
Hier ist Toni, und ich bin Philipp. Ich heiße Marie. Ah, und einer darf bei uns auch nicht fehlen: Sammy.
Uhuh, hier bin ich.
Die Doppeldecker. Boah, deinen Rollstuhl hier im Garten zu schieben, ist echt schwer. Ist es dir zu anstrengend, Marie?
Dann lass uns zurück ins Haus gehen.
Oh nee, nee, ich krieg das hin.
Aber wie schaffst du das denn immer im Alltag?
Ach, weißt du, irgendeinen Weg findet sich immer. Oder jemand, der mir hilft.
Die Cousinen Amy und Marie sind auf dem Weg durch den Garten. Ihr Ziel ist die Scheune von Mike, Amys Vater und Maries Onkel.
Dort drin steht nämlich sein alter Doppeldecker. Den haben Mike, Marie und ihre besten Freunde Philipp und Tony gemeinsam vom alten Lack befreit und neu angestrichen.
Heute wollen sie noch Lampen an den Tragflächen anbringen, um später den ganzen Flieger als Deckenleuchte zu benutzen.
Wow, das habt ihr wirklich toll hinbekommen. Es sieht fast aus wie neu.
Hi Amy, hi Marie.
Ja, hallo ihr beiden.
Hallo Philipp, hallo Papa.
Ist Toni gar nicht bei euch?
Doch, er ist hier zwischen den Flügeln beim Doppeldecker.
Hey ihr zwei.
Hey, du siehst ja wirklich ganz schön angestrengt aus, oder?
Geht schon.
Aber echt, wie machst du das? Ich kann mir das gar nicht richtig vorstellen.
Wenn irgendwo eine Treppe ist, dann laufe ich einfach runter. Und wenn es ein bisschen uneben ist, wie im Garten, dann merke ich das gar nicht. Für dich muss das super anders sein.
Weißt du was? Ich glaube, ich habe da eine ziemlich coole Idee.
Okay, was denn?
Ich denke, ich weiß, was du vorschlagen willst, Amy.
Jetzt sag schon, bitte.
Amy spielt in der Rollschulbasketballmannschaft ihrer Heimatstadt Bärenbach. Als Marie sich nach einem Alltag auf Rädern erkundigte, fiel Amy auf, dass sie zuvor Marie, Philipp und Toni, die übrigens auch als Doppeldecker-Crew bekannt sind, noch nie zum Training eingeladen hatte. Dabei war das doch die ideale Gelegenheit, besonders heute.
Amy, das ist ja super! Du bist ja aus dem Häuschen.
Ja, total, wir alle.
Ich bin ja sonst auch nicht so der Sporttyp, und Basketball ist schon ziemlich anstrengend und schwer zu überblicken. Aber im Rollstuhl braucht man ja die Arme nicht nur zum Werfen, sondern auch sozusagen zum Laufen. Das stelle ich mir schon ziemlich anstrengend vor. Aber total faszinierend, euch zuzuschauen.
Gut gemacht, Beck! Wenn wir so weitermachen, schaffen wir es vielleicht doch, in die erste Liga aufzusteigen. Deine Würfe werden immer besser.
Danke, Alex! Ich sage das nur, weil es wahr ist.
Na, ihr Sportfans, ich bin Alex, Amys Trainer. Und ihr?
Alex, das sind meine Cousine Marie und meine Freunde Philipp und Toni.
Hallo Alex, warum hast du Amy denn Beck genannt? Das ist doch ihr Nachname.
Ja, das sagt man so unter Sportlern.
Wie kommt es eigentlich, dass ihr heute zuschaut? Seid ihr für das Offroad-Projekt hier?
Was für ein Projekt?
Ach so. Das sollte eine Überraschung werden. Deshalb habe ich vorher nichts gesagt. Alex hat ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem wir Rollstühle verleihen. Viele finden das total interessant, und wir wollen so den Leuten helfen, uns Rollifahrer besser zu verstehen.
Das ist ja eine super Idee. Dürfen wir das hier mal in der Halle ausprobieren?
Weiß nicht. Alex?
Klar, das Training ist doch vorbei, jetzt ist Platz in der Halle. Schnapp dir einfach einen von den Übungsrollstühlen da hinten, Toni.
Cool!
Marie, Philipp, los, schnappt euch auch einen und macht mit! Super!
Die drei schnallen sich in ihren Sportrollstühlen an, und schon kann es losgehen. Gar nicht so einfach, etwas im Sitzen zu machen, was man sonst nur im Stehen und Laufen kennt.
Sorry, Phil.
Alles gut. Selbst eine einfache Kurve wird so schon zur Herausforderung.
Gerade als Toni den ersten Korb gemacht hat, schaut Mike in die Halle herein, um die Vier abzuholen.
Kommt ihr, wir haben mit der Scheide noch viel zu tun.
Immer wenn es am schönsten ist.
Ich finde es klasse, dass du die ganze Woche mit dem Rollstuhl unterwegs sein willst, Marie. Ich habe das auch mal gemacht, als Amy damals eine Auszeichnung bekam. Ich finde es super interessant. Vielleicht verstehe ich Amy ja wirklich besser dadurch.
Schade, dass sie schon wieder an ihrer Hausarbeit sitzen muss. So eine Ausbildung macht sich eben nicht von selbst. Ich bin echt mal gespannt, wie das für dich diese Woche wird, Marie. Ich auch. Cool, dass du das machst.
Machen wir dann jetzt weiter mit den Spots? Ach ja, genau. Wir wollten ja heute die kleinen Lampen an der Unterseite der Flügel anbringen. Hm, das ist nicht so viel Arbeit, denke ich. Das schaffen wir bestimmt heute noch, oder, Mike? Hm, denke ich auch. Wir müssen nur bei der Elektrik aufpassen. Also los!
Ich hole kurz Sammy, damit er auch dabei sein kann. Sogar die Tür von Sammies Stall aufzumachen ist viel schwerer als sonst. Im Sitzen komme ich kaum an den Türriegel ran. Das kann ja heiter werden.
Du, Mike? Ja, Phil? Erzählst du uns wieder etwas Cooles, solange wir die Spotstrahler installieren? Wollt ihr? Sonst würde ich ja nicht fragen. Ich will voll gerne Geschichte hören. Und Sammy bestimmt auch, oder Sammy? Ja, ich auch.
Wieder in Brasilien? Richtig cool dort! Ja, also dann natürlich gern. Heute geht es nach Rio de Janeiro, der zweitgrößten Stadt Brasiliens.
Genau, Rio liegt direkt am Meer, eingebettet zwischen hohen Bergen. Wie in jeder Großstadt ist hier immer viel los, anders als hier in Beerenbach. In Rio herrscht ständig Trubel, auch weil viele Touristen unterwegs sind. Fast alles findet draußen statt, da es hier immer sommerlich warm ist. Das meiste passiert abends und am Wochenende.
Die Doppeldecker-Crew hat in Brasilien schon einige Abenteuer erlebt. Heute sind Marie, Philipp, Toni und Sammy unterwegs. Und natürlich Sammy – aber weder im dichten Wald noch in der endlosen Wüste. Nein, sie stehen mitten im Großstadtdschungel von Rio de Janeiro.
Großartig! Ich kann es kaum erwarten, all die Sehenswürdigkeiten zu sehen: die riesige Christusstatue, das Künstlerviertel Santa Teresa und den Zuckerhut.
Wow, das ist eine superschöne Stadt! Seht mal da hinten: ganz weißer Sand und blaues Wasser! Ah, superschön!
Warte mal, Zuckerhut? Ich habe schon mal etwas im Supermarkt gesehen, das so heißt. Ist das nicht etwas zum Backen? Dafür musst du doch nicht nach Rio!
Sehr witzig, da hat sie recht. Ich rede doch nicht von Backzutaten, sondern von einem 396 Meter hohen Berg an der Guanabara-Bucht hier in Rio. In der Landessprache Portugiesisch heißt er Pão de Açúcar, was wortwörtlich „Zuckerbrot“ bedeutet.
Auf Deutsch wurde das aber anders übersetzt, weil seine Form wie ein Zuckerhut zum Backen aussieht.
Wusste ich gar nicht, dass das so interessant ist. Ich würde ja auch gern surfen gehen. Seht euch mal diesen Strand da hinten an – die Copacabana, oder?
Hey, aus dem Weg! Ey, was heißt das denn? So fahr ich dich, Sammy!
Uiuiui, danke Marie, du hast mich voll von deiner Schulter geschubst. Dir gehört bestimmt zu den Eichhörnchen.
Ja, ja, es ist ziemlich voll hier. Sollen wir nicht lieber an eine ruhigere Seitenstraße gehen und dort entscheiden, was wir als Nächstes machen? Sonst verlieren wir uns noch in dem ganzen Gedränge.
Ja, kommt hier rüber! Hier ist es viel ruhiger.
Superschön hier in der großen Stadt, aber auch total voll.
Vorsicht, junge Dame. Was? Wenn du nicht besser auf deine Sachen aufpasst, schnappt sie sich einen Taschendieb. Und zwar so:
Ey, mein Handy! Das war doch gerade noch in meiner Umhängetasche. Gib das wieder her, Mann.
Na klar, hier, bitte.
Hä, läufst du denn gar nicht weg? Ihr könnt mich doch jetzt einfach bei der Polizei anzeigen.
Och, macht nur, weil die wissen, dass ich kein Dieb bin. Ich wollte euch nur warnen.
Und das sollen wir dir glauben? Du hast doch einfach gerade mein Handy weggenommen.
Ja, gesunde Vorsicht kann echt hilfreich sein, gerade in großen Städten. Aber glaubt mir, ich will euch wirklich nichts Böses. Sonst hätte ich das Handy behalten und wäre schon längst über alle Berge.
Und was sollte das?
Ich habe euch drei hier alleine gesehen und dass ihr eure Wertsachen ziemlich offen und ungeschützt tragt. Jugendliche hören oft nicht zu, wenn man ihnen was sagt. Deshalb habe ich euch gezeigt, was passieren kann.
Also ich weiß nicht, ob ich das glauben soll.
Ah, da hinten läuft der Polizist.
Entschuldigung, Herr Wachtmeister!
Hallo Kleiner, ach und hallo Flavio. Wie ist die Lage?
Hallo Ramon, schön dich zu sehen. Letzte Woche haben wir wieder drei von der Straße geholt. Ich denke, ich kann für alle einen Ausbildungsplatz organisieren. Aber lass uns später drüber reden, ja?
Na klar, habt eine gute Zeit miteinander. Bis bald.
Hä, warten Sie doch, wir brauchen Ihre Hilfe, wir wissen doch gar nicht, ob er uns bestehlen wollte.
Hey, es ist echt gut, dass du auf deine Wertsachen aufpasst. Aber vor Flavio müsst ihr euch nicht fürchten. Wir kennen uns schon sehr lange, und er hat der Polizei viel geholfen.
Jetzt macht’s aber mal gut. Bis bald.
Taschendiebe? Jugendliche? Polizei?
Was ist das für ein Mann, den der Wachtmeister gerade freundschaftlich mit Flavio angesprochen hat?
Gehört er wirklich zu den Guten?
Während Philipp darüber nachdenkt, spielt sich nicht weit entfernt Folgendes ab:
„So, hast du es jetzt kapiert, du Winzling?“
„Ja, ich heiße Antonio.“
„Dann sag mir, was du zu tun hast.“
„Also, Bendita Santos...“
„Santos Rodriguez.“
„Bendita Santos Rodriguez gehört zu den reichsten Leuten hier. Mittwochs geht sie immer früh abends in ein Café. Ich fange sie heute ab, und bevor sie etwas merkt, bin ich wieder mit der Trophäe hier.“
„Na, warum hängst du dann hier noch rum und verschwendest unsere Zeit? Du hast doch ...“
„Ich hab gar nichts. Los jetzt!“
„Au, wenn du mich trittst, laufe ich auch nicht schneller.“
Heute ist Mittwoch. Welche Trophäe sucht Antonio heute am frühen Abend bei Bendita?
Marie, Philipp und Toni haben jedenfalls Glück, dass Flavio ihnen erklärt, wie sie ihre Wertsachen gut schützen können. Im Gespräch merken sie schnell, dass er ein gutmütiger Mann ist, der sich außerdem in der Großstadt gut auskennt.
„Tagsüber geht’s noch, aber nachts solltet ihr gar nicht mehr allein unterwegs sein. Macht ihr hier mit euren Eltern Urlaub?“
„Nein, wir sind allein hier. Bevor du aufgetaucht bist, haben wir gerade überlegt, was wir uns alles anschauen könnten.“
„Also, ich würde ja total gerne die Christusstatue ansehen. Surfen hätte aber auch was.“
„Filikowski wollte auch noch auf die Bonbonmütze.“
„Na sowas, wer will wohin?“
„Mann, Zwerg, Phil wollte auf den Zuckerhut.“
„Ach so, aber das alles schaffen wir heute nicht, es ist immerhin schon später Nachmittag.“
„Lass uns doch von hier aus zum Zuckerhut wandern und dort mit der Seilbahn hochfahren. Den Sonnenuntergang von dort oben müsst ihr unbedingt gesehen haben.“
„Wir? Hast du denn überhaupt Zeit dafür, Flavio?“
„Um ein paar netten Jugendlichen meine Heimat zu zeigen, nehme ich mir gerne welche.“
Es beginnt mit einer Stadtwanderung zum Zuckerrut. Doch die neuen Freunde kommen gar nicht allzu weit. Sie haben den Stadtkern noch nicht verlassen, als plötzlich ein Ruf ertönt: „Halt, Hilfe, meine Tasche, haltet den Dieb!“
Was war das denn? Schaut mal da, da rennt ein Junge weg. „Na, überlasst das mir, ich fange das Eichhörnchen, ja, hüpf, Sammy!“ Und weg ist er. Einfach weg, so schnell konnte ich gar nicht gucken. Immer muss der kleine Kerl abhauen, wenn er doch einfach mal zur Ruhe käme und lesen würde, anstatt dauernd den ausgedachten Eichhörnchen hinterherzujagen.
Ist doch jetzt egal, der Dieb ist weg und die beklaute Frau auch. Und was jetzt? Etwas abseits lehnt sich zur selben Zeit der kleine Antonio schwer atmend gegen eine Hauswand. Seine Trophäe drückt er fest an sich. „Puh, abgeheckt! Jetzt müssen Pedro und Fernando mich akzeptieren, sie müssen einfach!“
Stolz kommt er zurück zu den älteren Jungs Pedro und Fernando, den beiden, die ihn zu dem Diebstahl angestiftet hatten. „Na und, hast du die Ware dabei, du Weichei?“ „Ja, Pedro, hier!“ „Los, sag schon her!“ „Und du machst den!“ „Sag mal, du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Was ist denn? Da ist ja fast kein Geld drin! Das hast du dir wohl alles selbst genommen, was? Und ein paar Münzen drin gelassen, damit wir drauf reinfallen, oder wie?“ „Aber ich habe doch gar nicht...“ „Also nicht mit mir! Dann brauchst du es doch gar nicht!“
Mit zitternden Knien und Tränen in den Augen nimmt der kleine Antonio geschickt den Geldbeutel aus der Hand des deutlich älteren Pedro und rennt sofort davon. „Der haut ab, Pedro!“ „Ja, los, hinterher, du Schwachmann!“
Während das alles passiert, überlegen Marie und die anderen, wie es weitergehen soll. Jetzt, wo Sammy spurlos in der Menschenmenge verschwunden ist. „Was sollen wir denn jetzt machen, Flavio?“ „Uns aufteilen und suchen, geht doch bestimmt schneller.“ „Nein, viel zu gefährlich. So leid mir das tut, aber wir sollten erst morgen nach eurem kleinen Freund weitersuchen.“ „Aber wir können Sammy doch nicht alleine lassen. Wo soll er denn was zu essen finden? Vielleicht hat er Angst, wenn es dunkel wird. Wir müssen ihn suchen, es ist noch taghell.“ „Aber nicht mehr lange. Hier wird es gegen achtzehn Uhr sehr plötzlich dunkel.“
„Das ist in knapp einer Stunde.“ „Das liegt daran, dass wir am Sonamiquator sind. Dort scheint die Sonne fast im rechten Winkel auf die Erde, und es wird ohne große Dämmerung sehr schnell dunkel.“ „Aber bis dahin?“ „Phil? Tony?“ „Nein, tut mir leid. Ich bringe euch jetzt in euer Hotel, bevor es in der Straße zu gefährlich wird. Für Sammy ist es hier bestimmt viel ungefährlicher als für uns. Der kommt schon klar, Marie.“ „Hoffentlich.“
In welchem Hotel seid ihr denn?
Ähm, also ehrlich gesagt, wir haben keins.
Wie jetzt? Deine Jugendherberge?
Auch nicht.
Als wir angekommen sind, wussten wir gar nicht, dass wir über Nacht bleiben würden. Wir haben kein Hotel gebucht und auch keine andere Unterkunft.
Brasilianisches Geld haben wir auch nicht. Also brasilianische Real. Einer ist etwa zwanzig Cent wert.
Ja, ja, kann sein.
Dann sollten wir vielleicht doch einfach weiter nach Sammy suchen.
Tut mir leid, Marie, aber das ist sehr ernst. Ihr könnt auf keinen Fall nachts allein in der Stadt bleiben.
Aber...
Entschuldigt mich kurz, ich muss mal telefonieren.
Marie weiß, dass Flavio mit seiner Vorsicht recht hat, aber dass Sammy über Nacht ganz allein bleiben soll, gefällt ihr überhaupt nicht.
In der riesigen Stadt grenzt es fast an ein Wunder, ein verlorenes Streifenhörnchen in weniger als einer Stunde zu finden.
Aber man kann von einem Streifenhörnchen gefunden werden, so wie heute Antonio. Da sitzt er, hinter der Mähdolle versteckt, damit ihn keiner findet.
Aber ich habe ihn gefunden.
Ja, hab ich dich, du fieses Eichhörnchen!
Ey, lass mich! Was bist du überhaupt?
Oh, ein Streifenhörnchen, was denn sonst?
Jetzt gib her! Saust aus meinem Shirt, raus, du Dummkopp, gib her!
Lass mein Ohr los, aua, das tut weh!
Klar tut es weh, es sind ja auch Nagelzähne. Jetzt gib endlich her!
Was muss denn irgendwie loswerden, hau ab!
Jetzt, nein, nicht wieder ins Hemd!
Haha, ich hab's, und weg hier!
Oh nee, geh sofort wieder den Geldbeutel her, das ist meiner!
Pah, von wegen!
Hilflos sieht Antonio zu, wie sich Sammy mit dem Geldbeutel aus dem Staub macht, der seine Trophäe gewesen war.
Er rennt aber nicht hinterher, sondern ringt nach dem Kampf noch um Atem.
Was war das denn?
Antonio steht wie angewurzelt da, als...
Was war was denn?
Ach nein!
Oh doch, und jetzt kannst du was erleben!
Die fiesen Jungs Pedro und Fernando haben Antonio wiedergefunden.
Hätte Sammy Pedros Drohung gehört, wäre er vielleicht etwas netter zu Antonio gewesen. Doch er ist schon längst über alle Berge.
So schnell er kann, rennt Sammy mit dem schweren Geldbeutel im Maul durch die dunklen Gässchen und sucht nach einem sicheren Versteck.
Flavio hat inzwischen eine Übernachtungsmöglichkeit für seine neuen Freunde organisiert.
„Dann komm mal mit, wir müssen uns beeilen. Wir müssen leider durch die Favela gehen, und es ist schon fast dunkel.“
„Warum denn leider?“
Die Favelas sind die Armenviertel in Brasilien. Du erkennst sie daran, dass viele kleine Häuser eng nebeneinander stehen.
„Ja, genau. Geh nie allein in eine Favela.“
„Au, warum denn nicht?“
Dort kann es sehr gefährlich werden.
„Du brauchst aber keine Angst haben, solange ich dabei bin. Ich kenne hier viele Leute.“
„Wohnst du auch in einer Favela?“
„Ja, sogar in der, durch die wir gleich gehen.“
„Dann hast du auch nicht viel Geld?“
„Ich bin gut versorgt, keine Sorge. Aber jetzt los!“
Flavio wollte damit sagen, dass es in diesen kleinen Gassen gefährlich sein könnte.
„Eigentlich ist es doch super schön. Und schaut mal, die bunten Bilder da überall an den Wänden.“
„Nur wie die Leute hier gebaut haben. Verrückt. Jeder hat einfach gebaut, wie es gerade passt. Oben drauf oder daneben. Und wenn man es anders braucht, dann baut man eben wieder um.“
„Und überall diese Kabel, die hängen einem ja direkt über dem Kopf.“
„Haben die Leute hier normalen Strom und Wasser?“
„Ja, die Stromversorgung kommt von genau diesen Kabeln, und fließendes Wasser gibt es hier auch. Es ist allerdings nicht in allen Favelas so.“
„Ah, seht mal da vorne, bei dem Hügel ist es schon!“
Rechtzeitig, bevor es dunkel wurde, sind die vier bei einem großen Haus mit einem prächtigen Garten angekommen.
Marie, Philipp und Toni warten am Weg, der zum Haus führt, während Flavio an der Tür mit einer älteren Frau spricht.
„Danke, sehr nett von dir.“
„Sicher, dass du nicht zum Essen bleiben willst?“
„Ah, ich würde gern. Aber die Kids brauchen mich. Du weißt, was da nachts abgeht.“
„Pass auf dich auf, Gott behüte dich.“
„Dich auch.“
„Alles klar, hier habt ihr alles, was ihr braucht. Betty kümmert sich um euch.“
„Vielen, vielen Dank, Flavio. Echt super, dass wir hier bleiben dürfen.“
„Was für eine Villa!“
„Ich wünsche euch einen schönen Abend und eine gute Nacht.“
Später. Bleibt es dabei, dass wir gleich morgen früh losgehen, um Sammy zu suchen? Ich hoffe, dass ich es schaffe, rechtzeitig wieder hier zu sein. Aber klar, das ist doch abgemacht.
Jetzt auf Wiedersehen, ihr drei, ich muss los. Tschüss, bis morgen.
Jetzt kommt erst mal herein, Kinder. Ich bin gerade noch dabei, das Abendessen zu kochen. Ihr könnt mir ein bisschen mithelfen. Hm, ich freue mich schon so aufs Essen. Nach der Aufregung? Willkommen!
Ich eigentlich auch, aber ich mache mir Sorgen um Sammy. Der kommt schon klar, Marie. Kennst du ihn doch? Ja, schon.
Wenig später sitzen alle am reich gedeckten Tisch. Staunend schauen sie auf dampfenden Eintopf, einen bunten Salat und kleine Schälchen voller exotischer Obststücke. Betty spricht ein kurzes Dankgebet und lädt dann alle ein, kräftig zuzugreifen.
Hm, ist das lecker! Die Bohnen passen einfach perfekt zu den Fleischsorten. Phil, Mund zu beim Essen. Schon gut, Toni, das ist eine Feijoada, unser Nationalgericht in Brasilien. Ich dachte, das schmeckt euch bestimmt.
Mhm, auf jeden Fall. Vielen Dank, dass wir hier übernachten und essen dürfen. Von Herzen gern, Marie. Das Haus ist eigentlich sowieso zu groß für mich ganz allein. Meine Kinder können leider nicht so oft zu Besuch kommen, aber wenn, ist es natürlich immer schön, Platz zu haben.
Ich habe in letzter Zeit oft mit Gott gesprochen und ihn gebeten, dass er mir doch Menschen schickt, die ein Bett brauchen, damit ich hier nicht so alleine bin. Na, und nun seid ihr da.
Hm, mein Onkel redet auch oft von diesem Gott. Und er betet immer vor dem Essen.
Während die Crew mit Betty das Abendessen genießt, ist Flavio in eine ganz andere Welt eingetaucht – eigentlich nur zurück in das andere Stadtviertel. Aber die Verhältnisse hier sind so ärmlich, dass es einem manchmal wirklich so vorkommt, als wäre es eine ganz andere Welt.
Wirklich nette Kinder, diese drei. Bin froh, dass sie so behütet aufwachsen. Das wünsche ich mir auch für die Kids hier, dass sie endlich ein geordnetes Leben führen können.
Flavio hatte der Crew noch gar nicht erzählt, warum er in der Favela lebt. Er holt Kinder und Jugendliche von der Straße und hilft ihnen, von Gewalt und Kriminalität wegzukommen. Mit seiner humorvollen und ehrlichen Art ist er bei den Jugendlichen sehr beliebt.
Tief in Gedanken versunken, bemerkt er die beiden Schatten gar nicht, die sich schräg hinter ihm immer näher heranschleichen. „Gleich haben wir ihn! Leise, Mann! Jetzt! Ja, jetzt! Hendo, und mach schön, was wir dir sagen!“
Oh nein! Für Philipp und die anderen war es gut, dass Flavio sie rechtzeitig zu Betty gebracht hatte. Noch immer sitzen sie sicher am großen Esstisch.
„Puh, ich bin satt.“
„Ich auch. War echt lecker. Danke, Betty.“
„Ja, vielen Dank.“
„Sehr gern. Jetzt kommt mal mit, ich zeige euch eure Zimmer.“
„Können wir denen nicht noch beim Abräumen helfen?“
„Das ist lieb von dir, Marie. Aber lasst mich das nur mal machen, ihr habt einen langen Tag hinter euch. Und vorhin schon mitgeholfen, den Rest mache ich.“
„Hier, die zweite Tür, da ist das Bad. Hier ist das Gästezimmer, da kannst du einziehen, Marie.“
„Wow, das ist ja super schön. Danke, Betty.“
„Und wo schlafen Toni und ich?“
„Da, die Tür ganz am Ende des Flurs, in Flavios altem Zimmer.“
„Flavio, wieso hat er hier ein Zimmer?“
„Na, hast du kein Zimmer in dem Haus deiner Mutter?“
„Mutter, Flavio ist sein Sohn?“
„Na klar, hat er euch das denn gar nicht gesagt?“
„Ne, also echt, ja, Flavio ist mein Sohn.“
„Braucht er denn sein Zimmer nicht selbst, wenn er wiederkommt?“
„Flavio ist nur selten über Nacht hier, er ist fast immer in seinem kleinen Haus in der Favela.“
„Moment mal, Flavio wohnt da freiwillig, obwohl er auch hier wohnen könnte? Wieso das denn?“
„Ja genau, so ein schönes und sicheres Haus.“
„Darf ich dich was fragen, Betty?“
„Ja, Marie.“
„Warum wohnt Flavio hier nicht mehr? Habt ihr euch gestritten?“
„Nein, wir verstehen uns bestens. Aber das ist eine längere Geschichte. Wollt ihr die so spät noch hören?“
„Also ich schon, ich bin auch irgendwie noch gar nicht müde.“
„An sich super gern.“
„Also das heißt, wenn du nichts dagegen hast.“
„Nein, ganz und gar nicht. Und du, Toni?“
„Jo, wieso nicht?“
„Dann helft mir doch, eure Betten zu beziehen, und ich erzähle es euch dabei.“
Schlagartig ist Flavio hellwach. Solche Situationen hat er schon öfter erlebt. Bis jetzt ist er zum Glück immer glimpflich davongekommen.
Die zwei schemenhaften Gestalten stehen im Halbdunkel vor ihm. Einer von ihnen hält ein langes Messer in der Hand, dessen Klinge im schwachen Schein einer flackernden Straßenlaterne aufblitzt.
„Ich sag’s nicht noch mal: Hände hoch jetzt! Du machst besser, was er sagt.“
„Aha, und was, wenn nicht?“
„Das willst du lieber nicht wissen. Wisst ihr was, ich habe eine bessere Idee.“
Noch bevor sich die beiden umschauen können, verpasst Flavio einem der Angreifer einen kräftigen Tritt vors Schienbein. Während dieser noch laut aufjault, nimmt Flavio dem zweiten blitzschnell und geschickt das Messer aus der Hand und hält dessen Arm auf den Rücken fest.
„Wenn du mein Geld willst, dann musst du schon früher aufstehen, Kumpel!“
„Ah, jetzt lass mich los!“
„Moment mal! Was... Louis und Rico?“ schnauzt Flavio. „Weißt du, wie wir heißen? Also, wenn wir überhaupt so heißen... Na, sieh doch mal genau hin!“
Unsanft, aber gleichzeitig darauf bedacht, den Jugendlichen nicht zu verletzen, dreht Flavio ihn um. Jetzt können sich die beiden direkt in die Augen schauen.
„Äh, Flavio, hi! Woher kam denn dieser Sinneswandel?“
Als sie Flavio erkannt haben, schien es für Luis und Rico auf einmal gar keine gute Idee mehr zu sein, ihn auszurauben.
Gut behütet in der großen Villa beginnen Marie, Philipp und Toni, Flavios Verhalten langsam zu verstehen. Flavio war als Jugendlicher viel mit seinem Vater in den Vavelas unterwegs. Sie haben versucht, den Menschen dort zu helfen. Flavio hat die Armut dort immer sehr bedrückt. Besonders leidgetan hat es ihm um die Kinder und Jugendlichen.
Weil die nicht genug Geld haben?
Nicht nur das, Marie. Weißt du noch, was Flavio gesagt hat? Es ist total gefährlich, nachts allein draußen in Rio zu sein. Ich habe mal gelesen, dass in den Armenvierteln viele Kinder ohne Eltern aufwachsen. Um genug zu essen zu haben, stehen sie oft auf der Straße oder geraten in kriminelle Banden.
Das ist ja super schlimm.
Ja, das ist es wirklich. Flavio fand es auch schrecklich, diese jungen Menschen so perspektivlos zu sehen. Sie sind ihm über die Zeit sehr ans Herz gewachsen. Als er älter war, hat er zuerst Sozialarbeit studiert, um ihnen besser helfen zu können.
Wow, er tut ja echt viel für andere.
Das kann man wohl sagen, Toni. Er konnte als Sozialarbeiter schon viel Gutes tun.
Also jemand, der auf der Straße arbeitet?
Mhm. Und was genau?
Zum Beispiel kümmert er sich darum, dass die Jugendlichen einen Schulabschluss machen. Den Älteren hilft er, einen Job zu bekommen.
Aber das hat ihm noch nicht gereicht.
Weil Bildung dafür sorgt, dass sie selbst Geld verdienen können.
Dann geraten sie auch nicht mehr so leicht auf die schiefe Bahn, oder?
Ja, genau. Sie denken dann nicht mehr, sie müssten kriminell werden, um sich zu versorgen.
Ich sag’s ja immer, Bildung ist wichtig.
Schon gut, Phil.
Was meinst du damit, es hat ihm nicht gereicht?
Die Antwort auf Maries Frage könnten sie besser verstehen, wenn sie gerade dort wären, wo Flavio mit den Jugendlichen Rico und Luis spricht. Ganz offensichtlich sind sich die drei heute Nacht nicht zum ersten Mal begegnet.
Das ist doch echt die Höhe, ich fasse es nicht.
Hey Mann, ist doch halb so wild.
Halb so wild? Du willst mich wohl veralbern, Rico, ich bin echt sprachlos.
Sorry, wir haben ja nicht gesehen, dass du es bist, sonst...
Sonst was?
Sonst hättet ihr jemanden angegriffen, der sich nicht verteidigen kann, ihn ausgeraubt? Oder noch schöner: ihm mit eurem schicken Butterbrotmesser gedroht, blutend in der Ecke liegen lassen?
Also...
Ach, Spaß dir Luis, ich bin stinksauer! Und ihr zwei Großmäuler wisst auch sehr genau warum.
Ich nehme an, weil du uns die Jobs in der Bäckerei besorgt hast?
Ja, und weiter?
Und du dich deshalb bei der Polizei für uns eingesetzt hast, als wir ja...
Ja, sprich es ruhig aus! Als wir jemanden ausgeraubt haben und mit einer Pistole bedroht hatten?
Und dann passierte was?
Musst du nicht in den Knast, weil du uns geholfen hast?
Ist ja voll korrekt von dir, Flavio.
Allerdings, das war’s. Anscheinend steht’s ja gar nicht so schlecht um euer Gedächtnis. Dann wisst ihr sicher auch noch, was unsere Abmachung war, was ihr mir versprochen habt, wenn ich euch aus der Klemme helfe.
Na ja, dass wir unsere Ausbildung fertig machen und keine Waffen, keinen Klau... mehr, ups.
Ja, ups, darüber werden wir noch mal in aller Ruhe bei Tageslicht reden. Schafft ihr zwei Oberhelden das über Nacht nicht noch einen anzugreifen hier? Ja, ihr seid nämlich ganz sicher nicht die einzigen Unruhestifter.
Habt ihr heute schon was mitbekommen, wo ich mal nachsehen sollte?
Nee, glaub nicht.
Was denn mit dem Winzling?
Was denn für ein Winzling?
Ach der. Ich höre?
Ja, hier rennt so ein kleiner Junge rum, kennt keiner. Der saß ziemlich verbeult in der Gasse rum.
Du meinst verletzt?
Weiß ich nicht, hab nicht so genau hingeguckt. Hat halt geheult.
Und ihr habt ihm nicht geholfen.
Also, los, mitkommen, ihr helft mir, ihn zu finden und zu versorgen.
Währenddessen bei Betty und der Crew: Flavio hat den ganzen Reichtum, in dem er hier leben konnte, hinter sich gelassen und ist selbst in die Favela umgezogen.
Wow, also ist er wie ein Bewohner geworden, obwohl er das gar nicht hätte tun müssen. Ich würde mir ja dreimal überlegen, aus so einem Haus mit Garten, Pool und allem auszuziehen – nur für eine kleine, vielleicht sogar noch dreckige Hütte. Schon erstaunlich, nicht? Aber er folgt ganz seinem großen Vorbild, Jesus Christus.
Spannend, mein Vorbild ist Albert Einstein.
Auch der war ein starker Typ, aber was Jesus gemacht hat, war noch stärker.
Wer ist denn Jesus Christus? Ich habe auch schon mal von ihm gehört, aber was genau hat er eigentlich gemacht?
Die Antwort auf beide Fragen hängt miteinander zusammen. Jesus Christus, oder manche sagen einfach Jesus, ist der Sohn von Gott.
Echt? Und ist er dann auch in eine Favela gezogen oder wie?
Wobei, er ist ja vor zweitausend Jahren in Israel geboren, stimmt’s? Das ist doch schon ziemlich weit weg von Brasilien. Und damals gab es hier ja auch keine Favelas.
Es war auch nicht direkt eine Favela, in die er gezogen ist, Philipp, aber ein paar Ähnlichkeiten gab es schon.
Und welche?
Flavio hat in einem großen Haus gelebt, wo er alles hatte, was er brauchte – sogar noch viel mehr. Es ging ihm wirklich sehr gut hier. Und Jesus hat bei Gott im Himmel gelebt. Das ist ein Ort, an dem immer Frieden herrscht. Dort ist niemand traurig, und niemandem wird wehgetan. Außerdem ist es dort noch schöner als in unserem Regenwald.
Wow, ehrlich?
Ganz ehrlich.
Boah, der Regenwald ist ja schon superschön.
Ist ja alles schön und gut, aber ich habe immer noch nicht verstanden, was das mit Favelas und Flavio zu tun hat.
Hast du schon mal einen Menschen getroffen, der perfekt ist, Philipp?
Also außer ihm selbst?
Oder jemandem, der nie in Schwierigkeiten war, der womöglich immer alles richtig gemacht hat, der noch nie im Leben von jemandem verletzt wurde oder selbst nie jemanden verletzt hat?
Also ganz ehrlich, ich glaube nicht.
Jesus hat nie etwas Böses getan oder jemanden verletzt und sogar an einem Ort gewohnt, an dem ihn niemand verletzen konnte. Es ging ihm gut, und er hatte alles, was er brauchte. Trotzdem ist er zu uns Menschen gekommen.
Das hat er gemacht, weil er uns sehr, sehr lieb hat.
Okay. Also hat Jesus die Menschen so lieb, wie Flavio die Jugendlichen in der Favela liebt?
Noch viel mehr sogar.
Ja, das haben wir schon mal gehört.
Wirklich? Oh, das freut mich.
Und Jesus wollte den Menschen helfen, die Probleme haben?
Nicht ganz. Jesus will den Menschen bei ihrem größten Problem helfen: dass sie Gott nicht mehr kennen und nicht mehr bei ihm sind.
Er will sie vor den schlimmen Folgen retten, die es hat, wenn das ihr ganzes Leben lang so bleibt. Für immer ohne Gott zu sein, ist nämlich ein bisschen …
Ja, wie ein Straßenkind ohne Eltern zu sein. Total traurig, einsam und gefährlich.
Ja, leider.
Aber das Tolle ist: Gott und genauso auch sein Sohn Jesus lieben uns so sehr, dass sie nicht wollen, dass uns das passiert. Sie wünschen sich, dass wir wieder zu ihnen kommen und sie kennenlernen. Und sie helfen uns gern dabei.
Und vom Himmel aus, wo alles gut war, ging das nicht.
Hm, zumindest hat ihm das nicht gereicht.
In der Favela führen Rico und Luis Flavio zielsicher und schuldbewusst zu der Stelle, an der sie den kleinen Jungen zuletzt gesehen hatten. Doch der Junge ist nicht mehr dort.
Tja, dann haben wir heute Nacht einen Job: ihn suchen und finden.
Währenddessen liegen Marie und die Jungs, obwohl es eigentlich schon viel zu spät ist, schließlich im Bett. Toni ist schnell eingeschlafen. Marie hingegen ist noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Nachdenklich sitzt sie auf dem Bett und schaut aus dem Fenster.
„Mein kleiner Sammy, wo magst du wohl gerade sein? Ich hoffe so sehr, dass wir dich morgen finden.“
Sie bemerkt die Gitterstäbe am Fenster, vermutlich als Schutz vor Einbrechern. „Ob ich das Fenster aufkriege? Es ist hier so superschön.“
Marie überlegt weiter: „Moment mal, das ist ja der erste Stock, also gar nicht so hoch. Von hier aus kann man ziemlich weit sehen. Dann sieht man das Haus bestimmt auch von Weitem. Ich könnte meinen leuchtend gelben Schal ans Gitter hängen. Bestimmt erkennt er ihn sofort wieder. Und mit seinem Fliegengewicht kann er gleich daran hochklettern.“
Marie schaut aus dem Fenster auf die Stadt. Selbst jetzt in der Nacht ist sie hell erleuchtet. „Dann kann Sammy immerhin etwas sehen, falls er noch keinen Schlafplatz gefunden hat.“
Wo war er nur geblieben? Den Geldbeutel hatte er sich ja noch am Nachmittag von Antonio geschnappt. Danach war er schleunigst in einer Seitengasse verschwunden. Auf der Suche nach einem sicheren Versteck ist er stundenlang durch die große Stadt gezogen.
So viele Umwege – der findet mich nie! Viel zu langsam für mich, es ist ja jetzt auch dunkel. Jetzt mal verschnaufen, das Ding ist so schwer, hui!
„Mieze-Katzen, hier bleibe ich lieber nicht.“ Also gibt es immer noch keine Pause für den armen Sammy.
Auch Flavio und Marie finden keinen Schlaf.
Und dann ist da noch jemand wach, bei dem man nicht damit gerechnet hätte.
Wenn ich die Quadratwurzel von Pi nehme und mit dem Längenunterschied multipliziere – was, das ergibt doch gar keinen Sinn, Mann! Ich will doch endlich einschlafen. Eigentlich liegt ein anstrengender Tag hinter Philipp. Das Essen war gut, und das Bett ist bequem. Außerdem ist es in dem Zimmer nur ein kleines bisschen zu warm.
Normalerweise hat Philipp nie Probleme beim Einschlafen, doch das hilft gerade alles nichts. Hellwach liegt er im Bett und starrt an die Decke. Eine Weile lang lauscht er Tonis gleichmäßigem Atem.
Hm, dann kann ich eigentlich raufstehen und was Sinnvolles machen.
Gesagt, getan. Leise schält sich Philipp aus der Bettdecke und greift sich seinen Rucksack mit dem Tablet. Um niemanden zu wecken, schleicht er so leise wie möglich die Treppe hinunter.
Hinter dem großen Wohnzimmerfenster liegt friedlich und einladend der Swimmingpool des Hauses. Daneben stehen ein paar Liegen unter einem Sonnenschirm. Den Schirm braucht es nachts natürlich nicht, aber die Liegen sehen verlockend aus.
Das ist doch genau der richtige Platz. Dann schaue ich mir dort noch mal ein paar Mathe-Dokus an.
Zum Glück ist das Grundstück gegen Einbrecher gesichert. Kaum hat er sich auf einer der Liegen bequem gemacht, schläft er sofort ein. Er ist noch nicht mal dazu gekommen, sein Tablet anzumachen.
Wäre er nur ein paar Minuten länger wach geblieben, hätte er vielleicht die kleine Gestalt durch die Büsche im Garten huschen hören.
Marie ist fast so schlau wie ich. Mit meinen Adleraugen habe ich den Schal schon von weitem gesehen, aber den Geldbeutel kriege ich da nicht hoch. Nie hat man mal Ruhe hier.
Deshalb versteckt Sammy den Geldbeutel. Nach kurzem Überlegen klettert er mit letzter Kraft an Maries langem Schal zum Fenster und schlüpft durch den offenen Spalt.
Um Marie nicht aufzuwecken, rollt er sich ganz leise auf ihrer weichen Umhängetasche zusammen und ist direkt schon eingeschlafen.
Doch während der eine sich gerade friedlich zur Ruhe gelegt hat, wird der andere gleich unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Stark, Alter, wie du die Alarmanlage lahmgelegt hast!
Psst, nicht so laut, Mann!
Aber klar, wer kann, der kann.
Hey Pedro, guck mal da!
Was?
Ach, sieh mal einer an. Jackpot, würde ich sagen. Das ist bestimmt der Sohn oder so.
Aber bleib trotzdem leise, wir wollen ja nicht, dass außer ihm noch jemand wach wird.
Los, aufwachen!
Hä, was?
Los jetzt, aufstehen und mitkommen!
Wer seid ihr?
Schön leise bleiben, klar?
Aber, au, Ruhe!
Pedro und sein Handlanger Fernando hatten von dem kleinen Antonio nicht das erhoffte Geld der reichen Dame bekommen. Deshalb wollen sie sich jetzt anders etwas dazuverdienen.
Eisenhart halten sie Philipp in ihrer Mitte fest und befördern ihn unsanft aus dem Garten.
Wir sind ja jetzt weg vom Hof, da könnt ihr mich auch ruhig loslassen. Ich kenne meine Rechte. Außerdem weiß ich, dass meine Freunde auf jeden Fall die Polizei...
Lies da, und jetzt klappe du Schwätzer!
Sag mir doch wenigstens, was ihr von mir wollt.
Ihr könnt mein Tablet haben, aber Geld habe ich nicht dabei.
Keine Angst, das Tablet behalten wir. Und dich übrigens auch.
Na ja, sagen wir, so lange bis dich jemand freikauft.
Du bist deinen Freunden doch sicher ein paar Scheichen wert, oder?
Als Geisel gefangen – na ganz toll. Ich wollte doch einfach nur schlafen.
Hoffentlich finden mich Mario und Toni, bevor die zwei Idioten mich hier um die Ecke bringen.
Doch die anderen haben von Philipp nichts mehr außer einem leisen Wimmern gehört.
Auch für Flavio und seine Begleiter Louis und Rico ist es keine ruhige Nacht. Seit Stunden suchen sie nun schon nach einem kleinen Jungen, den sie nicht einmal kennen.
„Mann, Flavio, wir finden den nie.“
„Ihr habt zugesagt, dass ihr bei der Suche helft. Dann erwarte ich das jetzt auch.“
„Naja, zugesagt? Mann, ich habe mir die Klappe gehalten und nichts von dem Winzling gesagt.“
„Und dann? So tun, als hätte man nichts gesehen und deshalb ginge es einen nichts an? Nee, Leute.“
„Irgendwie bist du immer voll korrekt zu den Leuten, Flavio.“
„Sagen wir, ich gebe mir die grösste Mühe. Ich bin nicht Jesus, der ist derjenige, der wirklich voll korrekt ist.“
„Ja nee, aber unsere Probleme sind dir nicht egal.“
„Danke, Mann. Wir rennen hier quer durch die Gegend statt zu pennen, und du bedankst dich noch dafür?“
„Ja, Mann, sollte ich vielleicht auch mal machen.“
„Halt mal, da lang!“
Philipp und seine Entführer Pedro und Fernando gehen inzwischen ebenfalls durch die dunklen Gassen der Favela. Pedro ist der Erste, der die Kinderstimme wiedererkennt.
„Hey, pscht, Ruhe mal! Was ist? Ruhe, sag ich!“
„Und dann würde ich Ihnen den Geldbeutel bringen, und Sie würden mich in der Bande aufnehmen. Aber dann habe ich den Geldbeutel verloren. Und sie haben mich geschimpft und getreten.“
„Das ist doch der, der... ja, ganz genau, das ist unser kleiner Feigling. Du hältst den Dicken hier fest. Hey, ich schleich mich um die Ecke und knöpf ihn mir noch mal vor.“
Pedro drückt sich eng an eine Hauswand und späht um die Ecke. Dort ist Antonio nämlich nicht allein. Mit irgendwem muss er ja gesprochen haben. Vorsichtig sieht sich Pedro um. Noch einen Moment lauscht er den Stimmen.
„Dabei hatte ich den Geldbeutel doch gar nicht mehr, den hat mir so ein kleines Viech geklaut, ein Eichhörnchen oder so.“
„Sammy, Ruhe!“
„Und sind die Jungs noch hinter dir her?“
„Ich glaube, ich habe sie abgehängt, seit ein paar Stunden. Sie dürfen mich nicht finden.“
„Du bist jetzt in Sicherheit, Kleine. Aber du musst jetzt ruhig bleiben. Sag mir doch erst mal, wie du heißt.“
„Ich passe auf dich auf, Antonio.“
Das reicht, Pedro hat genug gehört. So ein Weichei, denkt er bei sich. Unvermittelt springt er hinter seiner Ecke hervor.
„Kannst ja mal versuchen. Los Jungs, helft mir, einer rechts, einer links, halte den fest.“
„Alles klar. Chef, Fernando, jetzt hilf mir doch mal, du Flasche.“
„Aber...“
„Los!“
Fernando ist unschlüssig, was er jetzt tun soll: Philipp weiter festhalten oder Pedro aus der Klemme helfen. Dann gibt es da noch eine dritte Möglichkeit.
„Mir reicht’s, ich hau ab.“
„Puh, endlich ist er weg. Tut richtig weh an der Schulter. Mann, hatte der einen eisenharten Griff.“
Während sich Fernando aus dem Staub macht, haben Rico und Luis den Angreifer Pedro zu Boden gerungen und halten ihn nun heftig protestierend dort fest.
„Au, lass mich los, Mann!“
Philipp lugt vorsichtig um die Ecke. Dankbar erkennt er das freundliche Gesicht.
„Ich will helfen. Was kann ich tun?“
„Also später will ich auf jeden Fall wissen, was um alles in aller Welt du hier tust. Aber jetzt kannst du erst mal die Polizei rufen. Warte hier, nimm mein Handy, falls sie dir deins abgenommen haben.“
„Und wir?“
„Haltet ihn fest, bis die Polizei hier ankommt, aber tut ihm nicht weh. Und dich, komm, dich bringen wir jetzt erst mal nach Hause, was?“
„Hab keins.“
„Oh, verstehe. Wie alt bist du, Antonio? Neun, zehn? Elf?“
„Elf.“
„Es gibt hier in der Nähe ein Waisenhaus für jüngere Kinder, ja, eigentlich nur bis zehn. Aber dort arbeitet ein guter Freund von mir. Weißt du was? Ich rufe ihn an, für Notfälle ist er immer erreichbar.“
Wenig später im jungen Schlafsaal des Waisenhauses:
„Hier kannst du erst mal bleiben, kleiner Freund.“
„Danke, Flavio. So etwas hat noch nie jemand für mich gemacht.“
„Hast du schon mal von Jesus gehört, Antonio? Von Jesus Christus, dem Sohn Gottes?“
„Genau den meine ich. Er hat noch viel mehr für dich getan, weil er dich sehr lieb hat, Antonio.“
„Weiß ich, ja. Das hat mir meine Mama mal erzählt, als ich klein war. Aber ich verstehe es erst jetzt richtig, weil du mir so geholfen hast.“
„Mit Jesus kann ich nicht mithalten. Aber weißt du, auch ich bin zu euch Kindern in die Favela gekommen, weil ich euch lieb habe.“
„Mhm. So, jetzt schlaf gut. Ich komme dich demnächst mal besuchen, okay?“
„Gute Nacht, Flavio. Gute Nacht, Philipp.“
„Dann bringe ich dich mal nach Hause, was?“
„Danke, Flavio, dass du dich heute so viel für andere eingesetzt hast. Danke, dass du mich gerettet hast.“
„Denk daran, es gibt noch jemanden, der dich aus größeren Schwierigkeiten retten kann als ich heute.“
„Jesus?“
„Genau der. Weil er hergekommen ist, um mich besser zu verstehen?“
„Das auch. Aber er hat noch einiges mehr für dich getan.“
Sie können leise in Bettys Haus eintreten. Beide sind völlig erschöpft und wollen dem anderen lieber morgen in Ruhe alles erzählen.
„Du gehst aber jetzt nicht wieder in die Favela, oder?“
„Nein, heute nicht mehr. Es ist vier Uhr morgens. Toni und ich schlafen in deinem Zimmer.“
Also schläft gerade natürlich nur Toni da.
„Willst du dein Bett wiederhaben?“
„Wie du dich mal wieder oben schlafen willst. Ich schnappe mir gern die Couch.“
„Danke. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Marie und Toni staunen nicht schlecht, als sie verschlafen die Treppe heruntergeschlurft kommen und vor dem Frühstückstisch stehen. Sie hatten Betty erwartet, aber nicht Phil so früh auf und Flavio und Sammy mit Uepsi.
„Sammy! Was ist da letzte Nacht abgegangen?“
„Ich bin gerade auch super verwirrt, aber voll glücklich, dass ihr da seid. Jetzt setzt euch doch erst mal, der Tisch ist schon gedeckt und es gibt bestimmt eine Menge zu erzählen.“
Allerdings gibt es das. Alle erzählen von ihren nächtlichen Abenteuern. Sammy berichtet davon, wie er todesmutig den Geldbeutel zurückgeholt hat, wie er die ganze Nacht unterwegs war und vor Katzen und anderen bösen Eichhörnchen fliehen musste. Schließlich erzählt er, wie er heute Morgen heimlich durch den Türspalt aus dem Gästezimmer gehuscht war, damit Marie ihn erst beim Frühstück zusammen mit den anderen findet.
Danach erzählt Philipp begeistert davon, wie Flavio sich für ihn und die Kinder der Favela eingesetzt hat. Flavio wusste einfach genau, was zu tun war. Am Ende hat er sogar ein Kind ins Waisenhaus gebracht.
„So mutig möchte ich auch mal sein.“
„Wobei… jetzt bin ich echt müde. Ich habe fast gar nicht geschlafen.“
„Oh Mann, und das bei dir?“
„Weiß nicht, es kann ja noch werden.“
„Dann ist ja alles gut ausgegangen.“
„Äh, aber wartet mal, wo ist denn jetzt eigentlich dieser Geldbeutel?“
„Hhm, hab ich im Garten versteckt. Müssen wir suchen gehen.“
„Bitte sag jetzt nicht, dass du vergessen hast, wo du ihn liegen lassen hast.“
„Also eigentlich sind es ja Eichhörnchen, die etwas im Boden verstecken und dann nicht wiederfinden. Viele Eichen werden auf diese Weise gepflanzt.“
„Ich bin kein Eichhörnchen, niemals!“
„Dann haben wir wohl heute auch noch was vom Abenteuer.“
Abenteuerlich sollte es tatsächlich werden. Zuerst sind alle zusammen, sogar Betty, auf allen Vieren durch den Garten gekrochen. Bis Marie nach fünfundzwanzig Minuten endlich den Geldbeutel aus dem Gebüsch gezogen hat.
Und dann ging der Ärger im Fundbüro der Polizeistation weiter. Die bestohlene Dame war nämlich ebenfalls gerade dort und hielt Flavio nicht für den Finder, sondern für den Dieb. Zum Glück war Flavios guter Freund Ramon gerade im Dienst und klärte die Sache auf.
Ramon beschäftigte sich dann auch später mit Fernando und Pedro, die in der Nacht von der Polizei gefasst worden waren. Sie müssen einen Arrest absitzen, weil sie ein Kind bedroht und Philipp entführt haben.
So viele Probleme, dabei könnte jemand wie Flavio auch den Pool und die Luxusvilla haben, weit weg von all dem Ärger.
„Stimmt, so ein Leben in Frieden und Sicherheit ist viel wert, aber Menschen sind noch viel mehr wert.“
„Auch wenn sie so unfreundlich sind wie die alte Frau? Oder sogar mit dem Messer auf einen losgehen, so wie Rico und Luis?“
„Ja, definitiv. Viele Menschen hatten schwierige oder sogar schlimme Erlebnisse, manche schon als kleine Kinder. Es fällt ihnen schwer, Liebe und Freundlichkeit anzunehmen. Aber sie wissen, dass sie sie brauchen.“
„Hm, wer braucht die nicht?“
„Gute Frage.“
„Boah, was für eine spannende Geschichte, Onkel Mike.“
„Freut mich, dass sie dir gefallen hat. Du hast mich darauf gebracht.“
„Ich?“
„Bestimmt, weil sich Marie die ganze Woche in den Rollstuhl setzt, um Amy besser zu verstehen, obwohl es für Marie viel angenehmer und leichter wäre, einfach zu laufen. Aber was Flavio für die Jugendlichen in der Favela gemacht hat, ist doch viel größer! Und was Jesus gemacht hat, ist sogar noch viel größer als das.“
„Du meinst, dass er für den Menschen gekommen ist, um zu zeigen, wie sehr Gott uns Menschen liebt?“
„Ja, genau. Und wie er das gezeigt hat, das erzähle ich euch beim nächsten Mal.“
„Sag mal, wollen wir dann beim nächsten Mal noch mehr am Doppeldecker machen? Es wäre doch richtig klasse, wenn sich der Propeller wieder drehen würde, oder? Wäre doch noch mehr wie in echt!“
„Dann gibt's hier wohl noch einiges zu tun. Ich kümmere mich schon mal um einen großen Vorrat Cookies.“
„Oh ja!“