Umkehren und leben

Konrad Eißler
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Gott ist und bleibt Kindsvater, der von seinen Kindern nicht lassen kann und deshalb zur Umkehr und Heimkehr ruft. Hesekiel ist ihm dabei behilflich. In seelsorgerlichem Gespräch geht er auf die Argumente eines Angefochtenen und Niedergeschlagenen ein­. Hören wir gleichsam als Türsteher hinein in diese Aussprache unter vier Augen: “Kehr doch um, so wirst du leben”! - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


“Zum Aufruf kommt der Fall X!” Der grünbefrackte Gerichtsdiener mit seinem toten Paragraphengesicht zerrte einen jungen Mann vor die Gerichtsschranke. Als der Staatsanwalt die Anklageschrift verlas, wurde es totenstill. Was war geschehen? Der Achtzehnjährige hatte mit seiner sechzehnjährigen Freundin ein Kind bekommen, und dieses Kind wollte er auf keinen Fall haben. Deshalb packte er eines Tages den Säugling, riss ihn aus seinem Bettchen, presste ihn in seine Aktentasche und versenkte ihn von der nächsten Brücke in den Fluten. Der Richter wurde todernst. Die Zuhörer waren ergriffen. Mir bog sich das Herz.

Warum war die Tat so unmenschlich? Warum war dieser Mord so grausam? Warum weiß ich das heute noch? Doch einfach deshalb, weil Kinder von ihren Eltern weglaufen kön­nen, weil junge Männer ihre Mädchen versetzen können, weil Ehe­männer ihre Ehefrauen sitzenlassen können, aber weil ein Vater nicht von seinem Kinde lassen kann.

Und Gott ist Vater. Er ist keine Idee. Er ist kein Hirngespinst. Er ist kein ferner Nebel oder nebelhafte Ferne. Gott ist Vater, der nicht von seinen Kindern los­kommt, auch wenn sie sich von ihm lossagen. Deshalb hat er sie gerufen wie ein Hirte, der seine Tiere ruft. Deshalb hat er sie gelockt wie eine Henne, die ihre Küken lockt. Deshalb hat er sie geladen, wie ein Hausherr, der seine Gäste einlädt. Ja, deshalb hat er den Himmel verlassen und ist in Jesus über diese Erde ge­gangen, um auch dem Letzten klarzumachen: Kehre um, wenn du dich nicht mit einem Fetzchen Leben begnügen willst. Kehre heim, wenn du dich nicht mit einem Eckchen Leben abgeben willst. Kehret wieder, Menschenkinder, denn ich biete kein viertel oder halbes oder dreiviertel, sondern ganzes Leben, Leben in seiner unendlichen Fülle.

Es gibt Rabenväter, die auf ihren eigenen Jungen herumhacken und ihnen nichts gönnen. Gott aber ist kein Rabenvater: “Wie köstlich ist deine Güte, Herr, dass Menschenkinder unter dem Schatt­en deiner Flügel Zuflucht haben”, singt David. Bei ihm ist man richtig versorgt.

Es gibt Stiefväter, die an ihren Zöglingen nur herummäkeln und ihnen keine richtige Liebe entgegenbringen können. Gott aber ist kein Stiefvater. “Er ist der rechte Vater über alles, was da Kinder heißt”. Bei ihm ist man tief geliebt.

Es gibt Großväter, die über ihren Enkeln nur noch die Köpfe schütteln und keinen guten Faden an ihnen lassen. Gott aber ist kein Großvater. “Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dir zu mir gezogen aus lauter Güte und Barmherzigkeit”, beteuert Jeremia. Bei ihm ist man hochgeschätzt.

Gott ist und bleibt Kindsvater, der von seinen Kindern nicht lassen kann und deshalb zur Umkehr und Heimkehr ruft.

Hesekiel ist ihm dabei behilflich, ein Mann, der kurz vor Abschluss seiner Priesterausbildung den Fall Jerusalems erleben musste. Im langen Zug der Gefangenen ging es Richtung Osten. Anstatt im Tempel landete er im Exil. Dort aber bläst er nicht Trübsal, sondern wird zum “Mundboten Gottes” (Luther), der keine Gelegenheit hinauslässt, um diese Botschaft loszuwerden. “Ohne Umkehr kein Leben.” So finden wir ihn auf großen Plätzen, wo er in glühender Leidenschaft für seinen Herrn steht. So sehen wir ihn an wichtigen Schulen, wo er in bestechender Logik seine Sache vorträgt. So beobachten wir ihn in kleinen Versammlungen, wo er in bildreicher Sprache die gute Nachricht erklärt. Nicht umsonst wird Hesekiel als ein Mann der Gegensätze bezeichnet. Und so begegnen wir ihm hier in einer Stube, wo er in seelsorgerlichem Gespräch auf die Argumente eines Angefochtenen und Niedergeschlagenen ein­geht. Hören wir gleichsam als Türsteher hinein in diese Aussprache unter vier Augen: “Kehr doch um, so wirst du leben!”, sagt der Prophet und der Mann kontert zum Ersten:

1. Ich kann gar nicht.

“Hesekiel, denk einmal an meine Erblast. Die Väter haben Gott einen guten Mann sein lassen. Die Großväter haben auf seine Gebote gepfiffen. Die Urgroßväter haben mit ihrem Wischiwaschi-Glauben wahrlich keinen Jubelsturm im Himmel erzeugt. Kein Wunder, dass Gott diese babylonische Strafexpedition ins Land schickte. Kein Wunder, dass Nebukadnezar Jerusalem ausräucherte wie ein Wespennest. Kein Wunder, dass wir jetzt im Dreck sitzen. Du kennst doch auch das Sprichwort: ‘Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne stumpf geworden’, oder wie wir jetzt sagen: ‘Man muss die Suppe auslöffeln, die andere eingebrockt haben.’ Du kennst doch auch das Gotteswort: ‘Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied’ (Ex.20,5), oder wie wir jetzt sage: ‘Wir müssen für die Schuld anderer büßen’. Du kennst doch auch das Weisheitswort: ‘Gegenwart ist durch Vergangenes belastet’. Hesekiel, die Väter haben Mist gebaut. Die Väter haben mich erblich belastet. Die Väter sind an allem schuld, deshalb kann ich gar nicht umkehren und leben.”

Am liebsten würden wir unseren Hörerposten an der Tür aufgeben und uns an dieser Stelle in jenes Seelsorgegespräch einmischen, um dem Mann recht zu geben: “Hesekiel, denk auch an unsere Erblast. Dem sein Vater hat die Mutter sitzen lassen, deshalb musste er in einer kaputten Familie aufwachsen. Dem sein Großvater war ein übler Trinker, deshalb macht ihm der Alkohol zu schaffen. Dem sein Urgroßvater saß schon im Kittchen, deshalb haben sie alle lange Finger. Wir alle haben unsere erblichen Probleme. Jeder hat seinen Suppenteller auszulöffeln. Die Väter sind an allem schuld, deshalb können wir gar nicht umkehr­en und leben.”

Aber Hesekiel sagt zu seinem Gegenüber: “Doch, du kannst. Gott sieht nicht nach deinen Vätern, sondern nach dir. Gott fragt nicht nach deinen Vätern, sondern nach dir.”

Gott rechnet keine fremden Schulden auf. Jeder steht in unmittelbarer Verantwortung direkt vor seinem Gott. Es gibt keine Schicksalsma­schinerie, die unwiderstehlich abrollt und uns unter die Räder kommen lässt. Es gibt keine Vergeltungsmechanik Gottes, die, einmal in Marsch gesetzt, überhaupt nicht mehr zu stoppen ist. Es gibt kein Blockiersystem, das mich von der Umkehr abhalten könnte. Gott kennt keine Sippenhaft. Jeder, der an einer Erblast leidet, sei es, dass ihn das große Liebesdefizit aus dem Elternhaus plagt, sei es, dass ihn das schwache Nervenkostüm seiner Vorfahren zu schaffen macht, sei es, dass ihm schwere Anlagen psychischer Natur immer wieder anhängen, höre diesen prophetischen Zuspruch: “Du kannst wegkommen. Du kannst heimkommen. Du kannst zu neuem Leben kommen. Doch, du kannst!”

Jetzt aber bringt unser Mann das nächste Argument und läutet damit eine zweite Runde des Gesprächs ein:

2. Ich darf gar nicht.

“Hesekiel, denk einmal an meine Schuldlast. Selbst wenn mich die Hypothek meiner Vorfahren nicht mehr belasten darf, stehe ich trotzdem in der Kreide. Weißt du, wir leben hier unter schwierigen Verhältnissen. Ohne Korruption läuft da überhaupt nichts. Ich kann nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage legen. Dann wird der Druck der Ausbeuter immer stärker. Jeder muss zusehen, wo er sein Sach’ herkriegt. Natürlich organisiere ich auch. Und dann bin ich ein Mensch aus Fleisch und Blut. Wenn das Blut kocht, habe ich mich nicht mehr im Zaum. Ehe ja, aber nicht nur! Das alles ist nicht recht. Damit verstoße ich gegen Gottes Gebot. Auf meinem Schuldkonto stehen rote Zahlen. Gott aber will mit solchen Kadetten nichts zu tun haben. Vom Tempel weiß ich noch, dass nur Gereinigte sich ihm nahen dürfen, deshalb verbrannten sie Tauben, ein Schaf oder gar einen Stier. Hier aber gibts nichts zu verbrennen. Die Schuld hängt mir an. Die Schuld kettet mich fest. Die Schuld ist an allem schuld, deshalb darf ich nicht umkehren und leben.”

Am liebsten würden jetzt wieder hinter unserer Tür hervorkommen und uns in das Gespräch einbringen, um dem Mann Flankenschutz zu geben: “Hesekiel, denk auch an unsere Schuldlast. Der hat ein kleines Geschäft und muss sich abstrampeln. Wenn er die Steuererklärung korrekt macht, dann kann er seinen Laden dichtmachen. Der hat einen ordentlichen Studienplatz und muss gut abschneiden. Wenn der bei den Tests nicht mit allen Tricks arbeitet, kann er gleich stempeln gehen. Der hat ein nettes Mädchen und muss sich amüsieren. Wenn der bis zur Hochzeit warten wollte, wäre sie längst auf und davon. Wir haben auf unserem Kerbholz ganz schön was drauf. Keiner kann mit seiner weißen Weste angeben. Die Schuld ist an allem schuld, deshalb dürfen wir gar nicht umkehren und leben.”

Und Hesekiel sagt: “Doch, du darfst. Gott ist ein Liebhaber des Lebens, der nicht am Tod des Gottlosen, sondern an der Rett­ung des Sünders Gefallen hat.”

Deshalb schnüffelt er nicht in alten Akten. Deshalb schaut er nicht nach roten Zahlen. Deshalb denkt er nicht an unsere Übertretungen, sondern an seinen Sohn. Den schickt er als Sündenbock los. Auf ihn wird die Schuldenlast jeden Lebens draufgepackt. Jesus, der Packesel unseres Drecks! Dann wird er zur Stadt hinausgejagt und draußen auf Golgatha ge­schlachtet. Daran denkt Gott und daran sollen wir auch denken, wenn wir nicht nur Schuldgefühle haben, sondern wirkliche Schuld wie Zentnerlast auf unserem Buckel liegt. Jeder, der an seiner Schuldlast leidet, sei es, dass sie ihm nicht mehr aus dem Gedächtnis geht, sei es, dass sie ihn in der Nacht aufschrecken läßt, sei es, dass sie ihn in depressive Zonen führt, der höre diesen prophetischen Zuspruch: “Du darfst wegkommen, du darfst heimkommen, du darfst zu neuem Leben kommen. Doch, du darfst.”

Damit ist das Gespräch noch nicht beendet. Unser Mann macht das Visier ganz auf und legt das letzte Argument auf den Tisch:

3. Ich will gar nicht.

“Hesekiel, denk an meine Arbeitslast. Babylon ist kein Schlaraffenland. Ich muss schon hart arbeiten, bis ich meine Pfennige zusammenhabe. Abends bin ich hundemüde und einen Sabbat gibt es nicht. Später will ich das schon bedenken, später, wenn ich mehr Ruhe habe, später, wenn ich zur Besinnung komme, später, wenn im Alter der Psalter zu Ehren kommt. Die Arbeit muss getan werden. Die Arbeit darf nicht liegenbleiben. Die Arbeit ist an allem schuld, deshalb will ich im Moment gar nicht umkehren und leben.”

Am liebsten würden uns noch einmal hinter unserer Tür hervortrauen und ein paar Sätze sagen, um dem Mann Beifall zu geben: “Hesekiel, denk auch an unsere Arbeitslast. Der Stress geht heute schon in der Schule los. Eine Arbeit jagt die andere vor dem Zeugniskonvent. Im Geschäft ist nach dem Streik die Hölle los. Als ob man eine siebenwöchige Pause kurzerhand reinholen könnte! Und zuhause sollten tausend Dinge erledigt werden. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wir alle haben einen ganz schönen Terminkalender. Die Tage sind dicke voll. Die Arbeit ist an allem schuld, deshalb wollen wir gar nicht umkehren und leben. Später, Hesekiel, später.”

Und der Prophet sagt: “Du sollst wollen. Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist.”

Natürlich weiß er auch, dass das neue Herz und der neue Geist nicht unser Geschäft, sondern Gottes Werk und Gabe ist. Trotzdem sagt er es so zugespitzt, damit wir’s begreifen: “Umkehren hat es mit dem Wollen und dem Gehorsam zu tun”. Heute sollen wir’s tun, weil es sonst zu spät sein könnte. Heute sollen wir’s wollen, weil die lange Bank der beste Sitzplatz des Teufels ist. Heute sollen wir’s sagen, weil der immer quicklebendige Adam in uns leiert: “Morgen, morgen, nur nicht heute!”

Heute, liebe Freunde, will Ihnen Gott ein Leben schenken, das frei ist von den Belastungen der Väter. Heute will Ihnen Gott ein Leben schenken, das frei ist von den Folgen der Schuld. Heute will Ihnen Gott ein Leben schenken, das frei ist von den Zwängen der Arbeit, ein Leben ohne Angst, ohne Bedrückung, ohne Furcht, ein Leben randvoll Freude mit ihm und vor ihm. Ist einer hier, der diesen prophetischen Zuspruch nicht benötigt: “Du sollst wollen, weil Gott will, dass seine Kinder bei ihm sind”?

Kehrt um, so werdet ihr leben.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]