Einführung in das Thema Vergebung
Vergeben, verdrängen, vergessen – ein kurzes Wort aus dem Matthäusevangelium, das uns heute leiten soll. Sie kennen es alle. Wenn es in unserem Leben buchstabiert wird, dann wird sich Entscheidendes und Hilfreiches ändern.
Jesus lehrt uns zu beten: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Zwei Verse später heißt es: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Matthäus 6,12-15).
Vor einigen Wochen sah ich die Ankündigung einer Tagung in einer Großstadt. Das Thema lautete: „Wie werden wir frei von Schuldgefühlen?“ Man geht so vorbei, ich denke darüber nach, und dann frage ich mich: Ist das eigentlich das Problem? Wie werden wir frei von Schuldgefühlen? Ist das wirklich das Problem?
Vielleicht ist das Problem, dass es dort, wo Schuld vorhanden ist, gar keine Schuldgefühle gibt. Vielleicht sind wir schon viel zu frei davon.
Schuldgefühle als notwendiges Alarmsignal
Vor etwa zwölf Jahren haben wir im CVJM in einem Gebiet in den Alpen ein altes Hotel übernommen und daraus ein Jugendfreizeit-Haus gemacht. Alle waren froh, das Haus wurde gut genutzt. Doch eines Tages wurde eine Katastrophe offenbar.
Irgendwo im Untergrund war die Ölleitung rissig. Anfangs dachten wir nur, die Heizung verbraucht viel Öl und heizt kräftig. Doch nicht alles, was verbraucht wurde, wärmte das Haus. Ein Teil des Öls sickerte unbemerkt in den Untergrund. Man bemerkte das erst, als sich die Verschmutzung langsam im nahe gelegenen See zeigte. Das war eine Riesenkatastrophe!
Wir hatten keinerlei Bewusstsein davon. Niemand der Verantwortlichen spürte auch nur ansatzweise, dass etwas Schlimmes im Gange war. Gerade deshalb war die Zerstörung besonders schlimm. Hätte man ein Bewusstsein dafür gehabt oder hätte sich ein Alarmsignal gemeldet, das auf das Problem aufmerksam machte, dann hätte man vielleicht früher und rechtzeitiger eingreifen können.
Dass wir kein Bewusstsein für das Problem und keine Schuldgefühle hatten, machte die Sache nicht einfacher, sondern schlimmer. So unbequem und unangenehm Schuldgefühle auch sind, sie sind ein notwendiges Alarmsignal. Sie machen uns aufmerksam: Da ist etwas rissig, da bricht etwas, da ist etwas blockiert oder kaputtgegangen. Es droht eine schlimme Zerstörung.
Dieses Alarmsignal zeigt uns, dass etwas nicht stimmt. Man muss aber auch verstehen: Das Alarmsignal ist nicht die Lösung. Durch das Alarmsignal wird nichts automatisch besser. Aber es wird auch nichts besser, wenn man das Alarmsignal, das einen stört, einfach abstellt.
Manche sagen dann: „Ich habe ein ruhiges Gewissen.“ Ein ruhiges Gewissen kann jedoch auch wie ein abgestellter Wecker sein. Es stört einen nicht mehr, man hat seine Ruhe und kann weiterschlafen – obwohl das Problem noch besteht.
Umgang mit Schuldgefühlen und Verdrängung
Natürlich sind wir Menschen unterschiedlich. Es gibt Leute, die sehr dünnhäutig sind und unter Schuldgefühlen leiden. Manchmal sogar unter Schuldgefühlen, für die es eigentlich keine Grundlage gibt. In ihrem Leben ist dann eine Art Verbiegung passiert.
Andere, und ich zähle mich eher zu dieser zweiten Gruppe, entwickeln ein dickes Fell, eine Art Kruste auf dem Gewissen. Sie drücken alles weg, vergessen es, finden das alles nicht so schlimm und sagen: „Ich fühle mich gut, also ist es okay.“
Jeder von uns versucht irgendwie, damit fertig zu werden, dass etwas nicht stimmt oder nicht so gelaufen ist, wie man es sich gewünscht hätte. Man ahnt, dass man anderen gegenüber schuldig geworden ist und vielleicht auch, dass das Verhältnis zu Gott nicht im Reinen ist. Wir versuchen alle, damit klarzukommen, und meistens verdrängen wir es. Man versucht, es zu vergessen, es wächst Gras darüber, sozusagen.
Eine Methode, die oft erfolgreich praktiziert wird, ist der Kreislauf der Entschuldigung. Dabei nimmt man das Böse oder Unrecht, das im eigenen Leben geschehen ist, als Grund für die Entschuldigung. Natürlich will niemand lügen. Im Grunde würden wir alle gerne ehrlich leben. Wir spüren, dass Ehrlichkeit wie frische Luft ist. Letzten Endes will man diese Luft ja auch selbst atmen. Wenn man sie durch Lüge vergiftet, muss man damit rechnen, dass andere sie ebenfalls durch Lügen vergiften. Und diese Luft muss man selbst atmen.
Irgendwie hat jeder eine Sehnsucht nach frischer Luft, nach Wahrhaftigkeit. Im Grunde will es niemand anders, aber es gibt Zwangssituationen. Konflikte entstehen, und man will niemanden verletzen. Dann gibt es Ausweglosigkeiten im beruflichen Leben, und das alles ist gar nicht so einfach.
Wenn man das so durchdenkt, sagt man oft: „Ich konnte gar nicht anders.“ Oder: „Der hat das so veranlasst.“ Oder: „Diese Situation war schuld.“ Man entschuldigt sich, indem man die Schuld erklärt und wegschiebt.
Der Kreislauf der Entschuldigung und seine Folgen
Es ist kaum vorstellbar, dass wir in Deutschland zu einem Volk von Dieben geworden sind. Dabei gehören wir zu den reichsten Ländern der Welt. Trotzdem wird dramatisch viel gestohlen.
Man könnte es vielleicht noch verstehen, wenn wir alle am Hungertuch nagteten und nicht einmal das Elementarste zum Leben hätten. Dann würde man Mitgefühl haben. Doch das ist nicht der Fall.
Man könnte sagen: Ja, das ist eben die Verführung einer Überflussgesellschaft. Alles wird so präsentiert, dass ständig ein Verlangen nach mehr geweckt wird. Hast du etwas, bist du jemand. Hast du es nicht, fühlst du dich minderwertig. So werden schon Kinder und junge Leute langsam herangeführt, schnell nach Dingen zu greifen.
Sind wir es also wieder nicht? Konsumterror oder wie man es nennt, dieses schreckliche Phänomen? Es sind verführerische Situationen, und da ist wirklich etwas dran. Doch es ist auch der Kreislauf der Entschuldigung.
Man nimmt die Schuld aus dem eigenen Leben, kennt die Ursache und sagt: Eigentlich habe ich hier keine Verantwortung. Ich bin nur Opfer, die anderen sind schuld gewesen.
Am schmerzlichsten empfinde ich das immer bei der Zerstörung ehelicher Beziehungen. Niemand handelt ja aus Unmoral. Doch man hat so viel Kälte und Herzlosigkeit erfahren, jahrelang das Gespräch ersehnt, und es ist nichts gekommen. Man lebt völlig aneinander vorbei.
Dann kommt ein anderer Mensch, der Verständnis zeigt. Da kann man es verstehen: Muss ich in einer Beziehung bleiben, die mir überhaupt nichts bringt, wenn woanders scheinbar Erfüllung zu finden ist?
So schieben wir es im Kreislauf weiter und entschuldigen unser Verhalten.
Gesellschaftliche Dimension der Schuld und Vergebung
Ich möchte nur kurz ansprechen, was in diesem Jahr in Deutschland passiert ist. Seit Jahresbeginn empfinde ich immer wieder, wenn an die Ereignisse vor 50 Jahren erinnert wird, dass viele Menschen ein Gefühl von Unbehagen bis Ärger entwickeln. Sie sagen: „Jetzt kommt er schon wieder damit. Muss man wirklich die alten Sachen immer wieder ausgraben? Muss man denn immer ein halbes Jahrhundert vergehen lassen, und dann wieder von Auschwitz sprechen?“
Die Älteren drücken es auf ihre Weise aus, die Jüngeren auf ihre eigene. Viele sagen: „Wir wollen das nicht, wir wollen das nicht!“
Neulich gab es einen sogenannten Historikerstreit. So wurde er genannt. Dabei haben sich Historiker darüber auseinandergesetzt, wie man die Zusammenhänge deuten sollte. Prominente Personen erklärten, dass Auschwitz und all der Schrecken durchaus im politischen und geschichtlichen Gesamtkontext erklärbar seien.
Man schaute hin, rieb sich die Augen und dachte: „Wieso? Das ist eigentlich wieder ganz natürlich. Was ist daran schlimm?“ Man kann alles entschuldigen und erklären. Erklärung und Entschuldigung werden umfunktioniert.
Das ist unsere Möglichkeit, im Privaten wie im Großen, diesen Kreislauf kräftig in Gang zu halten. Natürlich wird dadurch nichts gelöst. Es wird nur viel schlimmer. Ich schiebe das, was ich habe, den anderen ins Leben, und die schieben mir ihre Lasten hinein. Die Verkrustung wird härter.
Es wird überhaupt nichts gelöst, und die Beziehungen gehen kaputt. Das erleben wir heute. Das Verdrängen führt zu nichts anderem, als dass langsam die Eiszeit der Herzen ausbricht, weil die Beziehungen nicht mehr funktionieren.
Die Alternative: Der Kreislauf der Vergebung
Jesus sagt: Anstatt des Kreislaufs der Entschuldigung gibt es den Kreislauf der Vergebung. Er legt uns die Lösung wortwörtlich in den Mund. Dabei erklärt er keine große Weltanschauung oder Philosophie, sondern gibt uns einen einzigen Satz zum Nachsprechen. Er sagt: „Dieser Satz ist das Geheimnis des Kreislaufs der Vergebung.“
Der Satz lautet: „Vergib uns unsere Schuld.“ So soll gebetet werden. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
In diesem Satz steckt zunächst das Vergeben. Das kann nur Gott. Niemand kann uns unsere Vergangenheit abnehmen. Deshalb spüren wir ganz richtig, dass wir anders handeln würden, wenn wir tatsächlich unsere Vergangenheit im persönlichen und gemeinschaftlichen Leben loswerden könnten. Aber wir können es nicht. Und wir spüren alle, dass wir nicht loswerden können, was wir getan haben.
Man kann versuchen, es zu vergessen, Gras darüber wachsen zu lassen, zu erklären und dadurch zu verharmlosen. Wir können uns gegenseitig das auch schönreden. Aber es bleibt so, und das spüren wir unweigerlich: Keiner kann dem anderen seine Schuld abnehmen, und keiner kann sich selbst davon befreien.
Das ist eine schreckliche Tatsache. Weil wir sie innerlich nur schwer annehmen können, denken wir gar nicht gründlich und lange darüber nach. Stattdessen steigen wir sofort ein in den Kreislauf der Entschuldigungen. So entsteht zumindest der Eindruck, dass wenigstens etwas geschieht, um die schreckliche Not zu mildern.
Doch das ist Selbstbetrug. Es ändert sich nichts, im Gegenteil: Es wird alles schlimmer. Nein, Vergebung der Sünden kann nur Gott schenken.
Die zentrale Botschaft der Versöhnung in Christus
Es steht in der Bibel ein Satz, der so rabiat ist, dass ich festgestellt habe, Christen ihn kaum zitieren. Sie haben Angst, dass sie, wenn sie ihn aussprechen, eine Art Gotteslästerung begehen. Doch dieser Satz ist vielleicht das Zentrum der ganzen Problemlösung.
Er steht im zweiten Korintherbrief, Kapitel 5, Vers 21. Ich gebe Ihnen die Stelle, damit Sie mit eigenen Augen nachlesen können und sich nicht erschrecken.
Herr Paulus hat zuvor gesagt: Gott hat die Welt in Christus mit sich selbst versöhnt. Diese Botschaft wird nun weitergegeben: Lasst euch versöhnen mit Gott. Dann heißt es: Denn Gott hat den, der von keiner Sünde etwas wusste – also Jesus, den einzig Gerechten – für uns zur Sünde gemacht, zur Sünde in Person.
Jesus wird also zum Mord in Person, zum Betrug, zur Lüge in Person. Jesus wird von Gott zum Ehebruch in Person, zur Habgier in Person gemacht – so steht es da. Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, total identifiziert, in eins gesetzt mit der Sünde. Damit wir in ihm, durch ihn Gerechtigkeit Gottes würden, dass wir ganz in Ordnung kämen vor Gott und alle Anerkennung vor Gott erhielten.
Es ist das tiefste Geheimnis, von dem wir leben dürfen: dass Gott selbst sich unser Leben anzieht. Ich buchstabiere mein Leben lang daran herum, versuche es zu erklären und in Beispiele zu kleiden. Doch ich stelle fest, alles zerbricht daran.
Es ist eine Wirklichkeit, die Gott tut, zu der es keine Parallele gibt in dem, was wir sonst so machen. Aber es ist die Wirklichkeit, die unser Leben erneuert: dass Gott selbst Mensch wird und sich unser Leben anzieht.
Indem wir es ihm anvertrauen, übernimmt er unsere Schuld, übernimmt unser altes Leben und lebt es bis zur bitteren Konsequenz. Erträgt, was wir verdient haben. Gott behandelt ihn am Kreuz so, wie der heilige Gott die Lüge, den Hass, den Mord und die Selbstsucht behandeln muss. Er tötet ihn, es ist Gericht, begräbt ihn – und damit ist es erledigt.
Ich greife mit meinem verzerrten Gewissen und mit den Anklagen der anderen nach den alten Dingen. Doch er sagt: Stopp, das ist schon vergeben, abgegeben an Jesus. Da kannst du nicht mehr dran. Es gehört dir nicht mehr, es ist nicht mehr dein Leben, es ist weg.
Du darfst das Leben dieses Jesus leben. Paulus sagt: Ich lebe, doch Christus lebt in mir. Vergeben kann nur Gott.
Die praktische Umsetzung von Vergebung im Gebet
Jesus legt uns den Satz in den Mund: „Vergib uns unsere Schuld.“ Nicht „Entschuldigung“, sondern eine Bitte um Vergebung. Darin steckt: Ich weiß, dass ich es nicht verändern kann. Ich will es auch nicht mehr beschönigen, sondern aufdecken. Ich beuge mich unter das Urteil und weiß zugleich: Ich freue mich daran, dass du, Herr, alles getragen hast, was ich nicht tragen kann. Ich danke dir für die Vergebung.
Und das ist voraussetzungslos. Da leuchtet einem sofort ein, warum man nichts leisten kann. Es ist doch Quatsch zu versuchen, dasselbe selbst zu tun. Wir können es nicht. Es gibt das Geschenk, oder es gibt es überhaupt nicht. Deshalb muss niemand diese Kirche verlassen, ohne dieses Geschenk für sich angenommen zu haben. Es ist völlig voraussetzungslos.
Das Einzige, was einen hindern kann, es zu bekommen, ist zu sagen: „Ich brauche es nicht, ich bin schon recht.“ Wer sich bemüht und zu anständig ist, kann mit diesem Geschenk nichts anfangen. Er muss sehen, wie er mit seiner Gerechtigkeit selbst vor Gott klarkommt in seinem Leben.
Aber sonst kann es jeder als Geschenk bekommen – jeder.
Die Forderung zur Weitergabe der Vergebung
Aber dann kommt ein Satz, der bei uns oft nicht mehr so richtig vorkommt: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigen.“
Jesus bietet die Vergebung der Schuld bedingungslos an, aber sie ist folgenreich – folgenreich. Das ist ein großartiger, aber auch ein kritischer Punkt.
„Ich kann denen nicht vergeben“, sagt jemand. „Das bringe ich nicht über mich, ich kann doch nicht heucheln.“
Moment, sagt Jesus, „ich will gar nichts von dir. Nur eins: dass du von dem Riesengeschenk, das ich dir gemacht habe an Vergebung, eine kleine Scheibe abschneidest. Nichts von dir, nichts von dem, was du kannst oder nicht kannst. Sondern nur von dem, was ich dir geschenkt habe, von dem Riesengeschenk eine kleine Scheibe, und diese weitergibst an den, an die, die dir so wehgetan haben.“
Und so sagt das Gebet: „Vergib uns unsere Schuld, genauso wie wir vergeben unseren Schuldigen.“
Das ist natürlich auch ein Gebet, an dem man sich aufhängen kann. Man kann als Ergebnis dieses Gebetes auch bekommen: Gott entzieht alle Vergebung.
Weil ich gute Gründe habe, dem, der an mir schuldig geworden ist, nicht zu vergeben, verliere ich alle Vergebung, die Gott mir geschenkt hat. Wer meint, das wäre nicht so, für den hat Jesus es noch einmal gesagt:
„Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Matthäus 6,14-15)
Der Kantor hat vorhin das Gleichnis vom törichten Knecht vorgelesen. Vierzig Millionen bekommt er erlassen und meint, er könnte einem anderen achtzig Mark vorrechnen und einklagen.
Der Chef sagt zu ihm: „Spinnst du eigentlich? Kannst du nicht rechnen? Hast du nicht gesehen, was ich dir erlassen habe? Und du meinst, du hättest wirklich ein Recht, dem anderen vorzuhalten, was er dir getan hat?“
„Du hast nicht genug Vergebung geschenkt bekommen, um nur eine kleine Prise weiterzugeben? Du verlierst alles, was ich dir geschenkt habe.“
Die Vergebung wird vorbedingungslos geschenkt, aber sie ist nie folgenlos.
Die soziale Dimension der Vergebung
Religion mag Privatsache sein. Jawohl, das ist das, was ich innerlich als Gefühl habe. Aber Christusnachfolge hat nichts mit Religion zu tun, weil sie immer eine soziale Angelegenheit ist und immer eine Beziehungswirkung hat.
Sie wirkt sich sofort aus. Ich kann sie gar nicht für mich behalten. Ich empfange Vergebung, und der erste Schritt ist, vorausgesetzt, Sie haben überhaupt keinen Menschen, der Ihnen gegenüber schuldig geworden ist. Dann müssten Sie im Dreivierteltakt wie ein Gummiball springen und Halleluja schreien.
Sollten Sie aber jemanden kennen, der Ihnen schwerfällt, der Sie verletzt hat oder an Ihnen schuldig geworden ist, dann ist die erste Folge des Geschenks der Vergebung eine kleine Portion, eine kleine Prise weiterzugeben. Beten Sie: Herr, ich möchte vergeben, ich bitte darum.
Manche kämpfen im Verhältnis zu ihren Eltern voller Bitterkeit und Vorwürfe. Andere haben Schwierigkeiten mit Kollegen, Vorgesetzten oder wem auch immer. Sie mögen es selbst bedenken. Jesus sagt nicht: „Das ist alles doch gar nicht so schlimm, tu doch nicht so.“ Er sagt: „Die sind an dir schuldig geworden.“
Es hilft uns überhaupt nicht, so zu tun, als wäre das alles nichts. Einander zu sagen: „Ach, ist nicht so schlimm“ und die Probleme unter den Teppich zu kehren, löst keine Probleme in Beziehungen. Weder in Ehen, noch in Familien, noch unter Freunden, Kollegen oder Nachbarn.
Schuld ist Schuld. Sie wiegt schwer, sie blockiert und sie zerstört die Beziehung zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Gott und Menschen. Es geht nicht um Verniedlichung, Verdrängung, Verharmlosung oder das Unter-den-Teppich-Kehren von Schuld, sondern um wirkliche Bewältigung und um Vergebung. Um Vergebung.
Die Herausforderung der Vergebung im Alltag
Jesus ist dabei nüchtern, realistisch und praktisch. Er sagt: Das ist doch unsere Welt. Wir haben keine Wahl, denn das ist die Welt, in der wir leben.
Wir sind blockiert, weil wir einander schuldig werden. Dabei haben wir die Wahl: Entweder treiben wir den Kreisverkehr der Entschuldigung weiter an und versuchen, dem anderen die Schuld zuzuschieben, die wir selbst nicht tragen können. Das hat zur Folge, dass uns selbst jede Menge Schuld zugeschoben wird und wir am Ende daran ersticken.
Oder wir sagen: Herr, jetzt unterbreche ich diesen Kreis. Ich danke dir, dass du mich einlädst. Ich lasse es mir bewusst in den Mund legen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Und dann zieht das Kreise.
Abschluss und Gebet
Was für ein Sonntag! Was für ein Sonntag in diesem Gottesdienst!
Aus dem Gebet, aus diesem einen Gebet, das wir gleich miteinander beten werden, wächst die Überlegung: Wo ist der Mensch, dem ich das Geschenk weiterreichen darf? Wo ist er? Es soll Kreise ziehen, Kreise der Versöhnung.
Nicht, damit unsere Schuldgefühle verschwinden oder der Alarm abgestellt wird. Nicht, damit wir mit Beruhigungsmitteln stillgesetzt werden, keine Opium-Religion – das ist nicht das, was Jesus uns schenkt. Vielmehr möchte er Beziehungen heilen, wirklich Beziehungen heilen.
Das will ich gerne in meinem Leben bezeugen: Die Schlüsselerfahrungen waren für mich die Momente, in denen ich Vergebung ganz praktisch und aufgrund eines Bekenntnisses von Sünde empfangen habe. Das waren die Augenblicke großer Freude, in denen ich hätte springen können – und das habe ich auch getan –, in denen ich geschrien und gesungen habe vor Freude.
Der Heilige Geist zündet das in einem Menschen an, dass man Jesus sieht und das Geschenk der Vergebung erkennt. Man streckt die leeren Hände aus und sagt: „Ich danke dir, dass es mir gilt. Jetzt hilf mir, dass ich es mit anderen teilen kann, dass es Kreise zieht.“
Es gibt ein altes Lied, das Menschen in ganz schweren Situationen voller Jubel und Freude gesungen haben – amerikanische Negersklaven: „I gonna sing when the Spirit says sing“ – ich fange an zu singen, wenn der Heilige Geist mir sagt, singe. Wäre schön, wenn wir es miteinander singen könnten. Da sie es vermutlich nicht können, spielen es jetzt die Bläser.
Herr, unser Gott, von deiner Vergebung leben wir jeden Tag, auch heute. Dafür danken wir dir, dass du uns nicht allein lässt mit unserer Schuld, dass du uns Kraft gibst, dazu zu stehen, und dass du uns diese Last abnimmst.
Und nun bitten wir dich: Lass uns nicht allein! Gib uns Kraft, dazu zu stehen, und nimm uns die Last ab. Lass uns Menschen sein, die das auch tun, was du anbietest: dass sie sich Lasten abnehmen lassen, dadurch frei werden, froh werden und Mut bekommen, anderen zu vergeben.
Herr, wir bitten dich für unsere kleine Welt und die große Welt, wo immer Menschen sind, die einander weder vergeben noch vergessen können. Wo Menschen sind, die deshalb einander bekriegen, einander Leid zufügen und das Leben schwer machen.
Gib, dass es nicht dabei bleibt! Gib, dass dein Geist in diese unsere kleine und große Welt hineingeht. Gib, dass auch durch uns dein Geist weitergeht.
Wir denken an all das, was uns persönlich belastet. Lass uns Wege sehen, wie wir weitergehen können. Wir denken an all das, was uns das Zusammenleben in unserer Stadt und in unserem Land schwierig macht. Lass die Verantwortlichen gute Wege sehen und Menschen finden, die mit ihnen diese Wege gehen.
Herr, wir denken an das, was uns Freude macht, und danken dir dafür. Wenn wir an den heutigen Abend denken, den letzten der Lust auf Leben machen: Herr, segne ihn und uns. Amen.
Das Vaterunser und Segen zum Abschluss
Wir beten gemeinsam das Gebet des Herrn:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme,
dein Wille geschehe,
wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute,
und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!
Nun bitten wir den Herrn um seinen Segen:
Der Herr segne euch und behüte euch,
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig,
der Herr erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden.
Dann darf ich Sie bitten, noch einmal Platz zu nehmen.