Einführung und Gebet zum Verständnis des Wortes
Da schreibt der Apostel Paulus: So sind wir nun Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, um nach dem Fleisch zu leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, werdet ihr leben.
Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, die sind Söhne Gottes. Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, der euch wieder zur Furcht bringt, sondern einen Geist der Sohnschaft. Indem wir rufen: „Abba, Vater!“
Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wenn wir aber Kinder sind, dann auch Erben – Erben Gottes und Miterben Christi. Wenn wir wirklich mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden.
Wir wollen noch einmal kurz still werden zum Gebet.
Herr, unser Gott und Vater, wir danken dir von ganzem Herzen für dieses Wort aus dem Römerbrief, für dieses kraftvolle biblische Wort. Hilf uns, dass wir es jetzt richtig verstehen, dass dein Geist dieses Wort aufschließt, lebendig macht und es persönlich auf uns anwendet.
Herr, wir bitten dich auch, dass unsere Geschwister in Ilvesheim jetzt eine gesegnete Stunde unter deinem Wort haben dürfen. Gib Johannes Kraft und auch die Stimme, die bei ihm so angeschlagen ist. Hilf ihm, dass er dein Wort predigen kann. Rede besonders zu den vielen Gästen, die heute Morgen dort sind.
So danken wir dir, dass du uns jetzt die Herzen öffnest und dass wir wirklich etwas mitleben und für unser Leben aus diesem Abschnitt mitnehmen dürfen. Amen.
Drei Menschentypen im Licht des Römerbriefs
Ja, man kann natürlich über diese Verse auf ganz verschiedene Weise sprechen. Man kann dabei dieses oder jenes hervorheben und betonen.
Ich möchte heute Morgen anhand der gelesenen Verse drei verschiedene Menschentypen vor unser Auge stellen, die hier erwähnt werden. Diese verschiedenen Menschen gibt es natürlich nie in Reinkultur. Es liegt mir ferner, Menschen in irgendwelche Schablonen pressen zu wollen. Dennoch glaube ich, dass hier grundlegende Arten oder Typen von Menschen genannt werden, die wir etwas näher betrachten sollten.
Vor vielen Jahren habe ich selbst eine Bibelarbeit zu diesem Abschnitt gehört und dort einige Anregungen bekommen. Diese Gedanken habe ich aufgegriffen und weiterentwickelt. Das möchte ich nun weitergeben.
Der Ich-Mensch: Selbstzentriert und gefangen im Fleisch
Den ersten Menschen, den ich hier so geschildert finde, möchte ich den Ich-Menschen nennen – den Ich-Menschen.
Ich lese noch einmal Vers zwölf: „So sind wir nun, Brüder, nicht dem Fleisch Schuldner, um nach dem Fleisch zu leben; denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben.“ Menschen, die nach dem Fleisch leben – ich nenne sie jetzt einmal „Ich-Menschen“.
Zunächst muss ich aber die Frage stellen: Wer von uns versteht wohl diesen Vers, den Paulus hier so schwierig ausgedrückt hat? Für uns ist er jedenfalls schwierig: „So sind wir nun, Brüder, nicht dem Fleisch Schuldner, um nach dem Fleisch zu leben.“ Ein Pfarrer wollte einmal die Verständlichkeit der Lutherbibel testen und hat diesen Vers seinen Konfirmanten gegeben. Sie sollten darüber nachdenken, was Paulus da wohl sagen wollte.
Dann haben die Konfirmanten die Antworten aufgeschrieben, und er hat sie eingesammelt. Die originellste Antwort zu diesem Vers lautete: Paulus hat seine Schulden beim Metzger bezahlt und möchte in Zukunft als Vegetarier leben. „So sind wir nun, Brüder, nicht Schuld nach dem Fleisch, dass wir nach dem Fleisch leben.“ Also BSE-geschädigt? Nein, so ist das natürlich hier nicht gemeint.
Wenn die Bibel von Fleisch spricht, dann meint sie den sündigen Menschen, die gefallene Natur, den Menschen ohne Gott, der nur noch seinem Ich lebt, der seinen Bedürfnissen und Trieben ganz ausgeliefert ist – ein Schuldner des Fleisches. Paulus spricht vom Ich-Menschen.
Was ist das für ein Typ? Der Ich-Mensch ist zunächst vielleicht eine sehr imponierende Gestalt. Er ist selbstbewusst, couragiert, willenstark und setzt seinen Willen durch – sei es durch rücksichtslosen Gebrauch der Ellenbogen, im Beruf oder in der Gemeinde.
Aber er kann auch sehr höflich sein, dann ist es vielleicht taktische Höflichkeit. Er dominiert und erreicht sein gestecktes Ziel. Der Ich-Mensch ist also auf der einen Seite sehr imponierend, auf der anderen Seite aber gleichzeitig mimosenhaft empfindlich. Wehe, er wird bei der Begrüßung übersehen, wehe, ein anderer erhält einen Vorzug – dann reagiert er sehr empfindlich.
Jemand hat einmal gesagt: Empfindlichkeit ist die nach außen gekehrte Seite des Hochmuts. Das ist ein Satz, an dem wir buchstabieren müssen. Empfindlichkeit ist die nach außen gekehrte Seite des inneren Hochmuts. Ich habe das auch schon bei mir festgestellt: Wenn man empfindlich reagiert, ist es oft einfach nur das verletzte, stolze Ich.
Der Ich-Mensch kann sogar ein narzisstischer Mensch sein – jetzt nicht narzisstisch im Sinne des Nationalsozialismus, sondern im Sinne von Narziss. Narcissos war eine Gestalt in der griechischen Sage: Ein junger Mann, der sich in sein eigenes schönes Spiegelbild verliebte und dann vor lauter Sehnsucht nach seinem Spiegelbild zugrunde ging.
Darum wurde er zum Prototyp des in sich selbst verliebten Menschen, des Narzissten. Es gibt Menschen, die in sich selbst verliebt sind. In einem Magazin, das sich mit der Diskoszene auseinandersetzt, war zu lesen: Es ist die Einsicht moderner Soziologen, dass immer mehr Menschen sich selbst zum Objekt der Liebe machen.
Der Wohlstandsbürger wandte sich von den gesellschaftlichen Problemen ab und machte seinen eigenen Körper und seine eigene Seele zum Mittelpunkt seines Interesses. Das ist heute wirklich ein Kennzeichen unserer Gesellschaft geworden. Ich sage das nicht anklagend, ich sage das tief betrübt: Der eigene Körper und die eigene Seele werden zum Mittelpunkt.
Erich Fromm, ein Psychologe, von dem ich wahrlich nicht alles übernehmen würde, sagt einmal: Der Narzisst ist ohne Beziehung zur Welt allein und ängstlich. Dieses Gefühl der Einsamkeit und Angst kompensiert er, gleicht er aus mit seiner narzisstischen Selbstaufblähung.
Selbstaufblähung können sein: bewusstseinserweiternde Drogen, psychotherapeutische Selbstverwirklichung, zunehmender Egoismus in allen Lebensbereichen und übersteigerter Konsum zur Befriedigung des gelangweilten Ichs. Das sind Sätze, ja, da hat Fromm etwas erkannt: Übersteigerter Konsum zur Befriedigung des gelangweilten Ichs.
Menschen, die nach dem Fleisch leben, Ich-Menschen, die sich selbst als die Mitte des Universums sehen. Und wenn wir die Bibel ernst nehmen, erkennen wir, dass der Mensch seit dem Fall in die Sünde, seit unseren Ureltern schon, unter dem Gesetz der Ich-Versklavung steht. Das Ich steht im Mittelpunkt, das Ich ist die Achse, um die sich alles dreht.
„Ich, icher, am ichsten“, hat mal jemand gesagt: Ich bin der Mittelpunkt. Und wir alle sind geborene Ich-Menschen, jeder von uns. Seien wir ehrlich: Von Natur aus sind wir Schuldner des Fleisches.
Nun sind viele von uns bekehrt, wiedergeboren, errettet, neue Menschen geworden. Und trotzdem gibt es auch den Ich-Menschen im christlichen Gewand. Das sind Menschen, die Jesus Christus zwar angenommen haben, ihn aber nie wirklich an die erste Stelle ihres Lebens lassen, nie wirklich die Herrschaft ihres Lebens übergeben.
Sie haben Jesus vielleicht in ihr Leben gelassen, aber das alte Ich bleibt noch auf dem Thron. Ich erkläre das immer gerne an der Regierungsform unseres Nachbarlandes England. Schaut: Offiziell ist die Queen von England die höchste Person im Staat, aber die Politik macht der Premierminister, der Major.
Die Queen darf einmal bei der Eröffnung des Parlaments eine Rede ablesen, die sie nicht mal selbst geschrieben hat, sondern die der Premierminister schreibt. Und sie darf sie vorlesen. So ist manchmal der Herr Jesus bei manchen Leuten im Leben: Er ist die fromme Galionsfigur zum Repräsentieren, aber die Politik macht der Premierminister des eigenen Ich.
Und so darf es nicht sein. Jesus, wenn er wirklich Herr ist, will auf den Thronsessel, er will an das Regiepult unseres Lebens und nicht irgendwo so am Rande sein. Das ist der Platz, der ihm niemals zusteht.
William Macdonald schreibt in einem seiner Bücher, dass im Neuen Testament 22 Mal das Wort „Retter“ vorkommt, dieses wunderbare Wort „Retter“, Soter, aber 524 Mal das Wort „Herr“, Kyrios. Da sehen wir, worauf es ankommt: Er will Erlöser sein für unsere Vergangenheit, aber auch Herr jetzt in unserem Leben, in allen Lebensbereichen.
Denn alles andere ist auch ein Christentum, mit dem wir keine Katze hinter dem Ofen hervorlocken können.
Albert Einstein – jetzt muss ich den Bernd angucken – hat einmal gesagt: Der wahre Wert des Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Egoismus gelangt ist. Wer jetzt lacht, ist schadenfroh. Also: Befreiung vom Egoismus – darum geht es.
Einstein hat das erkannt, ja. Das ist der wahre Wert des Menschen, wenn er zur Befreiung vom Egoismus kommt. Und deswegen sind mir die Kapitel Römer 6 bis 8 so wichtig. Darum nehmen wir sie so langsam und ich hoffe gründlich durch.
Denn hier zeigt uns die Schrift wie an keiner anderen Stelle, dass nicht nur der Herr Jesus für uns gestorben ist am Kreuz, sondern dass wir mit ihm gestorben sind, mit ihm begraben und mit ihm auferstanden zu einem neuen Leben, ja sogar mit ihm schon versetzt sind in das Himmelreich hinein, nach dem Epheserbrief.
Und damit müssen wir ernst machen. Paulus predigt das erlöste Leben, nicht nur: Ja, Jesus, der mir meine Sünden vergibt. Es ist wunderbar, wenn uns der Herr Jesus die Sünden vergibt, aber das ist nicht alles.
Erlösung ist mehr als Vergebung. Die Bibel spricht von Erlösung, auch von Erlösung von unserem Egoismus, von unserer Ich-Herrschaft und dem Ich-Leben unseres Lebens. Nie in Perfektion, nie in Vollkommenheit hier auf dieser Erde, aber doch müssen wir ernst machen mit dieser Botschaft.
Wir sind mit Christus gestorben, und auch unser Ich darf uns nicht mehr tyrannisieren.
Der Pflichtmensch: Gezeichnet von Angst und Leistungsdruck
Lassen Sie uns in diesem Abschnitt einen zweiten Menschentypus kennenlernen, den ich den Pflichtmenschen nennen möchte. Schauen wir uns Vers 15 an. Paulus schreibt: „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wieder zur Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, indem wir rufen: Abba, Vater.“
Nicht einen knechtischen Geist, sagt Luther, oder einen Geist der Knechtschaft.
Was ist das Hauptkennzeichen des Pflichtmenschen? Pflichtmenschen haben einen knechtischen Geist. Sie sind rund um die Uhr von der Angst geknechtet, die Pflicht erfüllen zu müssen.
Liebe Geschwister, ich habe den Eindruck, dass dies ganz besonders ein deutsches Problem ist: der Pflichtmensch. Kein anderes Volk hat einen Kant gehabt, der uns den kategorischen Imperativ eingehämmert hat: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Das ist Kant mit seinem preußischen Pflichtbewusstsein.
„Ich tue meine Pflicht“ – das steht auf meiner Stirn geschrieben, und kein Mensch kann mich daran hindern. Ich muss meine Pflicht tun.
Und genau das haben die Leute gesagt, die in den Konzentrationslagern die Juden bei eisigen Temperaturen auf den Antreteplatz trieben. Dann mussten sie sich ausziehen und wurden mit Wasserschläuchen nass gespritzt, so lange, bis sie erfroren und zu Eis erstarrt sind. Über den Leuten, die das getan haben, stand: „Ich tue meine Pflicht, das hat mein Vorgesetzter befohlen.“ Und jetzt machen sie das auch, ohne zu fragen, ob das gut ist oder nicht.
Das ist ein typisch deutsches Problem: der Pflichtmensch. Das steht bei vielen auf der Stirn geschrieben.
So sind wir gewissenhaft und genau, manchmal sogar übergenau. Andere Nationalitäten können nur den Kopf schütteln über uns. Mal sind es Italiener, Spanier, Franzosen, Amerikaner oder andere, die uns nicht verstehen. Wir sollten auch mal den Kopf schütteln über uns selbst.
Das sind gute Eigenschaften, aber manchmal haben sie einen sehr bitteren Beigeschmack.
Es gibt auch einen Pflichtmenschen im christlichen Gewand, genauso wie es den Ichmenschen im christlichen Gewand gibt. Ich glaube, viele Jünger Jesu sind einfach christliche Pflichtmenschen. Sie helfen, sie opfern sich auf, sie rackern sich ab – vielleicht bis an die Grenzen ihrer Gesundheit – und leben dabei ständig in der Angst, ob sie es Gott recht machen können, ob sie es Menschen recht machen können.
Das ist der ängstliche Typ des Pflichtmenschen, der immer so eine heimliche Sorge hat, ob er es allen recht machen kann.
Dann gibt es da noch den gesetzlichen Typ des Pflichtmenschen. Seine Kennzeichen sind fromme Rechtschaffenheit: Nur er allein macht es richtig. Und dann urteilt er messerscharf und oft überheblich über andere, die es vielleicht nicht so genau machen wie er.
Ein weiteres Kennzeichen: keine Freude. Der Pflichtmensch ist ein freudloser Mensch. Er kann sich nicht recht freuen über die Gnade, dass Gott uns den ganzen Himmel und die ganze Seligkeit schenken will – ganz aus Gnaden, ohne Verdienst und Würdigkeit.
Er kann sich auch nicht an der Gnade freuen, denn er will ja bewusst oder unbewusst bringen, erfüllen und die Liebe Gottes verdienen. So, wie er sich vielleicht auch die Liebe seiner Eltern schon verdienen wollte und die Liebe seines Partners oder seiner Mitmenschen verdienen will.
Und dann gibt es auch noch ein Kennzeichen: Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit beim Pflichtmenschen. Weil er an sich selbst einen solch strengen Maßstab anlegt, tut er es auch bei anderen. Das macht ihn hart und unbarmherzig.
Ich musste gestern darüber nachdenken. Ich habe bei mir beobachtet: Überall da, wo ich meine, stark zu sein, stehe ich in der Gefahr, unbarmherzig mit anderen zu sein. Geht es Ihnen auch so?
Dort, wo wir meinen, stark zu sein, werden wir ganz schnell unbarmherzig.
Wenn wir körperlich gesund sind, dann denken wir: Warum steht denn diese junge Frau auf und sagt, sie müsse am Sonntagnachmittag schlafen, damit sie die Woche übersteht? Sie ist schwer krank, deshalb muss sie sich am Sonntagnachmittag hinlegen und Kraft sammeln.
Wenn jemand seelisch gesund ist, dann fällt es ihm ungeheuer schwer, mit jemandem mitzufühlen, der an Depressionen leidet. Das fällt einem wirklich sehr schwer, wenn man das noch nie gehabt hat. Ganz schnell wird man hart und unbarmherzig und denkt: Mensch, warum reißt er sich nicht zusammen? Mit ein bisschen gutem Willen könnte er doch da sein.
Wenn jemand guten Schlaf hat, er schläft wie ein Baum, kann sich hinlegen und zack ist er weg – wie schnell wird man unbarmherzig mit solchen, die das nicht haben.
Überall dort, wo wir stark sind oder meinen, stark zu sein, werden wir unbarmherzig und hart.
Der fromme Pflichtmensch schwankt zwischen ängstlicher Verzagtheit und überheblicher Sicherheit. Die Wurzel für beides ist der knechtische Geist.
Schauen Sie: Knecht sein heißt, ich stehe unter einem bestimmten Leistungszwang und Leistungsdruck. Der Knecht musste ein ganz bestimmtes Soll erfüllen. Er hatte sein Tagessoll, und das musste er erfüllen. Abends wurde dann Bilanz gezogen.
Ich muss immer etwas tun, damit Gott mit mir zufrieden ist. Ich muss jeden Tag beten und in der Bibel lesen, ich muss in den Gottesdienst gehen, ich muss dem helfen und jenes tun und dies lassen, damit Gott mich liebt und annimmt.
Ihr Lieben, das ist typisches Knechtswesen, das ist knechtischer Geist. Und in jedem von uns steckt das drin, auch in mir. Das steckt in uns drin.
Dann leben wir in der Angst: Habe ich genug getan? Habe ich schon genug gebracht? Wird es mir ausreichen?
Deswegen haben Pflichtmenschen oft auch Probleme mit der Heilsgewissheit. Weil sie bewusst oder unbewusst auf ihr frommes Leben setzen, wissen sie nie, ob es reicht, ob sie schon fromm genug gewesen sind.
Pflichtmenschen, auch solche im christlichen Gewand, sind ganz, ganz arm dran. Das sind die Ärmsten unter der Sonne.
Der neue Mensch: Geleitet vom Geist und Kind Gottes
Bevor wir nun zum Dritten kommen, wollen wir noch einen Augenblick innehalten. Während wir zuhören, fragen wir uns ständig: Wo gleiche ich eigentlich dem geschilderten Menschen? Bin ich mehr der Ich-Mensch, der noch ganz auf dem Egotrip ist? Oder bin ich eher der Pflichtmensch, der erfüllen will, der ängstliche oder gesetzliche Typ?
Ich bin froh, dass ich hier noch nicht aufhören muss. Es wäre wirklich schade, wenn ich jetzt mein Ringbuch zuklappen müsste. Nein, wir wollen einen dritten Menschentyp anschauen, einen Grundtypus, möchte ich ihn nennen: den neuen Menschen, den neuen Menschen.
Wir lesen noch einmal die Verse 14 bis 16. Paulus schreibt: „Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, die sind Söhne Gottes; denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, der euch wieder zur Furcht bringt, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, durch den wir rufen: ‚Abba, Vater!‘ Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“
Hier sehen wir: Sowohl der Ich-Weg als auch der Pflichtweg sind Holzwege. Das Heil liegt weder im Egotrip noch in der christlichen Pflichterfüllung. Aber es gibt einen anderen Weg – den neuen Menschen.
Hier ist vom Geist die Rede. Gerade in Kapitel 8 des Römerbriefs kommt das Wort Geist siebzehnmal vor. In den meisten Fällen ist der Heilige Geist gemeint, der schöpferische, gute Geist Gottes, der bei der Wiedergeburt in uns hineingekommen ist.
Jesus Christus hat uns durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen einen neuen Weg geöffnet, der in die Freiheit der Kinder Gottes führt.
Dreimal war hier von Kindschaft die Rede. Gott will keine Knechte, er will Kinder. Das ist ein ganz großer Unterschied. Gott will Kinder, keine Knechte.
Ich muss ein Beispiel erzählen: Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es im Osten unseres Landes große Güter – in deiner Heimat, Ulf, in Ostpreußen, Mecklenburg und so weiter. Ein solcher Großgrundbesitzer war Friedrich von Bodelschwing. Er hatte einen Verwalter, der ihn „Herr von Bodelschwing“ nannte.
Jeden Morgen musste dieser Verwalter, dieser Knecht, vor seinem Schreibtisch antreten und Bericht geben, was gestern geschehen war. Er nahm Befehle entgegen, was heute zu geschehen hatte. Es ging fast militärisch zu zwischen dem Besitzer und dem Verwalter – Herr und Knecht.
Und mitten in einer solchen Besprechung öffnet sich plötzlich ohne Anklopfen die Tür. Der kleine sechs- oder siebenjährige Sohn springt herein, geht hinter den Schreibtisch, fällt seinem Vater um den Hals, gibt ihm einen Kuss und sagt: „Guten Morgen, Papi.“
Das hätte der Gutsverwalter niemals tun dürfen – hinter den Schreibtisch gehen. Er stand dann draußen im Regen. Das hätte er nie tun dürfen, denn er war Knecht. Aber der Kleine war Kind, er war Sohn. Ein ganz anderes Verhältnis, eine ganz andere Beziehung, eine ganz andere Nähe.
Merkt ihr den Unterschied zwischen Knecht und Kind? Gott will keine Knechte, er will Kinder. Der neue Mensch, von dem die Bibel spricht, ist ein Kind Gottes.
Die verlorenen Söhne als Bild für die Kindschaft
Ich muss noch einmal über Lukas Kapitel 15 nachdenken. Wenn man das bitte kurz aufschlägt: Lukas 15 ist etwas Gewaltiges. Das kommt wunderbar zum Ausdruck in der Erzählung unseres Herrn über die beiden verlorenen Söhne, den älteren und den jüngeren.
In Lukas 15 möchte ich euch auf etwas aufmerksam machen, und zwar ab Vers 18. Ihr kennt die Geschichte: Der jüngere Sohn war weggelaufen, er saß bei den Schweinen und war völlig ruiniert. Jetzt sagt er dort: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen. Mach mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Er hat die Kindschaft verspielt. Jetzt gibt es für ihn nur noch eins: Tagelöhner sein, die Gunst des Vaters zurückzugewinnen. So denkt er.
Wir lesen weiter: „Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt.“ Hier spricht Jesus von Gott. Und „lief hin“ – das steht nur einmal in der Bibel, dass Gott läuft. Hier läuft er dem verlorenen Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn zärtlich.
Der Sohn aber spricht zu ihm: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen.“ Jetzt müssen wir genau hinschauen, was der Sohn ausspricht – und was er nicht sagt. Er sagt nicht: „Mach mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Das wollte er sagen, aber er sagt es nicht. Warum? Weil er durch die Liebe des Vaters erkannt hat, dass er voll rehabilitiert ist als Sohn, als Kind. Der Vater will keine Tagelöhner, auch keine christlichen Tagelöhner. Er will Kinder.
Darum kommt ihm dieser Satz nicht über die Lippen: „Mach mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Gott will keine Tagelöhner, und du brauchst auch keiner zu sein. Er will Kinder, Gottes Kinder, und er will der Vater sein. Das ist mir so wichtig geworden. Wilhelm Busch hat eine Predigt gehalten über diesen Satz, der nicht in der Bibel steht – über den weggelassenen Satz. Eine ganze Predigt über den Satz, der nicht dasteht, und gerade deshalb so wichtig ist. Er zeigt den Unterschied zwischen Knecht und Sohn. Hier zeigt uns die Bibel: Gott will Kinder.
Wir, die wir das erleben durften, die wir erkannt haben, dass Jesus Christus für uns am Kreuz gestorben ist, dass er auferstanden ist und wieder zum Vater gegangen ist und seinen Heiligen Geist gesandt hat, können diesen Geist empfangen. Man kann Jesus Christus aufnehmen in sein Herz und Leben, an das Regiepult, auf die Kommandobrücke.
Wir, die wir das getan haben, die wir Jesus aufgenommen haben, sind Kinder Gottes. Viele von uns kennen diesen Vers und freuen sich daran. Aber wie viele haben ihn wirklich aufgenommen? „Ihnen gab er das Recht, die Vollmacht, Kinder Gottes zu sein“ – nicht Tagelöhner, sondern Kinder Gottes, die von neuem geboren sind.
Diese Gewissheit schenkt er uns. Vielen von uns hat er sie geschenkt. Von dem hier in Vers 16 die Rede ist: „Ich bin ein Gotteskind.“ Sein Geist, der in uns wohnt – Jesus Christus durch den Geist in uns – gibt Zeugnis, dass wir Gotteskinder sind. Das kann man nicht beschreiben, aber man kann es erleben.
Als wir neulich im Hauskreis zusammensaßen, forderte uns Michael auf, die Stellen im Neuen Testament zu nennen, die uns persönlich vom Heiligen Geist am wichtigsten sind. Martin sagte, ihm sei diese Stelle am wichtigsten: Römer 8,16 – „Sein Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“
Eine wunderbare Stelle! Das kann man nicht beschreiben, man kann nur erleben, wie es ist, wenn man innen drin die Gewissheit hat: Jawohl! Ich bin angenommen, ich bin ein Kind Gottes, und ich brauche nicht Tagelöhner zu sein.
Die Liebesbeziehung zu Gott als Vater
Das Wichtigste, was der Heilige Geist uns schenkt, ist eine neue persönliche Beziehung zu Gott. Paulus drückt dies hier auf wunderbare Weise aus. Er sagt: „Aber, lieber Vater.“ Dabei verwendet er das aramäische Kosewort, mit dem Kinder ihre Liebe zum Vater ausdrücken. Es ist das, was wir heute mit „Fadi“ sagen würden oder was die Amerikaner mit „Daddy“ ausdrücken. Im Aramäischen lautet dieses Wort „Aba“. Es bedeutet „aber lieber Vater“ und drückt eine ganz innige Kind-Vater-Beziehung aus.
Dieses Wort „aber lieber Vater“ schreit der Geist in unseren Herzen. Allein an diesem Wort können wir wunderbar erkennen, was es mit dem durch den Heiligen Geist erneuerten Menschen auf sich hat. Er besitzt eine Liebesbeziehung zu Gott. Er sagt „Aber lieber Vater“ – nicht mehr aus einer knechtischen Pflicht heraus, sondern aus einer Liebesbeziehung, die genährt wird durch die große Liebe Gottes.
Gott hat seinen Sohn für uns ans Kreuz gegeben. Er hat uns zuerst geliebt und mit ewiger Liebe geliebt. Nun ist der Geist dieser Sohnschaft in unsere Herzen ausgegossen, und wir dürfen Gott wieder lieben. Auch wenn diese Liebe noch schwach ist, darf sie wachsen. In deinem Herzen schreit der Geist der Sohnschaft: „Aber lieber Vater.“
Oder ist Gott für dich noch ein ferner Nebel oder eine nebelhafte Ferne? Musst du noch vom lieben Gott sprechen oder von einem anderen Gottesbegriff? Oder ist er für dich wirklich lieber Vater geworden? Lass dich beschenken mit der bedingungslosen Liebe Gottes oder lass dich neu beschenken.
Die Bedeutung der täglichen Beschäftigung mit dem Römerbrief
In einem Buch fand ich die Empfehlung, die jemand gab, den Römerbrief, die Kapitel fünf bis acht, dreißig Tage lang jeden Tag zu lesen. Warum? Das, was wir dreißig Tage lang regelmäßig wiederholen, wird zu einem Teil von uns.
Dieser Seelsorger gab den Rat an einen Christen und sagte: Lies mal dreißig Tage lang Römer fünf bis acht jeden Tag. In Römer 5 wird uns einzigartig gezeigt, dass wir bedingungslos geliebt und angenommen sind. Gottes Liebe erwies sich gegen uns, als wir noch Feinde waren. Das steht in Römer 5.
In Römer 6 finden wir eine Hilfe gegen die Angst, dass wir uns wieder versündigen könnten. In Römer 7 gibt es eine Hilfe gegen die Angst, es nicht vollkommen zu schaffen. Und in Römer 8 wird uns diese wunderbare, innige Beziehung der Gotteskindschaft gezeigt.
Vielleicht ist das für den einen oder anderen wirklich ein guter Gedanke, ein Tipp: dreißig Tage lang jeden Tag Römer 5 bis 8 zu lesen.
Vertrauen und Gehorsam in der Beziehung zu Gott
Ich muss zum Schluss kommen. Wir sprechen davon, dass dieses Wort eine Liebesbeziehung beschreibt, aber auch eine Vertrauensbeziehung. Kinder vertrauen dem Vater.
Wenn ich an unsere Kleinen denke, wie sie mir noch vertrauen, wie sie von einer hohen Mauer herunterspringen, wenn ich nur die Arme ausbreite – das ist ihnen ganz egal, wie hoch das ist. Der Papa fängt sie immer auf. Ja, irgendwann wird das wahrscheinlich aufhören, aber im Moment ist es noch so.
So haben Kinder Vertrauen zum Vater, und dieses Vertrauen dürfen wir zu Gott haben. Der Heilige Geist will uns dahinführen, dass wir Gott in allen Bereichen unseres Lebens vertrauen. Das gilt auch für gesundheitliche Belange, finanzielle Fragen, Partnerschaft, Kindererziehung, Beruf oder was es sonst sein mag. Wir sollen Gott vertrauen.
Es geht um eine Vertrauensbeziehung. Und wie ich vorhin schon sagte: Es ist auch eine Gehorsamsbeziehung. Gott ist nicht mein Partner, er ist der Herr und verlangt Gehorsam. Aber dieser Gehorsam soll aus Liebe und Einsicht geschehen, nicht aus einem knechtischen Kadavergehorsam.
Der Heilige Geist will uns dahinführen, dass wir Gottes Wort gerne tun und seinen Willen gerne erfüllen, weil wir wissen, dass er gut für uns ist. Es ist das Beste, was uns passieren kann, wenn wir im Zentrum des Willens Gottes stehen.
Zusammenfassung der drei Menschengruppen und Ausblick
Wir haben drei verschiedene Menschengruppen gesehen, die hier angesprochen werden. So möchte ich sie einmal charakterisieren: den Ich-Menschen in hundert verschiedenen Schattierungen, den Pflichtmenschen und auch den neuen Menschen.
Ich bin froh, dass viele wirklich neue Menschen geworden sind, erneuert durch den Geist Gottes, der in ihnen wohnt. Jesus Christus hat Wohnung genommen, unsichtbar in ihren Herzen.
Wir brauchen nicht die Alten bleiben. Wir dürfen kommen, wie wir sind, aber wir müssen nicht so bleiben. Wir sind in der Veränderung, in der Umgestaltung und in einem Prozess, in dem auch die Reste von Ich-Menschen und Pflichtmenschen, die sicherlich an uns sind, umgestaltet werden.
Diese Umgestaltung führt zu einer wunderbaren Kindschaft, zu einer Kind-Vater-Beziehung zu unserem Herrn.
Niemand muss bleiben, wie er ist. Auch ich muss nicht so bleiben, wie ich bin. Gottes Geist will uns verändern. Das ist die Botschaft von Römer 8.
Schlussgebet und Dank
Lass uns über das, was wir gehört haben, gemeinsam aufstehen und beten.
Ja, Vater im Himmel, wir danken Dir, dass wir jetzt so vor Dich treten dürfen. Wir dürfen sagen: Lieber Vater, ja, das bist Du uns geworden durch unseren Herrn Jesus Christus. Danke, Herr, dass wir freien Zugang zu Dir haben durch das Opfer von Golgatha. Wir müssen nicht im Vorhof stehen bleiben, sondern dürfen in das Allerheiligste kommen, bis zu Deinem Vaterherzen – auch jetzt in diesem Augenblick.
Wir danken Dir, Vater im Himmel, dass Du uns kennst, dass Du auch mich kennst. Herr, Du weißt, wie sehr uns die Sünde völlig verderbt hat und wie wir von Natur aus völlig verkehrt sind. Aber wir preisen Dich, dass Dein Geist in uns etwas Neues begonnen hat – etwas wirklich Neues, nicht etwas Veredeltes oder Verbessertes vom Alten, sondern etwas ganz Neues. Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur.
Danke für die Kindschaft, für die Sohnschaft, in der wir stehen dürfen. Nun bitten wir Dich heute Morgen: Lass uns das viel mehr bewusst werden, ganz neu bewusst werden, was uns durch die Sohnschaft geschenkt ist – dass Du unser Vater geworden bist. Lass niemanden von uns ein christlicher Tagelöhner sein und auch kein christlicher Ichmensch.
Gib, Herr, dass wir wirklich in dieser vollen Beziehung der Sohnschaft stehen und darin immer mehr wachsen dürfen, Schritt für Schritt. Wir preisen Dich dafür, dass Dein Geist Sein Werk an uns durch Dein Wort tut. Amen.
