schenkt diese Gerechtigkeit denen, die ihm vertrauen. Das ist der zweite Tausch.
Ein Bibelvers, der dies beschreibt, ist 2. Korinther 5,21: "Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt."
Hier sind beide Aspekte enthalten: Jesus trägt unsere Sünde, und zugleich ist er Gottes schenkende Gerechtigkeit.
Menschen, die an Jesus glauben, dürfen deshalb mit Freimut in das Allerheiligste, in die Gegenwart Gottes, hineingehen. Ihnen ist nicht nur der Makel genommen, weil Christus für sie durch das Gericht gegangen ist, sondern sie sind auch mit der vollkommenen Gerechtigkeit des Menschensohnes beschenkt und so angenehm vor Gott.
Zeichen der Auferstehung und Neuanfang
Schauen wir uns noch den Rest des Textes an. Das zweite und dritte Zeichen, also das Erdbeben und die Auferweckung einiger Heiliger, sind schnell erklärt – zumindest, wenn es nach mir geht.
Das Erdbeben erinnert an die Erschütterung am Sinai, als der Herr das Gesetz gegeben hat. Es gab ein Erdbeben, und Mose rief aus: „Ich zittere vor Furcht.“ So wie das Gesetz mit einem Erdbeben kam, so kommt auch die rettende Gnade mit einem Erdbeben. Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich, denn der Tod Jesu stellt die Welt auf den Kopf. Eine neue Zeitrechnung beginnt.
Die auferstandenen Heiligen stehen dafür, dass der Tod Jesu die Tür zum ewigen Leben geöffnet hat. Quasi zeichenhaft wird die Zukunft vorweggenommen, um den Zusammenhang zu verdeutlichen. Die Kreuzigung Jesu wird die Auferstehung der Heiligen bringen, also die Auferstehung derer, die an Jesus festhalten.
Jahrhundertelang ehrten die Menschen die Heiligen, indem sie an die Gräber gingen. Jesus ehrt die Heiligen, indem sie auferweckt werden. Die Auferweckung oder Auferstehung nimmt bildhaft die kommende Auferweckung der Toten vorweg.
Die Liebe Gottes als Grund für das Kreuz
Ich komme zum Schluss. Jesus hat den größten Verrat der Weltgeschichte erlitten. Der einzige gerechte Mensch, der je gelebt hat, wurde in dem ungerechtesten Prozess, den es je gegeben hat, verurteilt und auf unvorstellbar barbarische Weise hingerichtet.
Da stellt sich doch die Frage: Warum ist das passiert? Warum hat der Vater den Sohn gesandt? Warum hat der Sohn freiwillig die Herrlichkeit beim Vater verlassen, ist Mensch geworden, hat unter uns gelebt und das Gericht über die Gottlosigkeit auf sich genommen? Warum hat das Lamm Gottes die Sünde der Welt getragen?
Die kurze Antwort lautet: Aus Liebe, deinetwegen. Ich zitiere mal aus dem ersten Johannesbrief, Kapitel 4, Verse 10 bis 11. Dort wird es wunderbar zusammengefasst:
„Und Gottes Liebe kam zu uns und ist daran sichtbar geworden, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, um uns durch ihn das Leben zu geben. Das ist das Fundament der Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden gesandt hat.“
Jesus hat all das Unrecht, die Sünde und die Gottverlassenheit auf sich genommen, weil er dich liebt. Jesus starb für dich. Durch sein Leiden und seinen Gehorsam hat der Vater dich mit sich selbst versöhnt. Deine Rebellion gegen Gott ist vorbei. Du kannst jetzt Kind des himmlischen Vaters sein.
Der Schuldschein, der auf deinen Namen ausgestellt war und dessen Inhalt dich angeklagt hat, wurde von Gott ans Kreuz genagelt und damit für immer beseitigt. Mehr noch: Du bist beschenkt mit einer Gerechtigkeit, die Jesus für dich erworben hat. Du bist nicht nur begnadigt, sondern Jesus hat dir Versöhnung geschenkt. Er hat dir Frieden gegeben, er hat dir Ruhe gebracht.
Ich wünsche uns Gotteskindern, dass wir täglich darüber staunen und unseren Herrn dafür anbeten. Wenn wir diese Liebe verstanden haben, dann kann es für uns nichts Wichtigeres geben als Jesus. Dann ist Jesus unser Leben, und wir richten unsere Entscheidungen am Reich Gottes aus.
Wer diese Liebe geschmeckt hat, der kann Gott keinen kalten Gottesdienst mehr leisten.
Einladung zum Glauben und Gebet
Und was ist mit denen, die noch ohne Jesus leben und ihm noch nicht vertrauen können? Vielleicht bist du heute hier aus Neugier. Oder du bist auf der Suche. Vielleicht bist du auch hier, weil dich jemand mitgebracht hat. Das ist schon sehr viel wert, denn die meisten Menschen heute gehen Gottesdiensten aus dem Weg.
Sie vermissen Gott gar nicht mehr. Die Trauerarbeit ist abgeschlossen, und sie wollen gar nichts mehr mit Ostern zu tun haben. Aber Ostern ist so wichtig. Ostern zeigt uns nämlich, dass wir erlösungsbedürftig sind. Es zeigt uns auch, dass Gott selbst die Erlösung schaffen muss.
Der Vorhang ist von oben nach unten zerrissen. Wir können uns nicht durch gute Werke zu Gott hocharbeiten. Gott selbst macht den Weg frei und kommt zu uns.
Und wenn du das noch nicht glauben kannst, was am Kreuz geschehen ist, dann lade ich dich ein, den Ruf Gottes zu hören. Er wendet sich dir zu. Er hat den Vorhang von oben nach unten zerrissen, damit du zu Jesus kommen kannst.
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehre um und glaube an das Evangelium. Amen.
O Vater, wir danken dir, dass du deinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hast, um uns durch ihn das ewige Leben zu schenken. Wir waren verloren, wir haben von dir weggelebt. Aber du hast uns nicht aufgegeben. Du hast uns gesucht, gefunden und uns Vergebung, Versöhnung und Frieden mit dir gebracht.
Danke, Herr, dass wir das glauben dürfen. Wir loben und preisen dich für deine Liebe.
Und wir wollen auch bitten für jene, die noch auf der Suche sind und zweifeln. Lass sie sehen, dass das Reich Gottes nahe ist und dass sie Jesus vertrauen können. Amen.