Einführung in den Pietismus und seine historischen Wurzeln
Man kann die Frömmigkeitsbewegung des Pietismus relativ eng eingrenzen, etwa von 1650 bis 1750, um grobe Zeiträume zu nennen. Würde man genauer differenzieren, müsste man die Zeitspanne feiner bestimmen.
Der Pietismus beschreibt eine bestimmte Art und Weise, den Glauben zu leben. Diese Art des Glaubenslebens war jedoch schon vorher vorhanden. Man findet sie in gewisser Weise auch in Formen der mittelalterlichen Mystik, auf die sich die Pietisten bewusst berufen. Zudem gab es bereits Personen in der Zeit der Reformation, die ähnliche Ideen vertraten, wie sie später im Pietismus ausgeprägt wurden.
Dies lässt sich unter anderem an religiösen Dichtern dieser Zeit festmachen. So wurde beispielsweise Johann Arndt genannt, dessen Bücher immer wieder gelesen und aufgenommen wurden. Sie animierten die Menschen, ihre eigene Geistlichkeit zu leben und auszuleben.
Der Pietismus wird als kirchengeschichtliche Epoche jedoch vor allem am Leben von Philipp Jakob Spener festgemacht. Wir haben uns ihn intensiver angeschaut und festgestellt, dass er insbesondere als Pfarrer seine Aufgabe und Rolle in der Kirche sah. Er versuchte lebenslang, öffentlichen Konflikten mit der Kirche aus dem Weg zu gehen. Dabei betonte er immer wieder, wie einig er mit der lutherischen Lehre und der lutherischen Kirche war.
Gleichzeitig bemühte er sich, innerhalb dieses kirchlichen Rahmens, so wie er ihn verstand, neues Leben hineinzubringen. Er meinte, dass vieles, was damals in der Kirche vorhanden war, toter Buchstabenglaube gewesen sei. Neben dem guten dogmatischen Erbe, das durch die lutherische Orthodoxie vermittelt wurde, sollte nun auch die persönliche Beziehung zu Gott eine Rolle spielen – und zwar die des einzelnen Menschen, des Subjekts.
August Hermann Francke und die Ausweitung des Pietismus
Das wurde dann aufgenommen und weitergeführt durch August Hermann Francke. Den haben wir uns das letzte Mal etwas ausführlicher angeschaut. Er wächst als junger Mann in einer Familie auf, die pietistische Ideen teilt. Seine Familie hat auch gewisse Bezüge zu Philipp Jakob Spener.
Als Student lernt er Spener schließlich kennen, erst über seine Schriften und später auch persönlich. Philipp Jakob Spener ist zu diesem Zeitpunkt in Berlin, und Francke besucht ihn dort mehrfach. Durch diese Begegnungen kommen sicherlich seine intensiveren Auseinandersetzungen zum Thema Wiedergeburt und Bekehrung zustande.
Diese erlebt er nach eigenen Angaben bei einer Predigtvorbereitung in Lüneburg und ordnet sein Leben von da an vollkommen anders. Bei ihm ist allerdings schon stärker zu beobachten, dass er einen eigenständigen Weg geht. Ihm ist es nicht immer wichtig, von der Pfarrerschaft gemocht und anerkannt zu werden. Er hat keine Probleme damit, auch mal Konfrontationen einzugehen.
Das haben wir gesehen: Es beginnt, als er als junger akademischer Dozent in Leipzig auftritt. Dort kommt es zu Konfrontationen seitens der orthodoxen Lutheraner, die mit seiner Haltung nicht einverstanden sind. Trotzdem bleibt er bei seiner Überzeugung und wird schließlich aus der Stadt verwiesen.
Ähnliches passiert, als er sein Pfarramt in Erfurt übernimmt. Auch dort kommt es zu Konflikten und Auseinandersetzungen. Ebenso haben wir später bei der Gründung der frankischen Anstalten in Halle sowie seiner Professur an der Universität Halle und seinem Pfarramt in Glaucha, einem Vorort von Halle, gesehen, dass es zu Konfrontationen und Auseinandersetzungen kommt, denen er nicht ausweicht.
Hier zeigt sich also eine Weiterentwicklung, und zwar nicht nur in der Frage der Stellung von Pietismus und Kirche. Man merkt, dass er durchaus bereit ist, die Kirche anzugreifen und Kritik zu üben – etwas, das Spener zuvor nur sehr zurückhaltend getan hat.
Ein weiterer Aspekt ist, dass jetzt von der Kirche unabhängige Werke entstehen, die den Pietismus weitertragen wollen. Die frankischen Stiftungen sind kein Werk der Kirche, sie gehören nicht direkt zur Kirche, sondern sind freie Einrichtungen. Das wird ihm sogar vom brandenburgischen Kurfürsten, später vom preußischen König, garantiert: Die Anstalten sollen frei bleiben. Und sie sind es auch geblieben in der ganzen Folgezeit.
Darüber hinaus plant er nicht nur, in Deutschland die Christenheit zu erneuern. Sein eigentliches Ziel ist es, das Christentum weltweit auszubreiten. Ich habe bereits erwähnt, dass von Halle starke missionarische Impulse ausgehen, insbesondere die Mission in Tranquebar in Indien, die bis heute noch existiert. Dort gibt es bis heute noch Missionsgemeinden aus dieser Zeit.
Er sieht darüber hinaus auch seine Arbeit in Russland, im Nahen Osten und anderen Regionen. Er versucht, den christlichen Glauben in pietistischer Prägung weiterzutragen.
Natürlich wirkt er auch durch sein Waisenhaus, in dem Lehrer ausgebildet werden, die in ganz Europa gefragt sind. Ich habe das letztes Mal stark betont: Er will nicht nur Menschen zur Bekehrung führen, sondern sieht den bekehrten Menschen als Grundmodell für die Erneuerung der gesamten Welt an.
Das eigentliche Ziel ist also nicht nur, dass sich der einzelne Mensch bekehrt und dann in seinem bisherigen Umfeld lebt. Vielmehr soll die Bekehrung zu einer Veränderung der gesamten Welt führen.
Und dort, wo er anfängt, ist es in der Pädagogik. Der Grund ist einfach: Er geht davon aus, dass, wenn kleine Kinder in ihrer Grundeinstellung, ihrem Denken und Verhalten verändert werden, dadurch eine ganze nächste Generation verändert wird.
Genau so passiert es auch. Ich habe letztes Mal darauf hingewiesen, dass viele Veränderungen, gerade in Preußen, zu dieser Zeit auf die Anstalten in Halle zurückgehen. Man kann kaum überschätzen, welche Auswirkungen diese für die Prägung Preußens haben.
Das würde man sehen, wenn man die Zeit des Barocks weiterverfolgt. Während die meisten europäischen Fürsten eher Versailles nacheifern und im Luxus leben, sind der brandenburgische und später der preußische Herrscher eher schlicht und einfach.
Die Konfessionsgrenze wird nicht so stark betont. In kaum einem anderen Land werden so viele religiöse Flüchtlinge aufgenommen wie in Preußen. Das zeigt durchaus Veränderungen, auch in Bezug auf die Standeschranken.
Die Standeschranken werden in Preußen viel eher eingeschränkt als in anderen deutschen Ländern. Es gibt also Auswirkungen auf die Gesellschaft, auf das Leben der Menschen und natürlich auch auf das Schulwesen.
Und genau diese Perspektive hat Francke.
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die dritte Generation des Pietismus
Heute beschäftigen wir uns mit der dritten Generation des Pietismus. Stellvertretend für viele andere, die in dieser Zeit gewirkt haben, betrachten wir Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.
Dabei fällt auf, dass diese neue Prägung des Pietismus stärker von der Kirche losgelöst ist. Es werden eigene Strukturen geschaffen. Was bei Zinzendorf besonders auffällt, ist seine Persönlichkeit, die sich deutlich von derjenigen Späners oder Frankes unterscheidet.
Bei Späner haben wir den typischen Theologen vor uns. Franke hingegen könnte man eher als einen frommen Manager bezeichnen. Damit meine ich nicht negativ, sondern möchte betonen, wie viel er initiierte, durchsetzte, veränderte und plante. Er ging dabei nicht übermäßig gefühlsbetont vor, sondern eher intellektuell. Er verarbeitete die Sache und trug sie weiter.
Zinzendorf dagegen ist, wenn man es negativ ausdrücken wollte, etwas flatterhaft. Positiv formuliert ist er sehr innovativ. Die Meinungen zu Zinzendorf divergieren stärker als bei anderen bedeutenden Persönlichkeiten des Pietismus.
Für einige ist er ein Erzschwärmer und Sektierer. Diese sehen ihn als problematisch an und fordern sogar ein Verbot seiner Aktivitäten. Er wurde mehrfach des Landes verwiesen. Für andere wiederum ist er ein Vorbild der Apostel und Jesu Christi.
Diese große Spannbreite zeigt sich auch in einzelnen Szenen seines Lebens. So finden wir Zinzendorf, als Wesley ihn besucht, draußen auf dem Feld. Dort arbeitet er gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern in einfacher Kleidung. Für einen Adligen seiner Zeit war das unvorstellbar.
Auf der anderen Seite sehen wir ihn, als er seine Antrittspredigt in der Stiftskirche in Tübingen hält. Dort trägt er seine prächtige Adelskleidung mit Orden auf der Brust. Vor ihm geht ein Diener, der auf einem Samtkissen seine Bibel trägt. Man stelle sich das einmal vor: Ein Pfarrer, der so ein Auftreten zeigt. Er schreitet in prunkvoller Kleidung hinein, der Diener trägt die Bibel voran.
Diese Gegensätze prägen Zinzendorf. Er vereint beide Seiten in seiner Persönlichkeit, und das zeigt sich auch in seinem Lebenslauf. Dieser ist recht bunt und vielfältig.
Viele seiner Gedanken sind zukunftsweisend, andere bringen ihn in die Nähe des Sektierertums. So entsteht ein Bild einer sehr abwechslungsreichen und vielschichtigen Persönlichkeit.
Herkunft und frühe Jahre von Zinzendorf
Möglicherweise gründet das Ganze auch schon auf seiner Geschichte. Er ist jetzt nicht nur Adliger, sondern gehört sogar in Deutschland zum Hochadel. Die Vorfahren seines Vaters stammen aus Österreich. Dort wurden sie ihres Glaubens wegen vertrieben, da sie evangelisch waren. Anschließend kamen sie nach Sachsen. Mütterlicherseits gehört die Familie zum sächsischen Adel. Die von Zinzendorffs waren damals eine der bedeutenden Adelsfamilien Deutschlands.
Vater und Mutter sind beide fromm und fühlen sich dem Pietismus nahe. Sie haben persönlichen Kontakt sowohl zu Francke als auch zu Spener. Allerdings stirbt der Vater relativ früh, gerade um die Geburt von Nikolaus Ludwig Zinzendorf herum. Seine Frau heiratet daraufhin den Generalfeldmarschall von Nazbar. Dieser war damals einer der führenden Militärs in Preußen und gehörte ebenfalls zu den frommen, pietistischen Generälen am preußischen Königshof.
Sie zieht nach Preußen, und wie es damals häufig üblich war, wird das Kind woanders in Obhut gegeben. Diejenige, die sich um das Kind kümmert, ist die Frau von Gersdorf, also die Großmutter Zinzendorfs. Sie gilt damals als eine der gelehrtesten Frauen ihrer Zeit. Da sie pietistisch gesinnt ist und die Bibel für sehr wichtig hält, liest sie selbstverständlich Griechisch und Hebräisch, Latein sowieso, Französisch auch und natürlich Deutsch. Sie setzt sich intensiv damit auseinander – und das in einer Zeit, in der Frauenbildung noch nicht hochgeschrieben oder als wichtig angesehen wurde.
Ich habe bereits erwähnt, dass gerade in Bezug auf die Frauenbildung auch Francke Großes leistet. Er ist einer der Ersten, die in Deutschland eigene Schulen für Frauen einrichten. Das habe ich das letzte Mal ausführlich dargelegt. Hier haben wir ebenfalls eine Frau im Pietismus, nämlich Henriette von Gersdorf, die Großmutter Zinzendorfs, die ihn aufnimmt.
Zinzendorf wächst die ersten Jahre seines Lebens in einem Schloss auf, nämlich dort, wo die Großmutter wohnt. Das Schloss dürfen wir uns nicht wie Versailles vorstellen, eher etwas burgähnlich, mit großen Hausflügeln und Angestellten. Henriette von Gersdorf ist verwitwet, das heißt, hier leben in erster Linie die Großmutter und der Enkel. Weitere Kinder gibt es nicht.
Zur normalen Schule geht Zinzendorf nicht. Das wäre damals undenkbar gewesen: Ein Hochadliger geht nicht einfach zu einer normalen Schule, er hat Privatlehrer. Also werden Privatlehrer geholt, die ihn unterrichten. Auch das ist eine Besonderheit. Zinzendorf sagt im Nachhinein, dass sein liebster Spielkamerad der Herr Jesus war – so formuliert er es später. Das ist vielleicht für einen drei-, vier- oder fünfjährigen Jungen schon etwas Außergewöhnliches. Zum großen Teil liegt das daran, dass keine anderen Kinder da sind und die Großmutter, die eher streng und gelehrt ist, nicht viel Raum für Spielen lässt.
Als es schließlich zur weiteren Schulbildung geht, also Lesen und Schreiben, übernimmt der Hauslehrer diese Aufgaben im Schloss Bertelsdorf in Großhennersdorf. Bertelsdorf ist ein weiteres Schloss, das die Großmutter ebenfalls besitzt. Später, als Zinzendorf eine weiterführende Schule besuchen soll, bittet die Großmutter Francke, den sie persönlich kennt, um einen Hauslehrer. Das war damals weit verbreitet: Viele, die offen für Kinderbildung waren, wandten sich an Francke, um Lehrer zu bekommen, weil diese pädagogisch und geistlich gut waren.
Francke lehnt jedoch ab – nicht, weil er etwas gegen die Großmutter hat, sondern weil im Moment keine Lehrer verfügbar sind. Überall gibt es Anfragen, und er braucht die Lehrer selbst in seinen Anstalten. Stattdessen schlägt er vor, dass der kleine Nikolaus doch nach Halle kommen kann. Das war fast eine Revolution, denn bisher gab es keine Hochadligen unter den Schülern in Halle. Zwar gab es Söhne von Baronen und Freiherren, aber aus dieser Ebene des Adels waren bisher keine Schüler dort. Der Grund lag darin, dass Hochadlige Wert darauf legten, dass ihre Kinder zuhause, getrennt und standesgemäß unterrichtet wurden.
Die Großmutter befürwortet den Vorschlag sehr, der Onkel, der gleichzeitig Mitvormund ist, spricht sich dagegen aus Gründen des Standes aus. Schließlich einigt man sich auf einen Kompromiss: Zinzendorf wird nach Halle geschickt, aber unter Sonderbedingungen. Er soll nicht im Internat mit den anderen Schülern leben, sondern ein eigenes Apartment bekommen. Außerdem soll er einen Haushofmeister erhalten, der ihn währenddessen betreut – also Schuhe anzieht, sauber macht und so weiter.
Man kann sich vorstellen, welchen Eindruck das an der Schule gemacht haben muss. Alle anderen Schüler kommen, und dann fährt Zinzendorf mit der Kutsche vor, begleitet von einem Diener, der ihm die Schuhe öffnet und die Koffer trägt. Die Situation gegenüber den anderen Mitschülern lässt sich leicht vorstellen: Sie ordnen ihn sofort als eingebildet ein, als jemanden, der sich besser fühlt.
Zinzendorf leidet immer wieder darunter. Wo der Haushofmeister nicht anwesend ist, ärgern die Mitschüler ihn. Das passiert selbst an einer frommen Schule, und dort tut die Schule nichts dagegen. Es wurde von mehreren Fällen berichtet, in denen er in den Dreck geworfen wurde. Außerdem wurde er gefragt, warum seine Kleidung schmutzig sei. Seine Sachen und Bücher wurden ihm weggenommen, um ihn zu ärgern. Obwohl er an einem frommen Ort war, war Zinzendorf eher isoliert.
Es wurde durchgesetzt, dass er jeden Mittag am Tisch mit August Hermann Francke essen sollte. Das sollte die Bedeutung des Schülers unterstreichen. Auch das wirkte nicht positiv auf seine Mitschüler, denn dadurch entstand nur der Eindruck, er wolle etwas Besonderes sein – was gar nicht sein Interesse war.
Zu allem Übel betrieb sein Haushofmeister doppeltes Spiel. Er setzte sich nicht für seinen Zögling ein, sondern hoffte, in der Familie von Zinzendorf weiter aufzusteigen als nur zum Betreuer des Enkels. Regelmäßig schrieb er Berichte an den Onkel darüber, was Zinzendorf machte und wo er angeblich versagt hatte. Dabei war es gar nicht seine Schuld, denn Zinzendorf war zu diesem Zeitpunkt ein eifriger Schüler. Er hatte nicht die Flausen im Kopf, die viele andere Schüler hatten.
Er hatte nur noch zwei weitere Freunde. Die drei trafen sich regelmäßig – man muss sich das vor Augen halten: Zwölf-, dreizehn-, vierzehn- oder fünfzehnjährige Jugendliche, also das, was wir heute Pubertät nennen. Sie beteten regelmäßig. Beeindruckt von den Missionaren, die regelmäßig in Halle waren und unter anderem auch am Tisch von Francke mit aßen, beteten sie für die Weltmission.
Sie gründeten den sogenannten Senfkornorden. Dabei war Zinzendorf sich durchaus bewusst, dass seine Kraft klein war – wie die eines Senfkorns. Aber er dachte, Gott könne daraus etwas Großes machen. Zusammen mit zwei Freunden, die ebenfalls aus dem Adel kamen, traf er sich zum Gebet und schmiedete Pläne für die Missionierung der Welt.
Auch das war etwas Ungewöhnliches für die Entwicklung eines Kindes. Doch hier wird deutlich, dass eine tiefe Frömmigkeit geprägt wurde, eine tiefe Liebe zur Bibel und eine Sicht für die Weltmission.
Unterschiedliche Auffassungen zur Bekehrung zwischen Franke und Zinzendorf
Eine Sache, bei der Franke und Zinzendorf jedoch lebenslang nicht ganz einig sind, ist die Frage der Bekehrung. Franke hatte eine ganz deutliche Bekehrung erlebt und konnte sich an Tag und Stunde erinnern. Zinzendorf hingegen nicht. Deshalb war Franke ihm gegenüber heute etwas argwöhnisch. Was ist das für einer, der irgendwie so fromm lebt? Das kann doch gar nicht sein. Wo hat er sich bekehrt?
Bei Zinzendorf haben wir typischerweise jemanden vor Augen, der kein so deutliches Bekehrungsdatum hat. Das finden wir auch nicht in seiner Biografie. Ich komme immer wieder auf einige emotionale Erlebnisse zurück, die er im Glauben hatte, das schon. Aber er würde nie sagen, er war vorher nicht bekehrt.
Das liegt auch daran, dass dieser Junge außergewöhnlich aufwächst. Schon als kleines Kind, schon als Dreijähriger, bekommt er von seiner Großmutter aus der Bibel vorgelesen. Sein Spielkamerad ist Jesus Christus. Da ist nicht diese krasse Wende in seinem Leben. Er war kein Schläger auf dem Schulhof, der jetzt gesegnet werden müsste, weil er die größte Sünde war.
Das wird sich später noch zeigen: Nachdem Zinzendorf studiert hat, möchte er gerne in Halle mitarbeiten. Das ist eigentlich sein Traum. Dort gibt es eine Anstalt, die von Gott gesegnet ist, und dort möchte er mitarbeiten. Er möchte das Verbindungsglied sein zwischen Halle und dem deutschen Adel. Dafür wäre er mehr als geeignet.
Aber Franke winkt ab, weil ihm Zinzendorf zu wenig fassbar ist. Er passt nicht so in die Kategorien Frankes. Das zeigt sich besonders, nachdem der Baron von Kahnstein stirbt. Der Baron von Kahnstein, der die Kahnsteinsche Bibelgesellschaft in Halle mitgegründet hat, war das Bindeglied zwischen Adel, Herrschaft und Halle.
Nachdem er stirbt, denkt Zinzendorf, er würde diese Verbindung einnehmen. Aber Franke lässt das nicht zu, weil Zinzendorf ihm irgendwo nicht ganz geheuer ist. Vielleicht liegt es auch daran, was wir in der Kirchengeschichte häufig merken: Menschen, die wirklich außergewöhnlich begabt sind, können meistens schlecht zusammenarbeiten.
Denn meistens haben sie große Visionen, große Ideen. Sie können sehr wohl mit Leuten zusammenarbeiten, die an zweiter Stelle stehen. Aber wenn jemand gleich große Ideen hat und diese auch umsetzt, klappt das meistens nicht. Da müssen Hierarchien klar sein, damit man weiß, wer das Sagen hat.
Häufig ist es so, nicht immer, aber häufig, dass große begabte Personen – ich meine hier nicht kleine Möchtegern-Diktatoren in Gemeinden, sondern wirklich große Persönlichkeiten – Schwierigkeiten haben, einfach auch aufgrund ihres Denkens und ihrer Persönlichkeit. Das wird sich in der Zukunft noch auswirken.
Zinzendorf äußert den Wunsch, Theologie zu studieren. Das wird ihm von seinem Onkel schlichtweg abgeschlagen, weil es bis dahin unvorstellbar ist, dass ein Hochadliger einfacher Pfarrer wird. In der katholischen Kirche war das wohl möglich, denn dort konnte man immerhin Karriere machen: Bischof, Erzbischof, möglicherweise sogar Papst oder Abt.
Aber in der evangelischen Kirche – was gab es denn da schon? Man konnte Pfarrer werden, aber Pfarrer war vom Standesdenken der damaligen Gesellschaft eher ein besserer Handwerker. Auf einem höheren Niveau stand er damals noch nicht. Später stieg er gesellschaftlich auf, aber zu diesem Zeitpunkt war er nicht auf derselben Ebene wie ein Hochadliger.
Das wird also abgelehnt. Franke besucht trotzdem einige theologische Veranstaltungen. Und das, was man ihm auch nicht hindern kann: Hier merken wir wieder, dass er einer ist, der Initiative ergreift und manchmal Ideen hat, auf die kein anderer gekommen ist. So schreibt er Professoren der Universität Wittenberg an, die als typische Vertreter der lutherischen Orthodoxie gelten.
Er nimmt Kontakt mit Franke, seinem ehemaligen Schulleiter, auf. Jetzt will er ein Gespräch initiieren zur Versöhnung von lutherischen Orthodoxen und Pietisten. Immerhin ist das schon etwas, denn das ist eine große Differenz damals. Die Lutheraner bezeichnen die Pietisten als Sektierer, und die anderen halten die Lutheraner für verknöcherte Traditionalisten.
Da gibt es heftige Auseinandersetzungen, und Zinzendorf will das schlichten, um an einer einheitlichen evangelischen Kirche zu arbeiten. Er lädt schließlich auch dazu ein. Beide sind erst skeptisch, aber weil Zinzendorf Einfluss hat durch seine Stellung in Deutschland, sagen sie schließlich zu.
Dann hört sein Onkel davon und verbietet ihm schlichtweg, solche Veranstaltungen durchzuführen. Das sollen die Kirchenleute regeln, er solle sich standesgemäß verhalten. So wird aus dieser Versöhnung nichts.
Es wäre interessant, auch da zu spekulieren: Was wäre passiert, hätten sie sich getroffen und vielleicht sogar ausgesprochen und verstanden? Vielleicht wäre der Einfluss des Pietismus als Erneuerungskraft in der evangelischen Kirche noch stärker geworden. Aber das ist reine Spekulation, denn es hat nicht stattgefunden.
Stattdessen studiert Zinzendorf Jura. Das war standesgemäß, denn damit konnte man hinterher als Minister bei einem deutschen Fürsten oder König arbeiten. Das war das Berufsbild, auf das sich Zinzendorf nach seiner Orientierung festlegte.
Hier noch einmal die frankischen Anstalten: So sah es aus, als Zinzendorf seine Ausbildung machte. Nun komme ich zu der nächsten Phase: Er ist mit seinem Studium fertig und begibt sich auf die sogenannte Kavaliersreise. Das war damals üblich, sofern man es sich leisten konnte.
Nach Abschluss des Studiums machte man eine Reise durch Europa, knüpfte Beziehungen, an denen man häufig lebenslang festhielt. Dadurch konnte man im Ausland politischen und religiösen Einfluss geltend machen und Kontaktpersonen haben. Denn damals konnte man weder telefonieren noch mal eben irgendwo hinfahren – das war sehr aufwendig.
Also eine große Tour, bevor man sich zu sehr festlegte. Diese Beziehungen wurden häufig gepflegt. Man wollte das Studium noch ein bisschen abrunden, nicht nur das, was in Deutschland an Universitäten gelehrt wurde, sondern auch hören, was Akademiker und Universitäten in anderen Ländern sagten.
Zinzendorf, dessen Familie genügend Geld hatte, unternahm dann eine große Reise. Er war unter anderem in den Niederlanden und war ganz begeistert von der damals zusammengestellten Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert. Das war damals eine Großtat.
Bis dahin gab es kein Lexikon im modernen Sinne. Diese Enzyklopädie war das erste Lexikon im modernen Sinne. Alle Wissenschaftsbereiche wurden abgedeckt. Es wurde erklärt, wie ein Bauer arbeitet, wie ein Goldschmied arbeitet, was man heute über die Astronomie weiß. Das ganze Wissen sollte in diesem großen Werk stehen.
Diese Enzyklopädisten, wie man sie nannte, waren größtenteils Franzosen, die aus Frankreich geflohen waren. Dort wollte man das Wissen etwas unterdrücken, der König sah das als Gefahr, weil das Volk zu viel wissen könnte. Man sollte das lieber unter dem Deckel halten. Deshalb flohen sie in die Niederlande, wo es relativ frei war.
Dort traf Zinzendorf einige dieser Vertreter und war positiv davon angetan. Obwohl die Enzyklopädisten eher religionskritisch waren, fiel ihm das nicht so auf. Seinen offenen Geist, möglichst viel zu wissen und auszuprobieren, diesen intellektuellen Aufbruch, das lag ihm.
In Frankreich blieb er dann auch längere Zeit, in Paris genauer gesagt. Er wurde auch an den französischen Königshof eingeladen, allerdings nur einmal richtig. Bei der ersten richtigen Einladung bekam er mit, wie damals am französischen Hof gefeiert wurde.
Der französische Hof galt als Vorbild aller europäischen Höfe. Es wurde kräftig gefeiert, Alkohol floss in Strömen, man vergnügte sich. Das war Zinzendorfs Sache gar nicht. Dieser Sündenpfuhl – damit wollte er nichts zu tun haben. Das drückte er auch so aus.
Er konnte sich gut verständigen, sprach fließend Französisch, aber bei solchen Feiern war es üblich, dass einige Frauen, also Angestellte oder Dienerinnen, sich als Schäferinnen verkleideten, wenn das Wetter es zuließ. In den großen Gärten, wo gefeiert wurde, hatten sie sich verteilt. Es liefen auch ein paar Schafe herum.
Dann vergnügten sich die Adligen irgendwo in kleinen Ecken hinter Hecken mit diesen Schäferinnen. Daraus entstand der Begriff des Schäferstündchens, den es bis heute noch gibt. Das war damals weit verbreitet: Man genoss die Natur, wie sie mit Zuckerguss verschönt war.
Man wollte nicht wirklich in den Dreck auf dem Bauernhof, sondern so ein bisschen das einfache Mädchen vom Land, verführt durch den Adligen aus der Stadt. Und die war dann auch gleich zugänglich. Solche Sachen bekam Zinzendorf mit, und das erschreckte ihn vollkommen.
Er wollte nichts damit zu tun haben und sprach öffentlich aus, dass das Sünde sei und falsch. Man kann sich vorstellen: Da kann man noch so adlig sein, wenn die Leute ihren Spaß haben wollen, lassen sie sich sowas nicht sagen. Er wurde schlichtweg zu keiner weiteren Party mehr eingeladen.
Was tat er stattdessen? Er traf sich mit führenden Kirchenvertretern, unter anderem einem Kardinal, der für die französische katholische Kirche zuständig war. Diesen empfand er als so fromm, dass er lebenslang mit ihm Kontakt hatte. Für ihn übersetzte er einige deutsche Schriften, pietistische Erbauungsschriften.
Er betrachtete ihn immer als seinen Bruder im Herrn. Hier merken wir, dass zwar etwas typisch für den Pietismus ist, aber nie so stark praktiziert wurde wie bei Zinzendorf: Die persönliche Frömmigkeit ist wichtiger als die konfessionelle Zugehörigkeit.
Wenn das ein katholischer Kardinal ist und er sagt, er liebt Jesus auch, liest in der Bibel und betet, dann ist das auch mein Bruder. Dass da noch einige andere Lehren der katholischen Kirche sind, die vielleicht Bauchschmerzen bereiten könnten, spielt keine Rolle.
Nicht, dass Zinzendorf das nicht wüsste, aber es spielt keine Rolle. Das ist ein typisches pietistisches Anliegen. Ich habe es in der ersten Stunde betont: Dieses konfessionsübergreifende Denken. Man macht sich nicht an einer Konfession fest, sondern sieht das Verbindende bei Menschen, die eine ähnliche Frömmigkeit verfolgen.
Auf dem Weg zurück nach Deutschland kommt er unter anderem nach Düsseldorf und anderen Orten. Dort besucht er eine Galerie und findet in dieser das Bild, das wir hier hinter uns haben. Es ist von einem Maler namens Fra Fabi.
Unten steht, man kann es vielleicht schwach sehen: "Das tat ich für dich, was tust du für mich?" Das soll ein Leidensbild Jesu gewesen sein. Man ist sich nicht ganz sicher, ob es dieses Bild ist oder ein anderes, das wir an das Kreuz gehängt haben. Viele sagen, es sei dieses Bild gewesen, auf dem Jesus schon leidend wirkt.
Das soll bei ihm noch einmal einen Erneuerungsprozess ausgelöst haben. Also, wie gesagt, keine Bekehrung. In manchen Biografien wurde es als Bekehrung dargestellt. Zinzendorf stellt das nie als Bekehrung dar, sondern hier soll Gott oder Jesus ihn noch einmal ganz bewusst berührt haben.
Hier soll es nochmals eine Hingabe gegeben haben, dass er nun sein ganzes Leben für Jesus einsetzen will. Das hatte er vorher auch schon getan, schon als kleiner Junge, bei Franke, an der Universität und hier eben noch einmal. Aber hier nochmals eine religiöse Hingabe, eine religiöse Erfahrung.
Er reist weiter auf seiner Kavaliersreise und kommt zu Verwandten, den Grafen von Reuss und Ebersdorf. Dort trifft er den Hochmann von Hohenau, einen Pietisten, der allerdings mehr zu den Radikalpietisten gehört. Ich werde diese nachher noch kurz vorstellen, um einen Einblick zu geben.
Zinzendorf hatte schon etwas früher einer jungen Frau den Hof gemacht. Es ist allerdings nicht dazu gekommen, denn sie hat jemand anders geheiratet. Hier trifft er dann die fromme Erdmund Dorothea.
Sieht sie hübsch aus? Na ja, das ist sicherlich Geschmackssache. Auf jeden Fall ist Zinzendorf verliebt, wobei er so fromm ist, dass er das nie so ausdrücken würde. Sie führen einen Briefwechsel, obwohl er am Hof ist. Man spricht ja nicht offen miteinander, das wäre unzüchtig, sondern man schreibt sich Briefe.
Diese Briefe sind zum Großteil bis heute erhalten und sehr lesenswert. Sie entsprechen gar nicht dem typischen Bild eines verliebten Paares. Sie schreiben, was sie in der stillen Zeit gelesen haben, was im Glauben wichtig geworden ist. Sie tauschen sich aus und sind einfach so fromm – das ist ganz erstaunlich.
Beide hören den Hochmann von Hohenau, den Radikalpietisten, dessen Eheethik ich kurz erläutern will. Er unterscheidet drei Formen von Ehe:
Die erste Form ist die fleischliche Ehe der Ungläubigen, denen es nur um körperliche Anziehung geht. Das ist für Christen nicht akzeptabel.
Die zweite Stufe ist die christliche Ehe, in der man zusammenlebt und sogar zusammen schläft, aber nur zum Zweck der Zeugung von Kindern, die fromm erzogen werden. Sobald das erledigt ist, haben sie nichts mehr körperlich miteinander zu tun.
Die höchste Form ist die "Streiterehe". "Streiter" heißt nicht, dass sie sich streiten, sondern dass sie zusammen für die Sache Gottes kämpfen. Sie leben zusammen wie Bruder und Schwester, merken nicht einmal richtig, was Mann und Frau ist, haben keine Sexualität, sondern kämpfen nur für den Herrn.
Welche Form der Ehe streben Erdmund Dorothea und Zinzendorf an? Natürlich die höchste Form. Sie sind beide so fromm, dass sie sagen: Wir heiraten nur um des Glaubens willen, um zusammen für Gott zu kämpfen.
Dass Zinzendorf lebenslang nicht dabei blieb, sieht man daran, dass sie später zahlreiche Kinder hatten. Die oberste Stufe dieser Eheethik hat er also nicht beibehalten. Aber typisch für Zinzendorf ist, dass er sich schnell für neue Ideen begeistern lässt. Er ist begeistert und überzeugt.
Das wird uns noch mehrfach begegnen in seinem Leben. Aber eine Stärke von ihm ist auch, dass er bereit ist, sich korrigieren zu lassen und von Ideen abzuweichen, wenn sie sich als falsch erweisen.
Die beiden heiraten und ziehen nach Sachsen. Das ist das Land, wo seine Großmutter herkommt, wo auch seine mütterlichen Vorfahren herkommen. Nach Österreich kann er nicht, weil man dort gegen die Evangelischen eingestellt ist.
Er übernimmt damals das Landgut Berthelsdorf in der Oberlausitz. Das ist eine Schlossanlage, die heute noch existiert, allerdings in moderner Form. Das Landgut gehörte seiner Großmutter, von der er es abkauft. Geld ist also vorhanden.
Das Gut umfasst auch ein Dorf und einige Höfe. Seine Hauptaufgabe sieht er bis dahin noch als Mitarbeiter am sächsischen Hof. Er ist für juristische Fragen zuständig, wofür er seine Ausbildung gemacht hat.
Es wird berichtet, dass er immer wieder mit anderen Adligen aneinandergeriet, weil der sächsische König gar nicht so fromm war. Sein Vorfahrer hatte Spener vertrieben, weil ihm dieser zu fromm war.
Die sächsischen Könige waren damals nicht besonders fromm. Es hatte sich durch den Pietismus in Sachsen ein Zweig der Kirche gegründet, der pietistisch geprägt war. Der große Teil der Kirche und der Königshof waren es nicht.
Man berichtet, dass der sächsische König zum Geburtstag seiner Frau eine Parade durch Dresden veranstaltete. Seine führenden Mitarbeiter sollten sich als griechische Götter verkleiden. Der König selbst ließ sich auf einem Wagen als Zeus durch die Straßen fahren.
Mit so etwas konnte Zinzendorf nichts anfangen. Das war für ihn sündige Welt. Deshalb wundert es nicht, dass er nach einigen Jahren des Dienstes am Hof des Königs in die Oberlausitz zurückzieht. Dort ist er eigener Landesherr und muss sich nicht mit dem Verhalten anderer Adliger herumschlagen.
Er sieht dort seinen Auftrag, der allerdings noch nicht ganz klar ist. Er ergibt sich eher indirekt, als im Jahr 1722 erste Flüchtlinge aus Böhmen und Mähren zu ihm kommen. Später nennt man sie die Hussiten, Nachfolger von Jan Hus.
Ob sie direkte Nachfolger sind, wissen wir nicht genau. Jedenfalls sind es evangelisch Gesinnte, die aus der Tschechei vertrieben werden, weil diese durch die Österreicher wieder rekatholisiert wurde.
Einige Flüchtlinge kommen über die Grenze und fragen bei Zinzendorf an, ob sie sich auf seinem Gebiet niederlassen dürfen. Damals galt der Religionsfrieden "cuius regio, eius religio" – wessen Land, dessen Religion.
Zinzendorf konnte entscheiden, ob diese nicht ganz evangelischen Flüchtlinge sich auf seinem Gebiet niederlassen durften. Er erlaubte es ihnen in einem ländlichen Gebiet, wo bisher kein Dorf bestand.
Das Gebiet lag am sogenannten Hutberg. Dort wies er sie an, ihr Dorf zu bauen. Deshalb hieß das Dorf Herrenhut – am Hutberg auf seinem Gebiet.
Dort entstand mit der Zeit ein eigenständiges Dorf. Zinzendorf war mitaktiv, eine Art Landschaftsarchitekt. Es entstand ein Modell des Herrnhuter Zusammenlebens, das sich später in anderen Teilen Deutschlands fortsetzte.
Man baute um einen quadratischen Platz herum, der mit grünen Anlagen bestückt war. An einer Seite stand eine Kapelle, aber ohne Kirchturm. Man wollte bewusst schlicht bauen.
Der Innenraum der Kapelle aus Zinzendorfs Zeit ist heute noch zu sehen. Die Kapelle ist zwischenzeitlich abgebrannt und wieder aufgebaut worden. Im Vergleich zur damaligen Zeit wirkt sie sehr schlicht.
Man baute einfache Holzbänke, Holzempore, alles in Weiß. Es sollte rein, sauber und heilig aussehen. Das galt damals als schlicht und war bewusst so gewählt.
Auch die Gebäude ringsum waren schlicht. Von außen wirkt das heute manchmal außergewöhnlich, da es nicht Barock war. Im Barock baute man größere Fenster und prunkvollere Dächer.
An einer Seite des großen Platzes stand das Gemeindehaus. Ringsum standen Haus für Haus, alle gleich gebaut, als Wohnhäuser. Die meisten Bewohner sollten nicht allein wohnen, sondern zusammen.
Zinzendorf war von Anfang an Gemeinschaft wichtig. Hier finden sich erste Ideen, die später nicht wieder umgesetzt wurden. So ließ er junge unverheiratete Frauen und Männer in getrennten Häusern wohnen – eine Art Internat.
Wenn sie klein waren, wohnten sie bei den Eltern, aber als Erwachsene wohnten sie zusammen, Männer in einem Haus, Frauen in einem anderen. Neue Formen des Zusammenlebens.
Der gemeinsame Platz diente zum Feiern und Arbeiten, direkt neben der Gemeinde, die ohne Kirchturm gebaut war. Auch die Inneneinrichtung war schlicht.
Dieses Modell wurde vielfach aufgenommen. In der Gegend gibt es noch Herrnhuter Siedlungen, zum Beispiel in Neuwied, die unter Denkmalschutz stehen. Dort kann man noch vieles von diesem typischen Muster sehen.
Zinzendorf begann auch zu predigen. Hier gibt es eine kleine Geschichte: Die Pfarrer der Umgebung beschwerten sich, dass er kein Pfarrer sei. Deshalb holte er noch ein Theologiestudium nach.
Da man ihn in Sachsen nicht ordinieren wollte, weil die lutherische Orthodoxie dominierte, ging er nach Württemberg. Dort gab es zu der Zeit schon einige Fromme, unter anderem Bengel.
In Württemberg wurde er ordiniert. Deshalb kam es zu seiner Antrittspredigt in der Stiftskirche Tübingen, obwohl er ursprünglich nicht von dort kam. Nun war er offiziell ordiniert und konnte nicht mehr daran gehindert werden.
Allerdings hielt er nicht viel von der lutherischen Liturgie. Er entwarf seine eigene Liturgie, manchmal experimentell, so dass wir heute noch staunen.
Beispielsweise führte er manchmal reine Liedgottesdienste ein: keine Bibellesung, keine Predigt, nur singen. Viele der Lieder entsprachen ihm nicht, deshalb dichtete er eigene Lieder und brachte ein ganzes Liederbuch heraus.
Einige dieser Lieder sind bis heute bekannt, zum Beispiel "Herz und Herz vereint zusammen sucht im Herzen Gottes Ruh". Damals schrieb er viele Lieder.
Man muss sagen, manche seiner Lieder wirken heute etwas übertrieben schuldig. Das liegt daran, dass die Sprache des Barocks sehr gefühlsbetont und blumig war. Das wirkt heute manchmal komisch. Deshalb werden viele Lieder Zinzendorfs heute nicht mehr so oft gesungen.
Er führte auch neue Liedgottesdienste ein. Interessanterweise predigten bei ihm auch Frauen. Das ist ungewöhnlich für den Pietismus.
Man kann das als Untergang der Kirche sehen oder nicht. Hier war er experimentell veranlagt: Warum nicht, Frauen können das doch auch. Später bei den Herren- oder Brüdergemeinden wurde das wieder abgeschafft.
Zinzendorf entwickelte das System der Hauskreise weiter. Bei Spener war der Pfarrer dabei, bei Francke etwas lockerer, da durften auch Handwerker mitmachen. Zinzendorf teilte die Gemeinde in kleine Gruppen, die sich regelmäßig zum Bibellesen und Beten trafen – auch ohne Pfarrer.
Er nannte diese Gruppen Chöre und Banden. Diese Begriffe haben nichts mit Singen oder Kriminalität zu tun, sondern sind Bezeichnungen für verschiedene Gruppen.
Es gab zum Beispiel Gruppen nur für junge Frauen, die sich besser austauschen konnten. Dann Gruppen für verheiratete Frauen, verheiratete Männer, junge unverheiratete Männer und so weiter. Das waren Hauskreise für persönliche Bibelstudien.
Eine weitere neue Idee war die Erfindung der Losungen. Losungen bedeutet hier doppelt: Zum einen die Zugehörigkeit, wie beim Militär die Losung sagt, ob man dazugehört. Zum anderen die Auswahl von Bibelversen.
Zinzendorf wollte, dass im ganzen Dorf die Leute jeden Tag einen Bibelvers lesen. Wenn sie sich dann treffen, können sie darüber sprechen. Alle waren fromm und gehörten zur Herrnhuter Brüdergemeine.
Die Brüdergemeine entsteht innerhalb der lutherischen Kirche, ist aber relativ unabhängig. Niemand redet ihnen hinein.
Zinzendorf kam auf die Idee, solch eine Losung in Buchform herauszugeben. 1731 wurde das erste Mal gedruckt. Es hatte ein anderes Format, etwas länglicher als heute.
Heute sieht das Losungsbuch so aus, mit dem Wappen der Herrnhuter Brüdergemeine. Die Ausgabe von 1731 war die erste. Darin war jeweils nur ein Bibelvers aus dem Alten und einer aus dem Neuen Testament.
Das heutige Format mit Lehrtext und Gebet kam erst später dazu. Zinzendorf wollte die Auswahl nicht bewusst treffen, sondern hatte den Eindruck, Gott müsse die Auswahl übernehmen.
Aber wie kann man das? Man kann beten, aber normalerweise kommt nicht gleich ein Bibelvers vom Himmel. Deshalb griff er auf die Praxis aus dem Alten Testament zurück.
Zur Zeit der Wüstenwanderung gab es an der Stiftshütte die beiden Säulen Urim und Turim, mit denen Entscheidungen getroffen wurden. Lose ziehen gab es also im Alten Testament.
So ähnlich machte er es: Bibelverse kamen in eine Lostrommel. Dann wurde ein Vers herausgezogen, und das war der Vers für den Tag.
Die Auswahl sollte vom Glauben her von Gott getroffen sein. Das war für die damalige Zeit eine innovative Idee. Ob sie gut oder schlecht ist, steht auf einem anderen Blatt.
Aber es ist zweifellos eine der erfolgreichsten Erfindungen Zinzendorfs. Die Losungen sind bis heute weit über die Herrnhuter Brüdergemeine hinaus bekannt.
Er baute dieses Losungsprinzip noch aus. In der Gemeinde überlegte man, wie man die Gemeindestruktur gestalten sollte.
Zinzendorf war Pfarrer, es gab Älteste, aber wer war Gemeindeleiter? Die Antwort war klar: Gemeindeleiter ist Jesus.
Aber wie bespricht man mit Jesus, wann Gottesdienst ist oder ob man eine Reise unternimmt? Zinzendorf versuchte, das direkt umzusetzen und erfand ebenfalls ein Los-System.
In seinem Haus gab es eine Lostrommel mit drei Losen: Ja, Nein, Noch nicht. Bei wichtigen Entscheidungen wurde ein Los gezogen. Das sollte die Entscheidung des Herrn sein.
Das praktizierte er eine Zeit lang. Dann kamen Kritiker, die das für Aberglauben hielten. Auch er merkte, dass nicht immer das Ergebnis kam, das sie erhofften.
Manchmal kamen seltsame Entscheidungen, zum Beispiel bei Ehefragen oder Reisen. Nach einiger Zeit schafften sie das Los-System wieder ab.
Das zeigt eine Stärke Zinzendorfs: Er kommt auf neue, originelle Ideen, ist aber bereit, Korrektur vorzunehmen, wenn etwas schiefläuft.
Das unterscheidet ihn von Sektierern, die an seltsamen Ideen festhalten und sie ausbauen. Zinzendorf lässt sich korrigieren und gibt sie wieder auf.
In dieser Zeit hatte er viel Kontakt zu Radikalpietisten, die sehr seltsame Ideen hatten. Hier sehen wir ihn als reifen Mann, schlicht gekleidet.
Eine weitere Siedlung entstand: Er wurde aus Herrenhut vertrieben. Die lutherische Kirche in Sachsen kritisierte ihn und forderte den König auf, ihn des Landes zu verweisen.
Der König tat das. Zinzendorf überschrieb vorher sein Hab und Gut seiner Frau, da sie nicht unter dem Bann stand und bleiben durfte.
So gründete er in der Wetterau bei Frankfurt eine neue Siedlung, Herrenhaag. Dort stehen bis heute einige der Gebäude, ähnlich wie in Herrenhut.
In diesen Gebäuden zog eine Siedlung ein. Es ließen sich Flüchtlinge und fromme Pietisten aus ganz Deutschland nieder, die vertrieben wurden.
Ein buntes Gemisch von Leuten mit unterschiedlichen Ideen. Zinzendorf war viel unterwegs, auch in dieser Zeit.
Er initiierte die ersten Aufbrüche in Richtung Mission, besuchte Missionare, baute ein Netz auf, um sie zu ermutigen, finanziell zu unterstützen und Informationen zurück nach Europa zu bringen.
Hier ist er stark engagiert. In Herrenhaag überließ er die Leitung einem seiner Söhne.
Dort entwickelte sich eine typische Zwischenform der Herrnhuter Brüdergemeine, die etwas sektiererisch wirkte. Man spricht von der sogenannten Sichtungszeit, etwa von 1734 bis 1750.
In dieser Zeit steigerte sich das Verhalten bis zu einer Form, die problematisch war. Zum Beispiel wurde der biblische Auftrag, einander mit dem heiligen Kuss der Liebe zu grüßen, umgesetzt.
Zunächst küssten sich alle, und zwar nicht nur Wangen, sondern Mund auf Mund. Kritische Beobachter merkten, dass manche junge Männer junge Frauen intensiver küssten als andere.
Sie hatten den Argwohn, dass es nicht nur herzliche Bruderliebe war, sondern mehr dahinter steckte.
In dieser Zeit erschienen zahlreiche Schriften, die vor Zinzendorf und seinen Sachen warnten. Man nannte das "Herzeln" und "Schätzeln". Das sind barocke Ausdrücke für Umarmungen aus brüderlicher und schwesterlicher Zuneigung.
Ein weiteres Problem war eine Steigerung des Blut- und Wundenkults. Bestimmte Feste wurden gefeiert, zum Beispiel Ostern wurde umbenannt in das Fest des Seitenwundchens Jesu.
Kurz bevor das Ganze beendet wurde, wurde die Kapellentür mit Pappmaché als Seitenwunde Jesu verkleidet und bemalt. Jeder Gläubige sollte durch die Seitenwunde Jesu in den Gottesdienstraum gehen.
Man sprach davon, der Christ sei das Kreuzluftvöglein, das in der Seitenwunde Jesu nistet. Solche Geschichten wurden verbreitet.
Es wurden Lieder gesungen, die die Seitenwunde Jesu und das Blut verherrlichten. Man steigerte sich emotional und äußerlich hinein, was problematisch war.
Die Kritik wurde stärker. Zinzendorf schlug nicht zurück, sondern rief die Gemeinde zur Ordnung.
Es kam zur Sichtungszeit. Sichtung ist ein Begriff aus dem Neuen Testament: Der Acker ist reif zur Sichtung, Unkraut wächst mit dem Weizen, und das Unkraut wird entfernt.
Zinzendorf ließ das lange Zeit zu. Er gab einigen Propheten Raum, weil er hoffte, Gott rede vielleicht auch so. Das gab es im Pietismus damals.
Aber nun merkte er, dass das nicht in Ordnung war. Er begann zu sichten und brachte die Gemeinde zurück zu nüchternen Formen.
Das Herzeln und Schätzeln hörte auf, die Seitenwunden-Verkleidung wurde entfernt, die entsprechenden Lieder nicht mehr gesungen, Prophetie wurde abgeschafft.
Man kam wieder zu einer nüchternen Ebene zurück. Einige Jahre später wurde er nach Zureden einiger Freunde wieder zugelassen, konnte zurück nach Sachsen und weiter in Herrenhut leben.
Ein anderer Aspekt seines Lebens, den ich ausgeklammert habe, ist, dass er kurz nach der Gründung von Herrenhut zur Krönungsfeier von König Christian von Dänemark eingeladen wurde.
Der König war ein entfernter Verwandter. Zinzendorf erhoffte sich insgeheim eine Ministerstelle. Das kam nicht; er bekam nur einige Orden als Gastgeschenk.
Zinzendorf war enttäuscht. Auf der großen Feier in Kopenhagen traf er einige afrikanische Sklaven, die am Königshof dienten.
Mit ihnen kam er ins Gespräch. Typisch Zinzendorf: Erst enttäuscht, dann sieht er eine neue Aufgabe.
Er erzählte ihnen das Evangelium. Während der Zeit bekehrte sich einer von ihnen. Zinzendorf berichtete davon seiner Familie, deren Mitglieder als Sklaven auf St. Thomas in der Karibik lebten.
Für ihn war das ein Wegweiser Gottes. Er war zur Krönungsfeier gekommen, um diesen Auftrag zu erkennen: Die Notwendigkeit, diese Menschen für das Evangelium zu erreichen.
Er kehrte mit neuer Perspektive nach Herrenhut zurück, hielt dort eine Predigt und war begeistert von der Mission.
Es meldeten sich Handwerker aus dem Ort, die sagten: Ja, wir gehen in die Mission.
Die Missionare hatten keine große Ausbildung. Das ist typisch für pietistische Missionsarbeit, auch bei den Missionaren aus Halle.
Sie hatten meist so viele theologische Probleme, dass sie nicht sahen, dass es noch Verlorene gab. Hier waren es einfache Leute, die durch Gebet vorbereitet wurden und dann gingen.
Im Gegensatz zu Franke war Zinzendorf hier etwas blauäugig. Bei Franke gab es Anstalten, die Sprache und Kultur der Missionsländer kennenzulernen.
Bei Zinzendorf spielte das keine Rolle. Wenn man nur genügend betet und glaubt, zieht man los. Sie bekamen von ihm die Fahrkarte und gingen nach St. Thomas.
Erstaunlicherweise funktionierte die Missionsarbeit sogar. Aber das sollte kein Vorbild sein. Heute ist es besser, vorbereitet in die Mission zu gehen.
Innerhalb weniger Jahrzehnte baute Zinzendorf die Mission aus, nicht nur auf St. Thomas, sondern auch in Südafrika bei den sogenannten Hottentotten.
Der Name stammt von europäischen Siedlern, die die Eingeborenen so nannten, weil sie sie für unordentlich hielten.
Es wurden Missionsstationen auf Grönland, das damals zu Dänemark gehörte, aufgebaut. Zeisberger ging zu den Indianern nach Nordamerika und hatte eine sehr effektive Missionsarbeit.
In Indien wurde ebenfalls missioniert und an weiteren Stellen. Zahlreiche Missionsniederlassungen der Herrnhuter Brüdergemeine entstanden, die sehr erfolgreich waren.
Heute wohnen die meisten Herrnhuter Brüder nicht mehr in Deutschland oder Europa, sondern im südlichen Afrika. Dort sind die Brüdergemeinden weit verbreitet.
Sie sind zwar nicht die größte Konfession, aber durch die intensive Missionsarbeit relativ weit verbreitet.
Die Brüdergemeinden in Afrika sind konservativer als die heutigen in Deutschland, die eher mit dem Mainstream der lutherischen Kirche verbunden sind.
Die lutherische Kirche vertritt heute manches Positive, aber auch zweifelhafte Überzeugungen, die auch in den Herrnhuter Brüdergemeinden in Deutschland zu finden sind.
Damals wurden Missionare ausgesandt, und ab diesem Zeitpunkt war Zinzendorf viel in der Welt unterwegs.
Er besuchte Missionare persönlich, ermutigte sie, versorgte sie finanziell, gab ihnen neue Ideen und brachte Informationen zurück nach Europa, damit man gemeinsam beten konnte.
So entstand eine ausgedehnte Missionsarbeit, bei der Zinzendorf stark engagiert war.
Eine weitere Sache: Zinzendorf hatte indirekt mit der Gründung des Methodismus in England zu tun.
Wesley, ein junger Pfarrer der anglikanischen Kirche, war nach Nordamerika gefahren, um die Indianer zu missionieren.
Auf der langen Überfahrt mit Segelschiffen war eine Gruppe von Herrnhuter Brüdermissionaren an Bord.
Wesley berichtet später von einem großen Sturm. Während alle Angst hatten, sangen die Herrnhuter Brüdergemeine unten im Bauch des Schiffes Gott lobend durch den Sturm.
Am nächsten Tag fragte Wesley sie, ob sie keine Angst gehabt hätten. Sie sagten: Nein, wir wissen, dass wir in Gottes Hand sind.
Das überraschte Wesley sehr, denn das kannte er so nicht.
Seine Missionsarbeit bei den Indianern scheiterte, er kam frustriert nach England zurück und suchte neu Orientierung.
Dort stieß er auf eine Herrnhuter Brüdergemeine in London, die sich in der Aldersgate Street traf, regelmäßig Bibel las und Gottesdienste feierte, wie Zinzendorf sie entwickelt hatte.
Wesley besuchte diese Gemeinde regelmäßig und beschreibt in seinen Tagebüchern, dass er dort zum Glauben kam.
Er war begeistert vom deutschen Pietismus, reiste nach Deutschland, besuchte Zinzendorf, war mehrere Monate bei ihm und begeistert.
Er besuchte auch die hallischen Anstalten, wo Franke zu der Zeit schon tot war, aber sein Nachfolger wirkte.
Wesley wollte pietistische Gemeinschaften in England gründen. Das ging einige Jahre gut.
Dann zerstritten sich Wesley und Zinzendorf, zwei begabte Persönlichkeiten, und Wesley gründete keine Herrnhuter Brüdergemeine, sondern erweckliche Kreise in der anglikanischen Kirche.
Als er aus der anglikanischen Kirche ausgeschlossen wurde, entstand die methodistische Kirche.
Die methodistische Kirche ist in ihrem Ansatz also auf den deutschen Pietismus zurückzuführen, vor allem durch Zinzendorf und auch durch Franke beziehungsweise seine Anstalten.
Das ist eine interessante kirchengeschichtliche gegenseitige Beeinflussung über Länder- und Zeitgrenzen hinweg.
Zinzendorf stirbt schließlich im Jahr 1760. Seine Lebensdaten sind relativ einfach zu merken: 1700 bis 1760. Er wurde sechzig Jahre alt.
Die Herrnhuter Brüdergemeinden blühen weiter. Sie sind eine der Wurzeln der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert.
Die Reste der Herrnhuter Brüdergemeinden sind in ganz Deutschland verstreut und bilden den Humus für die Erweckungsbewegung, ähnlich wie andere pietistische Gemeinschaften, die in der Zwischenzeit entstanden sind.
Nun noch ein paar Bilder zu Zinzendorf: Hier sieht man einen typischen Herrnhuter Gottesdienst mit schlichter Kleidung.
Er führte eine Zeit lang die Fußwaschung ein, bei der alle weiße Gewänder tragen mussten.
Hier sieht man Zinzendorf zusammen mit Wesley, den ich vorhin erwähnt habe. Links soll Zinzendorf sein, rechts Wesley.
Hier sieht man das Ende: Die Gräber von Zinzendorf und seiner Familie in Herrenhut. Sie sind relativ schlicht gehalten, zumindest für damalige Verhältnisse.
Das ist ein großer Friedhof, auf dem auch viele kleine Grabsteine von Missionaren und Herrnhutern stehen, die dort gelebt haben.
Das ist der Herrnhuter Friedhof, den man bis heute besichtigen kann. Das ist das Ende Zinzendorfs.
Wenn es noch Fragen gibt, kann man diese gerne stellen, falls man etwas genauer wissen möchte.
Die Kavaliersreise und intellektueller Aufbruch
Oh, jetzt habe ich wieder etwas vergessen. Also hier sind noch einmal die frankischen Anstalten. Es war ja ein Bild, das ich das letzte Mal auch schon mitgebracht habe. So sah das aus, als Zinzendorf seine Ausbildung gemacht hat.
Jetzt komme ich zur nächsten Phase: Er ist mit seinem Studium fertig und begibt sich auf die sogenannte Kavaliersreise. Das war damals üblich. Sofern man es sich leisten konnte, machte man nach Abschluss des Studiums eine Reise durch Europa. Dabei knüpfte man Beziehungen, an denen man häufig lebenslang festhielt. Diese Kontakte waren wichtig, um im Ausland politischen und religiösen Einfluss geltend zu machen und Ansprechpartner zu haben. Denn damals konnte man weder telefonieren noch einfach irgendwo hinfahren – das war sehr aufwendig.
Also unternahm man eine große Tour, bevor man sich zu sehr festlegte. Diese Beziehungen wurden häufig gepflegt. Man wollte darüber hinaus das Studium noch ein bisschen abrunden – nicht nur das, was an deutschen Universitäten gelehrt wurde, sondern auch hören, was Akademiker und Universitäten in anderen Ländern sagten.
Zinzendorf, dessen Familie genügend Geld hatte, unternahm dann eine große Reise. Er war unter anderem in den Niederlanden und war ganz begeistert von der damals zusammengestellten Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert. Das war damals eine Großtat. Bis dahin gab es kein Lexikon im modernen Sinne. Diese Enzyklopädie war das erste Lexikon dieser Art. Darin wurden alle Wissenschaftsbereiche abgedeckt. Es wurde erklärt, wie ein Bauer arbeitet, wie ein Goldschmied arbeitet und was man damals über die Astronomie wusste. Das ganze Wissen sollte in diesem großen Werk, das sich auch die Enzyklopädie nannte, zusammengefasst sein.
Diese Enzyklopädisten, wie man sie nannte, waren zum großen Teil Franzosen, die aus Frankreich geflohen waren. Dort wollte man das Werk etwas unterdrücken. Der König sah es so, dass das Volk zu viel wissen würde und man das lieber unter dem Deckel halten sollte. Deshalb flohen die Enzyklopädisten in die Niederlande, wo es relativ frei war. Dort traf Zinzendorf auch einige dieser Vertreter und war positiv davon angetan.
Obwohl diese Enzyklopädisten eher religionskritisch waren, legte Zinzendorf darauf nicht so viel Wert. Er schätzte vielmehr seinen offenen Geist, möglichst viel zu wissen und auszuprobieren. Dieser intellektuelle Aufbruch lag ihm.
In Frankreich hielt er sich dann auch längere Zeit auf, genauer gesagt in Paris. Dort wurde er auch an den französischen Königshof eingeladen, allerdings nur einmal richtig. Das lag nicht daran, dass er nicht öfter dort gewesen wäre, aber bei der ersten richtigen Einladung bekam er mit, wie damals am französischen Hof gefeiert wurde.
Ich habe ja schon gesagt: Damals galt der französische Hof als Vorbild aller europäischen Höfe, und dort wurde kräftig gefeiert. Alkohol floss in Strömen, man vergnügte sich – das war Zinzendorfs Sache gar nicht. Dieser Sündenpfuhl, wie er es ausdrückte, wollte er nicht mitmachen. Er sprach das auch so aus und wollte nichts damit zu tun haben.
Bemerkenswert ist, dass er die französische Sprache gut beherrschte und sich gut verständigen konnte. Damals war es in Frankreich üblich, dass bei solchen Feiern, wenn das Wetter es zuließ, einige Frauen – also Angestellte oder Dienerinnen – sich als Schäferinnen verkleideten. In den großen Gärten, wo gefeiert wurde, hatten sie sich verteilt. Es liefen auch ein paar Schafe herum. Die Adligen suchten sich dann irgendwo ein kleines Eckchen hinter ein paar Hecken, um sich mit einer Schäferin zu vergnügen.
Daraus entstand der Begriff des Schäferstündchens, den es bis heute noch gibt. Das war damals weit verbreitet. Man genoss die Natur, allerdings etwas verschönt mit Zuckerguss. Man wollte ja nicht wirklich in den Dreck auf dem Bauernhof, sondern so ein bisschen das einfache Mädchen vom Land, verführt durch den Adligen aus der Stadt. Und diese war nun auch gleich zugänglich.
Solche Dinge bekam Zinzendorf mit, und das erschreckte ihn vollkommen. Er wollte nichts damit zu tun haben und sprach öffentlich aus, dass das alles Sünde sei und falsch.
Man kann sich vorstellen: Da kann man noch so adlig sein – wenn die Leute ihren Spaß haben wollen, lassen sie sich so etwas nicht sagen. Deshalb wurde Zinzendorf schlichtweg zu keiner weiteren Party mehr eingeladen.
Begegnungen und ökumenische Offenheit
Was hat er stattdessen getan? Er traf sich mit führenden Kirchenvertretern, unter anderem mit einem Kardinal, der für die französische katholische Kirche zuständig war. Diesen empfand er als so fromm, dass er lebenslang mit ihm Kontakt hielt. Für ihn übersetzte er einige deutsche Schriften, vor allem pietistische Erbauungsschriften, und betrachtete ihn stets als seinen Bruder im Herrn.
Hier merken wir auch, dass nun etwas zum Vorschein kommt, was typisch für den Pietismus ist, aber nie so stark praktiziert wurde wie bei Zinzendorf: Die persönliche Frömmigkeit ist wichtiger als die konfessionelle Zugehörigkeit. Wenn es sich um einen katholischen Kardinal handelt, der sagt, er liebt Jesus auch, in der Bibel liest und betet, dann ist er auch mein Bruder. Dass es noch einige andere Lehren der katholischen Kirche gibt, die vielleicht eher Bauchschmerzen bereiten könnten, spielt dabei keine Rolle.
Zinzendorf wusste das zwar, doch es war für ihn nicht entscheidend. Dies ist ein typisches Anliegen des Pietismus, das ich in der ersten Stunde ebenfalls betont habe: Man macht sich nicht an einer Konfession fest, sondern sieht das Verbindende bei den Menschen, die eine ähnliche Frömmigkeit verfolgen, konfessionsübergreifend.
Auf dem Weg zurück nach Deutschland kam er unter anderem nach Düsseldorf und auch zu einigen anderen Orten. Dort besuchte er eine Galerie, in der er das Bild fand, das wir hier hinter uns sehen. Es stammt von einem Maler namens Fabi, oder Fra Fabi, glaube ich. Unten auf dem Bild steht, ihr könnt es vielleicht nur schwach lesen: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Dieses Bild soll ein Leidensbild Jesu sein. Man ist sich nicht ganz sicher, ob es genau dieses Bild war oder eines, auf dem das Kreuz abgebildet ist. Viele sagen jedoch, es sei dieses Bild gewesen, auf dem Jesus bereits leidend wirkt.
Dieses Bild soll bei ihm einen Erneuerungsprozess ausgelöst haben. Wie gesagt, es war keine Bekehrung. In manchen Biografien wird es als Bekehrung dargestellt, doch Zinzendorf selbst beschreibt es nie so. Vielmehr soll Gott oder Jesus ihn hier ganz bewusst berührt haben. Es soll eine erneute Hingabe gegeben haben, sodass er sein ganzes Leben nun für Jesus einsetzen wollte.
Diese Hingabe hatte er jedoch schon zuvor gezeigt – schon als kleiner Junge, bei Franke und an der Universität. Hier aber kam noch einmal eine solche religiöse Hingabe und Erfahrung hinzu.
Begegnungen und persönliche Beziehungen während der Reise
Er reist dann weiter auf seiner Kavalierstour und kommt dabei auch zu Verwandten, die Grafen von Reuss und Ebersdorf sind. Genau kann ich das nicht sagen, aber er ist bei den Reuss und Ebersdorf, und dort trifft er den Hochmann von Hohenau. Dieser ist ebenfalls ein Pietist, ein Pfarrer, der allerdings mehr zu den Radikalpietisten gehört. Diese möchte ich später noch kurz vorstellen, um einen Einblick zu geben.
Zinzendorf hatte schon etwas früher einer jungen Frau den Hof gemacht. Allerdings kam es nicht dazu, da sie jemand anderen heiratete. Hier trifft er nun die fromme Erdmund Dorothea, so heißt sie. Sieht sie hübsch aus? Das ist sicherlich immer Geschmackssache. Auf jeden Fall ist Zinzendorf verliebt, wobei er so fromm ist, dass er das nie offen ausdrücken würde.
Sie führen einen Briefwechsel, obwohl er am Hof ist. Man spricht ja nicht offen miteinander, da das als unzüchtig gilt. Stattdessen schreibt man Briefe. Diese Briefe sind größtenteils erhalten und bis heute sehr lesenswert. Sie entsprechen allerdings nicht dem typischen Stil eines verliebten Paares. Stattdessen schreiben sie über das, was sie in der stillen Zeit gelesen haben und was im Glauben wichtig geworden ist. Sie tauschen sich aus und sind einfach sehr fromm, was ganz erstaunlich ist. Beide hören auch den Hochmann von Hohenau, den Radikalpietisten.
Dieser Radikalpietist hat eine spezielle Eheethik entworfen. Er unterscheidet drei verschiedene Formen von Ehe. Die erste Form ist die fleischliche Ehe der Ungläubigen. Ihnen geht es nur um die körperliche Anziehung zwischen Mann und Frau, und Sexualität steht im Vordergrund. Diese Form ist für Christen nicht akzeptabel.
Die zweite Stufe ist die christliche Ehe, bei der die Ehepartner zusammenleben. Sie schlafen sogar zusammen, aber nur zum Zweck der Zeugung von Kindern, die dann fromm im Glauben erzogen werden. Sobald das erledigt ist, haben sie nichts mehr körperlich miteinander zu tun.
Die höchste Form der Ehe ist nach seiner Auffassung die Streiterehe. „Streiter“ bedeutet hier nicht, dass sie sich streiten, sondern dass sie gemeinsam für die Sache Gottes kämpfen. Sie leben zusammen, wie Brüder und Schwestern, merken kaum, was Mann und Frau ist, haben nichts mit Sexualität zu tun und kämpfen nur für die Sache des Herrn.
Man kann sich überlegen, welche Form der Ehe Erdmund Dorothea und Zinzendorf anstreben. Natürlich die höchste Form. Beide sind so fromm, dass sie sagen: Wir heiraten, aber nur um des Glaubens willen und um gemeinsam dafür zu kämpfen.
Dass Zinzendorf lebenslang nicht dabei geblieben ist, sieht man daran, dass er später eine zahlreiche Schar von Kindern hatte. Somit blieb er nicht auf der obersten Stufe dieser Eheethik. Typisch für Zinzendorf ist, dass er sich schnell für neue Ideen begeistern lässt. Er ist begeistert, überzeugt und dabei. Das wird uns noch mehrfach in seinem Leben begegnen.
Eine weitere Stärke von ihm ist, dass er bereit ist, sich korrigieren zu lassen und von einer Idee abzuweichen, wenn er merkt, dass sie nicht ganz korrekt ist.
Die beiden heiraten nun. Zinzendorf sieht zu dem Zeitpunkt etwa so aus wie auf einem jungen, hübschen Mann. Sie ziehen nach Sachsen, wo seine Großmutter herkommt und auch die mütterlicherseits stammenden Vorfahren leben. Nach Österreich kann er nicht, da man dort gegen die Evangelischen eingestellt ist.
Er übernimmt damals das Landgut Bertelsdorf in der Oberlausitz. Ich glaube, es ist dieses hier. Dazu gehört eine Schlossanlage. Das Bild ist modern, aber das Haus existiert bis heute noch und ist relativ großzügig.
Das Landgut kauft er von seiner Großmutter ab. Geld ist also vorhanden. Zum Gut gehört auch ein Dorf und einige Höfe. Seine Hauptaufgabe sieht er bis dahin noch als Mitarbeiter am sächsischen Hof. Er ist für juristische Fragen zuständig und hat dafür seine Ausbildung gemacht.
Allerdings wird später berichtet, dass er immer wieder mit anderen Adligen aneinandergeriet. Der sächsische König war damals nicht besonders fromm. Ich erinnere daran, dass sein Vorfahre Spener vertrieben hatte, weil er ihm zu fromm war.
Die sächsischen Könige waren damals also nicht besonders fromm. Durch den Pietismus entstand in Sachsen ein Zweig der Kirche, der pietistisch geprägt war. Der große Teil der Kirche und der Königshof selbst waren jedoch nicht fromm.
Es wird berichtet, dass der sächsische König zum Geburtstag seiner Frau eine Parade durch die Stadt Dresden veranstalten ließ. Dabei wies er seine führenden Mitarbeiter an, sich als antike römische Götter zu verkleiden. Er selbst ließ sich auf einem Wagen durch die Straßen fahren – als Zeus, mit einem Stab, der Blitze symbolisierte, in der Hand.
Das war für Zinzendorf nichts. Damit konnte er nichts anfangen. Für ihn war das nur sündige Welt.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass er nach einigen Jahren am Hof des Königs in die Oberlausitz zurückkehrt. Dort ist er eigener Landesherr und muss sich nicht mit den anderen Adligen herumschlagen. Dort sieht er seinen Auftrag.
Allerdings ist dieser Auftrag für ihn noch nicht ganz klar. Er ergibt sich eher indirekt.
Gründung von Herrenhut und das Modell des gemeinschaftlichen Lebens
Im Jahr 1722 kamen erstmals Flüchtlinge aus Böhmen beziehungsweise Mähren zu Zinzendorf. Diese nennt man später die Hussiten. Die Hussiten berufen sich als Nachfolger von Jan Hus. Ob sie direkt von ihm abstammen, wissen wir nicht genau. Es handelt sich zumindest um evangelisch gesinnte Menschen, die aus der Tschechei vertrieben wurden. Dort fand durch die Österreicher eine Rekatholisierung statt.
Einige dieser Flüchtlinge kamen über die Grenze und baten Zinzendorf, ob sie sich auf seinem Gebiet niederlassen dürften. Damals galt seit dem Ausbau des Religionsfriedens das Prinzip cuius regio, eius religio, also: Wessen Land, dessen Religion. Zinzendorf konnte also entscheiden, ob diese nicht ganz evangelisch-konformen Menschen sich auf seinem Land ansiedeln durften. Er erlaubte es ihnen.
Die Flüchtlinge siedelten sich in einem ländlichen Gebiet an, wo bisher kein Dorf bestand. Dieses Gebiet lag in der Nähe des sogenannten Hutbergs. Dort wies Zinzendorf ihnen an, ein Dorf zu bauen. Deshalb erhielt das Dorf den Namen Herrenhut, also „Herr auf dem Hutberg“. Im Laufe der Zeit entstand hier ein eigenständiges Dorf.
Zinzendorf war bei der Anlage des Dorfes aktiv beteiligt – man könnte sagen, er war eine Art Landschaftsarchitekt. Hier entstand ein Modell des Zusammenlebens der Herrnhuter, das sich später auch in anderen Teilen Deutschlands fortsetzen sollte. Das Dorf wurde um einen quadratischen Platz herum gebaut. Dieser Platz war mit Grünanlagen gestaltet. An einer Seite stand eine Kapelle.
Die Kapelle war bewusst schlicht gehalten und hatte keinen Kirchturm. Der Innenraum der Kapelle aus der Zeit Zinzendorfs ist heute noch zu sehen. Er wurde zwar zwischendurch durch einen Brand zerstört und wieder aufgebaut, aber die Schlichtheit ist erhalten geblieben. Für die damalige Zeit wirkte die Kapelle sehr einfach: Man baute vor allem mit Holz, nutzte einfache Holzbänke und eine Holzempore. Die Farbe Weiß dominierte, um Reinheit, Sauberkeit und Heiligkeit auszudrücken.
Damals galt diese Schlichtheit als besonders angemessen. Auch die anderen Gebäude waren einfach gehalten, obwohl sie von außen für heutige Betrachter durchaus ungewöhnlich wirken. Es war nicht die Barockzeit. Im Barock baute man größere Fenster und Walmdächer, was die Gebäude prächtiger erscheinen ließ. Hier war der Stil eher schlicht, aber dennoch funktional.
Neben dem großen Platz mit Grünanlagen stand das Gemeindehaus. Ringsherum wurden Wohnhäuser gebaut, die alle gleich gestaltet waren. Die meisten Bewohner von Herrenhut sollten nicht allein wohnen, sondern in Gemeinschaft. Zinzendorf war von Anfang an die Gemeinschaft wichtig, in der er lebte.
Einige erste Ideen, die später wohl nie wieder umgesetzt wurden, entstanden hier. So ließ Zinzendorf junge unverheiratete Frauen und Männer jeweils zusammen in einem Haus wohnen. Männer und Frauen waren getrennt untergebracht. Man kann es mit einem Internat vergleichen. Die jungen Erwachsenen wohnten also nicht mehr bei ihren Eltern, sondern in solchen Gemeinschaftshäusern.
Dieser gemeinsame Platz diente zum Feiern und Arbeiten. Die Gemeinde lag direkt daneben, jedoch ohne Kirchturm – auch sie war schlicht eingerichtet. Dieses Modell des Zusammenlebens wurde vielfach übernommen.
Wer sich in der Gegend umschauen möchte: Die nächste Herrnhuter Siedlung in gutem Zustand ist die in Neuwied. Dort steht eine Herrnhuter Siedlung, die heute unter Denkmalschutz steht. Man kann dort noch vieles von dem typischen Muster der Herrnhuter Siedlungen erkennen.
Theologische Entwicklung und Liturgie bei Zinzendorf
Das, was er jetzt auch gemacht hat, zeigt sich hier deutlich: Viele seiner innovativen Experimente und Gedanken finden wir wieder. Beispielsweise begann er dann auch zu predigen.
Hier kommt übrigens eine kleine Geschichte dazwischen: Die Pfarrer der Umgebung beschwerten sich und sagten, das sei doch kein Pfarrer. Deshalb holte Zinzendorf noch ein Theologiestudium nach. Weil man ihn in Sachsen nicht ordinieren wollte – dort dominierte die orthodoxe lutherische Orthodoxie –, ging er nach Württemberg. Zu diesem Zeitpunkt gab es dort schon einige Fromme, unter anderem Bengel. So wurde er dort ordiniert.
Deshalb kam es zu der von mir vorhin genannten Antrittspredigt, also seiner ersten Predigt als Pfarrer, in der Stiftskirche Tübingen. Eigentlich kam er ja gar nicht von dort. Aber insofern war er jetzt offiziell ordiniert, und man konnte ihm daraus keinen Strick mehr drehen.
Allerdings hielt er nicht viel von der lutherischen Liturgie. Das heißt, er entwarf schlicht seine eigene Liturgie. Dabei war er manchmal experimentell, sodass wir heute noch darüber nachdenken können. Obwohl man heute viel gewohnt ist, ist das doch kaum vorstellbar.
Beispielsweise führte er schlichtweg ab und zu reine Liedgottesdienste ein – ohne Bibellesung und ohne Predigt. Einfach den ganzen Gottesdienst singen. Weil ihm viele der vorhandenen Lieder nicht ganz entsprachen, dichtete er neue Lieder und brachte ein ganz eigenes Liederbuch heraus. Einige dieser Lieder sind bis heute noch bekannt.
Sie sind auch heute noch im Kirchenliederbuch enthalten. Eines davon ist zum Beispiel „Herz und Herzverein zusammen sucht im Herzen Gottes Ruh“, eines der Lieder von Zinzendorf. Es gibt noch einige andere; damals dichtete er zig Lieder.
Allerdings müssen wir auch sagen, dass manche der Lieder, die Zinzendorf gedichtet hat, uns heute etwas übertrieben wirken. Das liegt einfach daran, dass die Sprache des Barocks eine ganz andere war als heute. Sie war sehr gefühlsbetont und blumig, was auf uns heute manchmal komisch wirkt. Deshalb werden viele der Lieder Zinzendorfs heute nicht mehr so häufig gesungen.
Er führte also neue Lieder und Liedgottesdienste ein. Übrigens gab es bei ihm auch Dinge, die uns vielleicht wundern und die für den Pietismus nicht typisch sind: Zum Beispiel durften bei ihm auch Frauen predigen.
Das kann man jetzt als Untergang der Kirche sehen oder eben nicht, aber hier war er ganz experimentell veranlagt. Denn warum nicht? Frauen können das doch auch. Diese Praxis setzte sich auf Dauer allerdings nicht durch. Später, bei den Herren- oder Brüdergemeinden, wurde sie wieder abgeschafft. Aber hier probierte er Neues aus.
Eine weitere Neuerung war, dass er das System der Hauskreise weiterentwickelte. Bei Spener haben wir gesehen: Der Pfarrer ist mit dabei, es wird ausgelegt, insbesondere unter den Männern. Die Frauen dürfen zuhören. Bei Francke war es etwas lockerer; da durften auch die Handwerker mit dabei sein und sich selbständig treffen.
Zinzendorf entwickelte das noch weiter: Er teilte die ganze Gemeinde in kleine Gruppen auf, die sich regelmäßig zum Bibellesen und Beten trafen – und zwar ohne Pfarrer, einfach so. Er nannte diese Gruppen Chöre und Banden.
Hier haben die Banden nichts mit Kriminellen zu tun, und die Chöre haben nichts mit Singen zu tun. Es sind einfach Bezeichnungen für verschiedene Gruppen, die sich trafen.
Zum Beispiel gab es Gruppen nur mit jungen Frauen. Die jungen unverheirateten Frauen gründeten einige Hauskreise, weil er meinte, sie könnten sich besser verstehen und austauschen. Dann gab es Gruppen für verheiratete Frauen, verheiratete Männer, junge unverheiratete Männer und so weiter.
Diese Gruppen dienten also dem persönlichen Bibelstudium. Auch das war eine neue Idee, die er damals hatte.
Die Erfindung der Losungen und Gemeindestruktur
Eine weitere neue Idee war die Erfindung der Losungen. Dabei ist der Begriff „Losung“ hier doppelt gemeint. Zum einen verwenden wir den Begriff „Losung“ wie im Militär: „Sag deine Losung“, also gehörst du dazu oder nicht. Das spielte einerseits eine Rolle. Andererseits bezieht sich der Begriff auch auf die Auswahl der entsprechenden Bibelverse.
Zinzendorf wollte nämlich, dass im ganzen Dorf die Leute zumindest jeden Tag einen Bibelvers lesen. Wenn sie sich dann treffen, konnten sie sich darüber unterhalten, da sie alle fromm waren und zu den sogenannten Herrnhuter Brüdergemeinden gehörten. Hier ist nicht die Brüdergemeinde gemeint, denn die Brüdergemeinden entstehen in Deutschland erst im 19. Jahrhundert. Es handelt sich um die Herrnhuter Brüdergemeine. Diese waren nicht „gemein“ im Sinne von unfreundlich, sondern hier wird die Gemeinschaft betont, also dass sie alles gemeinsam haben.
Diese Herrnhuter Brüdergemeine entstand innerhalb der lutherischen Kirche, obwohl sie relativ unabhängig agierten. Niemand redete ihnen da hinein. Eines Tages kam Zinzendorf auf die Idee, ein solches Losungsbuch herauszugeben. Das geschah erstmals im Jahr 1731. Es wurde gedruckt und hatte noch ein etwas anderes Format, ungefähr so in dieser Größe, also etwas länglicher als heute. Hier habe ich die Ausgabe vom letzten Jahr genommen, die wahrscheinlich die meisten kennen. Oben sieht man auch das Wappen der Herrnhuter Brüdergemeine.
Die Ausgabe war die 281., was mit dem ersten Druckjahr 1731 übereinstimmen müsste. Darin war jeweils nur ein Bibelvers aus dem Alten Testament und einer aus dem Neuen Testament enthalten. Das, was man heute noch mit Lehrtext und Gebet kennt, kam erst später dazu. Bei Zinzendorf waren es also etwas kleinere Ausgaben mit nur zwei Bibelversen.
Diese Bibelverse wollte Zinzendorf nicht bewusst aussuchen. Er hatte den Eindruck, die Auswahl müsse Gott überlassen werden. Aber wie kann man das? Man kann beten, aber normalerweise kommt nicht gleich die entsprechende Bibelstelle vom Himmel. Man muss sie irgendwo herbekommen. Deshalb griff er auf den Gedanken zurück, wie es im Alten Testament zur Zeit der Wüstenwanderung praktiziert wurde.
An der Stiftshütte gab es nämlich die beiden Säulen Urim und Turim, die als Lose dienten, und danach wurden manche Entscheidungen getroffen. Lose ziehen gab es also im Alten Testament. So ähnlich machte er es hier auch. Die Bibelverse kamen in eine Lostrommel. Das wird bis heute so gemacht. Dann wird ein Vers herausgezogen, und das ist der Vers für diesen Tag. Die Idee war, dass die Verse von Gott ausgewählt sind.
Auch das war für die damalige Zeit eine innovative Idee. Ob sie gut oder schlecht ist, ob man sie unterstützen kann oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Aber es war eine besondere neue Idee. So etwas gab es bis dahin nicht: eine Art Andachtsbuch nur mit Bibelversen für die ganze Gemeinde und Gemeinschaft.
Immerhin ist das zweifellos eine der erfolgreichsten Erfindungen Zinzendorfs. Diese Losungen, wie man sie auch nennt, sind bis heute weit über die Grenzen der Brüdergemeinden hinaus bekannt.
Zinzendorf baute dieses Losungsprinzip noch weiter aus, über die Auswahl der Bibelverse hinaus. In der Gemeinde überlegte man nun, wie man eine Gemeindestruktur gestalten sollte. Zinzendorf war ja der Pfarrer, und es gab auch eine Anzahl von Ältesten, die zusammenkamen. Aber wer war nun Gemeindeleiter? Die Antwort von Zinzendorf war ganz klar: Gemeindeleiter ist Jesus.
Das war aber nur die einfache Antwort. Schwieriger wurde es bei der Frage, wie man mit Jesus bespricht, wann der Gottesdienst ist oder ob man eine Reise unternehmen soll. Hier versuchte er, das direkt umzusetzen, und erfand ebenfalls ein Los-System.
In seinem Haus gab es eine Lostrommel mit drei Losen, auf denen stand: Ja, Nein, noch nicht. Immer wenn eine wichtige Entscheidung anstand, wurde ein Los gezogen, und das sollte die Entscheidung des Herrn sein.
Das praktizierte er eine ganze Zeit lang. Allerdings kamen dann Kritiker, die sagten, das sei Aberglauben. Zinzendorf merkte auch, dass das Losen nicht immer das Ergebnis brachte, das sie erhofft hatten. Manchmal kamen seltsame Entscheidungen heraus, etwa bei Ehefragen oder bei der Frage, ob er eine Reise unternehmen sollte oder nicht. Nach einiger Zeit wurde dieses Verfahren wieder abgeschafft.
Hier zeigt sich auch eine Stärke Zinzendorfs: Er kam auf neue, originelle Ideen, war aber auch bereit, Korrekturen vorzunehmen, wenn etwas schieflief. Das unterscheidet ihn von manchen Sektierern. Sektierer haben oft seltsame Ideen, halten daran fest und bauen sie noch aus. Zinzendorf hatte zwar auch manchmal ungewöhnliche Ideen, ließ sich aber korrigieren und gab sie wieder auf.
So blieb das Losverfahren nur eine kurze Episode.
Kontakte zu Radikalpietisten und Konflikte mit der Kirche
Zinzendorf hatte während dieser Zeit durchaus viel Kontakt zu Radikalpietisten, die teilweise sehr eigenartige Ideen vertraten. Hier sehen wir ihn im fortgeschrittenen Alter, als reifen Mann, etwas schlicht gekleidet.
Im Bild ist eine weitere Siedlung zu sehen. Zu dieser Zeit führt es dazu, dass er aus Herrenhut vertrieben wird. Insbesondere die lutherische Kirche in Sachsen kritisiert ihn für viele Dinge, die nicht in Ordnung laufen – manche dieser Kritikpunkte sind berechtigt, andere nicht. Die Kirche fordert den König von Sachsen auf, Zinzendorf des Landes zu verweisen. Diesem Wunsch kommt der sächsische König nach.
Zinzendorf überschreibt zuvor sein Hab und Gut seiner Frau, da sie nicht unter dem Bann steht und somit weiterhin bleiben darf. So gründet er in der Wetterau, in der Nähe von Frankfurt, eine weitere Siedlung namens Herrenhaag. Einige der Gebäude dort stehen bis heute. Die typischen Gebäude in Herrenhaag ähneln denen in Herrenhut.
In diesen Gebäuden zieht eine ganze Siedlung ein. Dort lassen sich sowohl Flüchtlinge als auch fromme Pietisten aus verschiedenen Teilen Deutschlands nieder. Viele von ihnen wurden vertrieben und durften nicht mehr an ihren ursprünglichen Orten bleiben. Zinzendorf nimmt sie hier auf. Es entsteht ein buntes Gemisch von Menschen mit teils sehr unterschiedlichen Ideen.
Zinzendorf ist in dieser Zeit viel unterwegs. Es fällt in die Phase, in der er die ersten Aufbrüche in Richtung Mission initiiert. Er bereist zahlreiche Länder, besucht Missionare und baut ein ganzes Netz auf. Dazu komme ich gleich noch einmal.
Was ich jetzt noch erwähnen möchte: In Herrenhaag überlässt er die Leitung einem seiner Söhne. Dort entwickelt sich eine typische Zwischenform der Herrnhuter Brüdergemeine, die ebenfalls etwas sektiererisch wirkt. Man spricht im Nachhinein von der sogenannten Sichtungszeit, die etwa von 1734 bis 1750 angesetzt wird – also etwa sieben Jahre. Diese Zeit baut sich langsam auf und steigert sich immer weiter, bis sie schließlich eine Form annimmt, die man als problematisch ansehen könnte.
Zum Beispiel wird in der Bibel gelesen, dass Paulus mehrfach auffordert, einander mit dem heiligen Kuss der Liebe zu grüßen. Zinzendorf sagt daraufhin: „Dann setzen wir das um.“ Anfangs küssen sich alle nur zur Begrüßung. Doch es ist nicht nur Wange auf Wange, sondern Mund auf Mund.
Mit der Zeit bemerken kritische Beobachter, dass manche junge Männer einige junge Frauen intensiver küssen als andere. Daraus entsteht berechtigter Argwohn, dass es nicht nur aus herzlicher Bruderliebe geschieht, sondern dass noch mehr dahintersteckt. Das ist zunächst ein erregter Argwohn.
In dieser Zeit erscheinen zahlreiche Schriften, die vor Zinzendorf und seinen Lehren warnen. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang verwendet wird, ist „Herzeln“. Wie nennt man es noch? „Schätzeln“ – man merkt hier die barocke Aussprache. Es geht nicht einfach nur um einen Kuss, sondern um Herzeln und Schätzeln. So nennt man das gegenseitige Umarmen aus brüderlicher und schwesterlicher Zuneigung.
Ein weiteres Problem ist eine regelrechte Steigerung und Hineinsteigerung in einen Blut- und Wundenkult. Besonders werden bestimmte Feste gefeiert. So wird Ostern umbenannt in das Fest des Seitenwundchens Jesu.
Kurz bevor das Ganze beendet wird, wird die Kapellentür mit Pappmaché als Seitenwunde Jesu verkleidet und angemalt. Jeder Gläubige soll durch die Seitenwunde Jesu in den Gottesdienstraum eintreten. Man spricht davon, dass der Christ das „Kreuzluftvöglein“ sei, das in der Seitenwunde Jesu nistet – und ähnliche Geschichten.
Man merkt, dass sich das Ganze schon etwas merkwürdig entwickelt. Es werden Lieder gesungen, die die Seitenwunde Jesu und das Blut verherrlichen. Es ist eine emotionale und äußerliche Steigerung, die bereits sehr problematisch ist.
Die Kritik an Zinzendorf wird stärker. Statt dass er zurückschlägt, ruft er die Gemeinde zur Ordnung. Dies geschieht zwar erst nach mehreren Jahren, aber es kommt zur sogenannten Sichtungszeit. Der Begriff „Sichtung“ stammt aus dem Neuen Testament, wo es heißt, der Acker sei reif zur Sichtung. Das bedeutet, dass Unkraut vom wahren Weizen getrennt wird.
Genau das macht Zinzendorf jetzt auch. Er lässt zunächst vieles zu und gibt einigen Propheten Raum, weil er meint, Gott könnte auch dadurch reden. Das gab es im Pietismus damals öfter. Doch nun merkt er, dass das nicht in Ordnung ist. Die Sichtung findet statt, und man kehrt zu nüchterneren Formen zurück.
Das heißt, das Schätzeln und Herzeln hört auf, die Verkleidung der Seitenwunde wird entfernt, die entsprechenden Lieder werden nicht mehr gesungen, und die Prophetie wird abgeschafft. Die Gemeinde findet wieder zu einer nüchternen Ebene zurück.
Einige Jahre später wird Zinzendorf nach dem Zureden und der Fürsprache einiger Freunde wieder zugelassen. Er kann zurück nach Sachsen kommen und auch weiterhin in Herrenhut leben.
Missionsarbeit und weltweite Vernetzung
Was allerdings zwischenzeitlich passiert, ist ein anderer Aspekt seines Lebens, den ich bisher ausgeklammert habe. Kurz nachdem Herrenhut entsteht, wird Zinzendorf zur Krönungsfeier von König Christian von Dänemark eingeladen. Der König ist ein entfernter Verwandter, und so erhält Zinzendorf diese Einladung. Insgeheim hofft er, dass der König ihm eine Ministerstelle anbietet.
Dies geschieht jedoch nicht. Stattdessen bekommt er öffentlich einige Orden verliehen. Das ist das Mindeste, was man einem Gastgeschenk für einen entfernten Verwandten geben kann. Eine Ministerstelle wird ihm jedoch nicht angeboten. Zinzendorf berichtet, dass er etwas enttäuscht war.
Auf der großen Feier in Kopenhagen trifft er dann einige afrikanische Sklaven. Ich weiß nicht mehr genau, wie man das heute politisch korrekt ausdrückt – vielleicht Sklaven mit anderer Hautfarbe oder so –, aber ihr wisst, wen ich meine: Menschen mit dunkler Hautfarbe, die als Sklaven und Diener am Königshof in Dänemark arbeiten. Mit ihnen kommt er ins Gespräch.
Hier zeigt sich wieder typisch Zinzendorf: Erst ist er enttäuscht, doch plötzlich sieht er eine neue Aufgabe. Er spricht mit diesen Leuten, die ihn bedienen, und verkündet ihnen das Evangelium. Während der Zeit, als er dort ist, bekehrt sich einer von ihnen. Dieser erzählt Zinzendorf, dass auch seine anderen Familienmitglieder das Evangelium hören müssen. Sie sind Sklaven auf St. Thomas in der Karibik.
Zinzendorf sieht dies als Wegweisung Gottes. Er sagt sich: „Ich bin hier zur Krönungsfeier gekommen, damit ich diesen Auftrag erkenne – die Notwendigkeit, diese Menschen für das Evangelium zu erreichen.“ Er kehrt mit neuer Freude und Perspektive nach Herrenhut zurück. Dort hält er eine Predigt, in der er von der Mission begeistert berichtet.
In Herrenhut melden sich gleich einige Handwerker aus dem Ort, die sagen: „Ja, wir gehen in die Mission.“ Es gibt keine große Ausbildung. Das ist typisch für die pietistische Missionsarbeit. Auch die Missionare, die von Halle ausgesandt werden, sind meist keine hochstudierten Theologen. Sie haben oft so viele theologische Probleme, dass sie gar nicht mehr sehen, dass es noch Verlorene gibt. Hier sind es die einfachen Leute, die durch Gebet vorbereitet werden und dann losziehen.
Im Gegensatz zu August Hermann Francke ist Zinzendorf hier allerdings etwas blauäugig. Glücklicherweise geht es meistens gut, aber bei Francke gab es zumindest eine Anstalt, in der die Missionare erst einmal die Sprache und Kultur der Länder lernen, in die sie gehen. Bei Zinzendorf spielt das alles keine Rolle. Wenn man nur genügend betet und glaubt, dann zieht man los.
Sie bekommen von Zinzendorf die Fahrkarte und reisen nach St. Thomas. Erstaunlicherweise funktioniert die Missionsarbeit sogar. Dennoch sollte dies nicht als Vorbild dienen. Es ist besser, heute gut vorbereitet in die Mission zu gehen.
Innerhalb weniger Jahrzehnte baut Zinzendorf die Missionsarbeit aus. Nicht nur in der Karibik, sondern auch in Südafrika, bei den sogenannten Hottentotten, wird missioniert. Diese Bezeichnung wurde von den Europäern übernommen, die die Menschen als unordentlich empfanden.
Außerdem wird eine Missionsstation auf Grönland aufgebaut, das damals zu Dänemark gehörte. Der Zeisberger geht zu den Indianern nach Nordamerika und betreibt dort eine sehr effektive und positive Missionsarbeit. Auch in Indien wird missioniert, ebenso an weiteren Orten.
So entstehen zahlreiche Missionsniederlassungen der Herrnhuter Brüdergemeine, die sehr erfolgreich sind. Dies führt dazu, dass die meisten Herrnhuter Brüder heute nicht in Deutschland oder Europa leben, sondern im südlichen Afrika. Dort sind die Herrnhuter Brüdergemeinden weit verbreitet.
Sie sind zwar nicht die größte Konfession, aber durch die intensive Missionsarbeit, die über die Jahrhunderte betrieben wurde, relativ weit verbreitet. Die meisten Herrnhuter Brüdergemeinden in Afrika sind auch wesentlich konservativer als die heutigen Gemeinden in Deutschland. Dort sind sie eher mit dem Mainstream der lutherischen Kirche verbunden, die zwar manches Positive hat, aber manchmal auch zweifelhafte Überzeugungen vertritt. Diese finden sich auch heute in den Herrnhuter Brüdergemeinden.
Damals werden die Missionare ausgesandt. Ab diesem Zeitpunkt ist Zinzendorf viel in der Welt unterwegs. Er besucht Missionare persönlich, versucht sie zu ermutigen, finanziell zu unterstützen und ihnen neue Ideen zu geben. Außerdem bringt er Informationen zurück nach Europa, damit man gemeinsam für die Mission beten kann.
So entsteht eine ausgedehnte Missionsarbeit, bei der Zinzendorf stark engagiert ist.
Tropenlehre und ökumenische Haltung
Eine Sache, die ich hier noch erwähnen möchte, ist seine Missionsarbeit. Auf der einen Seite verfolgt er damit das Ziel, Menschen für den Glauben zu gewinnen. Andererseits hat Zinzendorf, wie es damals im Pietismus typisch war, auch die Auffassung, dass bald das Ende der Zeiten anbrechen und Jesus sein Reich aufrichten würde.
In Matthäus 24 liest er, dass, bevor Jesus kommt, allen Völkern das Evangelium gepredigt wird. Denn aus jedem Volk und jeder Nation werden vor dem Thron Gottes Christen stehen. So betreibt er seine Missionsarbeit auch als eine Beschleunigung der Wiederkunft Jesu. Einerseits sollen die Menschen zum Glauben kommen, andererseits hofft er, durch seine Anstrengungen die Wiederkunft Jesu beschleunigen zu können.
Schon damals hatte er den Traum, der bis heute manchmal noch existiert, dass innerhalb einer Generation die gesamte Welt erreicht werden könnte. Heute lächeln wir vielleicht darüber, wenn wir an die damaligen Möglichkeiten denken. Aber wenn man sieht, wie er das angeht, muss man sagen, dass es für die damalige Zeit sehr intensiv war. Er hat sich voll und ganz dafür eingesetzt.
In dieser Zeit entwickelte er auch eine sogenannte Tropenlehre. Diese Tropenlehre hat nichts mit den Tropen zu tun, sondern leitet sich vom lateinischen Begriff „Tropos“ ab, der so viel wie „Thema“ bedeutet. Damit wollte er sagen, dass jede Konfession, die es gab, ein Tropos Gottes sei. Jede dieser Konfessionen habe ihr eigenes Recht. Sie hätten eine besondere Wahrheit von Gott erkannt und sollten diese weiterverfolgen. Im Grunde genommen gehören aber alle Christen zusammen, auch wenn sie unterschiedliche Tropoi, also unterschiedliche Themen, haben.
Hier zeigt sich eine Strömung des Pietismus, die einen sehr starken ökumenischen Charakter verfolgt. Nicht Ökumene im heutigen Sinne, sondern eher eine Glaubensökumene. Das bedeutet, dass keine einheitliche Organisation angestrebt wird. Jeder soll seine Sache im Vertrauen auf Gott und in voller Rechenschaft vor ihm betreiben. Deshalb wirkt Zinzendorf in Europa nicht stark als Gründer einer neuen Konfession.
Vielmehr richtet er sich an die Heiden, die den Glauben noch nicht kennen, und will sie erreichen und zu Jesus rufen. Die Europäer sollen in ihrem jeweiligen Bekenntnis bleiben: Wenn sie Lutheraner sind, sollen sie treue Lutheraner bleiben. Wenn sie Katholiken sind, sollen sie treue Katholiken sein und Jesus nachfolgen. Diese Bekehrung sollen sie erleben, aber dafür braucht es keine neue Kirche.
Seine Tropenlehre, für die er später auch bekannt wurde, verfolgt genau dieses Ziel. So setzt er seine Missionsarbeit fort. Später entstehen daraus die Herrnhuter Brüdergemeinden als eigenständige Kirche. Das war ursprünglich nicht beabsichtigt, aber durch die Gründung von Herrnhuter Brüdergemeinden auf der ganzen Welt, zum Beispiel in Afrika oder in Nordamerika bei den Indianern, wird es notwendig.
In diesen Missionsländern gibt es keine lutherische Kirche. In Deutschland sind die Herrnhuter innerhalb der lutherischen Kirche, aber in den Missionsgebieten nicht. Deshalb wird Zinzendorf mehr oder weniger dazu gezwungen, eine eigene Liturgie zu entwerfen und eine eigene Kirchenorganisation aufzubauen. So entstehen die Herrnhuter Brüdergemeinden als pietistische Konfession – wenn auch indirekt.
Er wollte das nicht direkt, aber durch seine Missionsarbeit wurde er dazu getrieben, weil er die Organisation regeln musste. Die lutherische Kirche war damals nicht bereit, diese Aufgaben zu übernehmen und stand nicht dahinter. In der lutherischen Kirche gab es damals so gut wie keine Mission.
Es gab die Hallesche Mission, die von Francke gegründet wurde, und die Zinzendorfer Mission. Erst eine Generation später öffnete sich die lutherische Kirche mehr für Missionen. Dann war es wieder in erster Linie das Engagement von Einzelpersonen. Im 19. Jahrhundert entstanden die von Gossnacksche Mission, die Leipziger Mission, die Dresdner Mission und ähnliche lutherische Missionsgesellschaften. Zu Zinzendorfs Zeit existierten diese aber noch nicht, sie entstanden erst später.
Einfluss auf den Methodismus in England
Eine kleine Sache, die ich jetzt noch erwähnen möchte, ist, dass Zinzendorf indirekt an der Gründung beziehungsweise am Anfang des Methodismus in England beteiligt war.
Das geschah folgendermaßen: Ich will jetzt nicht die ganze Geschichte von Wesley erzählen, aber zumindest darauf hinweisen. Wesley war ein junger Mann, religiös aufgewachsen und Pfarrer der anglikanischen Kirche. Er reiste als junger Mann nach Nordamerika, um dort die Indianer zu missionieren.
Auf dieser langen Überfahrt, die damals mit Segelschiffen erfolgte, befand sich gleichzeitig eine Gruppe von Herrnhuter Brüdern, die als Missionare unterwegs waren. Wesley machte die Überfahrt mit ihnen. Später berichtete Wesley, dass es während der Fahrt einen großen Sturm gegeben habe. In diesem Sturm hatten alle Angst, auch er selbst. Nur die Herren und Brüder, also die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine, hätten unten im Bauch des Schiffes gesungen und Gott während des ganzen Sturmes gelobt.
Am nächsten Tag kam Wesley zu ihnen und fragte: „Habt ihr denn keine Angst gehabt?“ Sie antworteten: „Nein, wir hatten keine Angst. Wir wissen, dass wir in der Hand Gottes sind.“ Das überraschte ihn vollkommen, denn so etwas kannte er nicht.
Seine Missionsarbeit unter den Indianern verlief für Wesley völlig erfolglos, sodass er mehr oder weniger frustriert nach England zurückkehrte. Dort suchte er neu nach Orientierung und stieß auf eine Herrnhuter Brüdergemeinde in London. Diese traf sich in der Aldersgate Street, las regelmäßig die Bibel und feierte Gottesdienste, wie Zinzendorf sie entwickelt hatte. Wesley besuchte diese Gemeinde regelmäßig.
In seinen Tagebüchern beschreibt Wesley, dass er dort zum Glauben kam. Er schreibt ausführlich darüber, dass er an diesem Ort seinen Glauben fand. Begeistert vom deutschen Pietismus reiste er später nach Deutschland und besuchte Zinzendorf. Er verbrachte mehrere Monate bei ihm, war von ihm begeistert und besuchte auch die hallischen Anstalten. Franke war zu diesem Zeitpunkt schon tot, aber sein Nachfolger führte die Arbeit fort. Wesley schaute sich alles an, war begeistert und wollte nun pietistische Gemeinschaften in England gründen.
Das funktionierte auch einige Jahre lang gut. Doch dann geschah etwas Ähnliches wie bei Zinzendorf: Wesley war eine begabte Persönlichkeit, Zinzendorf ebenfalls. Beide gerieten jedoch in Streit und trennten sich. Wesley gründete daraufhin keine Herrnhuter Brüdergemeinden, sondern erweckliche Kreise innerhalb der anglikanischen Kirche. Als er schließlich aus der anglikanischen Kirche ausgeschlossen wurde, entstand daraus die methodistische Kirche.
So ist die methodistische Kirche in ihrem Ansatz eigentlich auf den deutschen Pietismus zurückzuführen – in erster Linie durch Zinzendorf, aber auch durch Franke beziehungsweise seine Anstalten, die es zu dieser Zeit noch gab.
Ich finde es sehr interessant, wie sich kirchengeschichtliche Einflüsse gegenseitig über Länder- und Zeitgrenzen hinweg auswirken.
Lebensende und Vermächtnis
Zinzendorf selbst stirbt schließlich im Jahr 1760. Ich weiß nicht, ob er seine Lebensdaten selbst genannt hat, aber diese sind relativ einfach zu merken, besonders bei Zinzendorf. Er lebte nämlich von 1700 bis 1760. Wenn Julius Freylt älter geworden ist, ist das keine große Rechnung – sechzig Jahre sind relativ leicht zu erfassen.
Er stirbt, und die Herrnhuter Brüdergemeinden blühen weiter. Sie sind eine der Wurzeln der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert. Die Reste dieser Herrnhuter Brüdergemeinden sind in ganz Deutschland verstreut und bilden mit ihrem „Humus“ den Boden für die Erweckungsbewegung. Ähnlich verhält es sich mit anderen pietistischen Gemeinschaften, die in der Zwischenzeit entstanden sind.
So weit erst einmal zu Zinzendorf. Jetzt habe ich noch ein paar Bilder zu ihm. Hier sieht man einen typischen Herrnhuter Gottesdienst mit schlichter Kleidung. Interessanterweise führte Zinzendorf eine Zeit lang die Fußwaschung ein. Dabei mussten alle weiße Gewänder tragen.
Hier ist Zinzendorf zusammen mit Wesley abgebildet. Das habe ich ja vorhin schon erwähnt. Auf der linken Seite soll Zinzendorf sein, auf der rechten Wesley.
Zum Schluss sehen wir das Ende: die Gräber von Zinzendorf und seiner Familie in Herrnhut. Diese sind relativ schlicht gehalten, zumindest für damalige Verhältnisse. Es handelt sich um einen großen Friedhof, auf dem zahlreiche kleine Grabsteine zu finden sind. Diese stammen von Missionaren oder von Herrnhutern, die in Zinzendorf gelebt haben.
Hier sieht man den sogenannten Reichsgottacker, den man bis heute noch besichtigen kann. Das Bild zeigt die Gegenwart und markiert sozusagen das Ende Zinzendorfs.
Nun können gern noch Fragen gestellt werden, falls noch etwas genauer wissen möchte. Andernfalls sind das erst einmal die wichtigsten Informationen.
