Bitte zu Tisch

Konrad Eißler
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Die Gemeinde Jesu ist eine Tischge­sellschaft, die der Herr selber so gewollt hat und zu der auch heute wieder eingeladen wird. Wer sie annimmt, wird eine Tischrede hören, einen Tischdienst sehen und ein Tischgebet sprechen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Bitte zu Tisch! So sagt die Mutter, wenn der Vater seine Arbeit unterbrochen hat, die Kinder von der Schule eingetrudelt sind und die Suppe auf dem Mittagstisch dampft. Bitte zu Tisch! So sagt der Hausherr, wenn die Gästeschar ihre Mäntel abgelegt hat, die Blumen oder Pralinenschachteln überreicht sind und alles auf die Schlacht am kalten Buffet wartet. Bitte zu Tisch! So sagt der Hotelier, wenn der Koch die Suppe abgeschmeckt hat, die Kellner zum Auftragen bereit sind und den Hungrigen das Wasser im Munde zusammenläuft. Bitte zu Tisch! So sagen auch Apostel, wenn sich die frühe Gemeinde zusammengefunden hat, die erst­en Begrüßungsworte gewechselt sind und die tägliche Zusammenkunft hin und her in den Häusern beginnt.

Schauen wir uns diesen Tisch kurz an, um den sich Christen versammeln. Es ist ein großer Tisch, an dem alle Platz finden. Niemand muss befürchten, dass für ihn kein Stuhl mehr übrig ist. Platzmangel gibt es in der Gemeinde nicht. Und es ist ein runder Tisch, an dem es kein Oben und kein Unten gibt. Honoratioren werden nicht auf die Ehren­plätze gebeten und Unbekannte müssen nicht mit einem Eckplatz vorlieb nehmen. Standesunterschiede sind in der Gemeinde fremd. Und es ist ein gedeckter Tisch, an dem alle satt werden können. “Er gibet Speise, reichlich und überall, nach Vaters Weise, sättigt er allzumal.” So heißt es von dem Tischherrn. Hungerleider haben die Gemeinde noch nicht entdeckt. Doch, Gemeinde Jesu ist eine Tischgesellschaft. Merken wir uns das.

Sie ist keine Trauergesellschaft, die sich mit schwarzen Kleidern und verweinten Augen eines lieben Toten erinnert, der viel zu früh aus ihrer Mitte gerissen wurde und eine große Lücke hinterlassen hat. Gemeinde Jesu ist eine Tischgesellschaft. Sie ist keine Reisegesellschaft, die auf dem Schiff, das sich Gemeinde nennt, gebucht hat und dort unter der Flagge des Kreuzes frisch-fröhlich auf den Wellen dem Zielhafen entgegenschippert. Gemeinde Jesu ist eine Tischgesellschaft. Sie ist keine Versicherungsgesell­schaft, die bei pünktlicher Prämienbezahlung nicht nur für Hagelschlag und Wasserschäden, sondern sogar für das ewige Heil gerade steht. Gemeinde Jesu ist eine Tischgesellschaft. Sie ist keine Aktiengesellschaft, die ihren Jenseitsspekulanten reiche Gewinne beschert.

Gemeinde Jesu ist und bleibt eine Tischge­sellschaft, die der Herr selber so gewollt hat und zu der auch heute wieder herzlich und dringlich eingeladen wird. Alte sollen es hören, die auf einen Heimplatz abgeschoben sind. Junge sollen es hören, denen so viel anderes zu Ohren kommt. Einsame sollen es hören, die sich daheim alleine quälen, Betriebsame sollen es hören, die sich dafür keine Zeit nehmen wollen, Zweifler sollen es hören, die der Sache nicht so recht trauen, alle sollen es hören: Bitte zu Tisch! Wer diese Einladung annimmt, der wird nach alter Tradition und Tischordnung eine Tischrede hören, einen Tischdienst sehen und ein Tischgebet sprechen. Davon ist in diesen Aufzeichnungen des Arztes Lukas zu lesen.

1.) Die Tischrede kam damals ins Gerede, und das kam so. Eine “Aktion Brot für die Witwen” oder “Hilfe für Schwestern”, die ums Jahr 40 gestartet wurde, hatte offensichtliche Mängel. Mittellose Witwen vom griechisch sprechenden Teil der Bevölkerung warteten vergeblich auf ihre Lebensmittelrationen. Ob Absicht der Verantwortlichen oder Schlamperei der Verteiler vorlag, ist unbekannt, jedenfalls kam bei ihnen das Essen auf Rädern nicht an. Arme Frauen wurden glatt übersehen. Und das tat weh. Überseh­en werden tut immer weh. Deshalb erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden. Zuerst meckerten sie hinter vorgehaltener Hand. Dann maulten sie offen in der Gemeinde. Schließlich motzten sie gegen die Apostel. Die sollen doch nicht so viel reden, sondern endlich etwas tun. Die sollen doch nicht so viel Worte machen, sondern endlich Besuche machen. Die sollen doch nicht so viel in die Bibel schauen, sondern endlich nach den Witwen schauen. Was sollen Tischreden, wenn’s bei Tisch nicht stimmt.

Und die Apostel fegten diese schwerwiegenden Vorwürfe nicht kurzerhand vom Tisch. Auch sie litten unter der Begrenzung ihrer Kräfte. Menschsein heißt unvollkommen sein. Mag man in geschäftlichen Dingen die Leistung durch den Einsatz von Computern und Robotern verbessern können, so ist dies in persönlichen Dingen nicht möglich. Unseren Fehlern und Schwächen im mitmenschlichen Bereich ist mit EDV und BTX nicht beizukommen. Die Apostel stellten also mit Schmerzen fest, dass Sand im Getriebe ist. Wenn sie trotzdem nicht sofort den Talar mit dem Arbeitsmantel vertauschten, um den Leerlauf abzustellen, so einfach deshalb, weil sie wussten: Es taugt nicht, wenn wir die Brötchen verteilen. Es ist unsinnig, wenn wir uns die Hacken ablaufen. Es ist nicht recht, wenn wir darüber das Wort Gottes vernachlässigen.

Sie geben dem Wort einen ganz hohen Rang. Dass Gott die Leute mag, muss gesagt werden. Dass Jesus Christus für sie gestorben ist, muss gepredigt werden. Dass der Heilige Geist die Kraft zum Leben ist, muss bekannt gemacht werden. Darum, und so hat Luther formuliert: “Es ist alles besser vernachlässigt denn das Wort, und es ist nichts besser getrieben als das Wort.” Belastete brauchen das Wort, das sie trägt: “Er gibt den Müden Kraft und Stärke den Unvermögenden.” Traurige brauchen das Wort, das sie aufrichtet: “Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet.” Verängstigte brauchen das Wort, das sie stärkt: “Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein.”

Wer von der Kirche nur eine schöne Tauffeier, eine feierliche Konfirmation, eine kurze Beerdigung, ein duftes Jugendprogramm, ein breites Sozialangebot und eine unterhaltsame Altenbetreuung erwartet, erwartet nicht zu viel, sondern zu wenig. Denn dieser Gott will nicht nur etwas geben, sondern alles vergeben. Die ganze Schuld unseres Lebens will er wegnehmen. Die ganze Sünde unseres Lebens will er vernichten. Ohne diesen Ballast können wir unseren Weg weitergehen. Dies aber geschieht in der Wortverkündigung, in der Auslegung der Heiligen Schrift, oder wie wir sagten, in der Tischrede. Man kann sie nicht streichen wie eine Vorspeise, weil sie zur Mitte der Tischgemeinschaft gehört. Schon im Blick auf sie gilt die Einladung: Bitte zu Tisch!

2.) Der Tischdienst ist aber damit nicht unter den Tisch gefallen. Niemand ist zu den Witwen gelaufen und hat ihnen gesagt: “Passt mal auf, die Apostel sind nur am Reden interessiert. Ihr müsst schon selber schauen, wie ihr was in den Magen bekommt. Vielleicht hat die Arbeiterwohlfahrt einen Freitisch für Alleinstehende. Vielleicht hat die Heilsarmee einen Kosttisch für Mittellose. Vielleicht hat die Stadt irgendeinen Katzentisch, wo ihr mit Obdachlosen zusammen zu einer Suppe kommt. In der Gemeinde läuft nichts.” Nein, dieses Denken war damals undenkbar. Von Anfang an war die Seelsorge mit der Leibsorge verbunden.

Seit Jesus selbst die Schürze umgebunden hat und niedergekniet ist, gibt es darüber keine Diskussion mehr. Zum Wort gehört die Tat. Keiner soll vor dem leeren Teller sitzen. Niemand darf übersehen werden. Alle gehören an den großen Tisch. Die Witwen und Waisen, die Schwachen und Kranken, die Greise und Kinder. Alle sind ihm gleich wert. Alle sollen sich’s schmecken lassen. Alle sollen satt werden. Für alle gilt: “Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.”

Und damit das klappt, braucht es einen Tischdienst, das heißt Leute, die sich den Schurz umbinden, die Hände schmutzig machen und helfen, wo Not ist. In Jerusalem gab es dafür keine ZDLs, die das ja für 20 Monate machen müssen. Sie konnten keine Evangelische Nachbarschaftshilfe beauftragen, die mal bei den Einsamen ‘reinschaut. Diakoniestationen waren noch in weiter Ferne, also kirchliche Einrichtungen, die nach Wichern gerne zu Schuttabladeplätzen unserer verweigerten Hilfe werden. Die Apostel gingen auf sieben Männer zu, um sie für den Tischdienst zu bitten. Und Stephanus hat nicht geantwortet: “Entschuldigung, ich bin studiert. Meine Qualifikation reicht für die höhere Beamtenlaufbahn.” Und Philippus hat nicht geantwortet: “Entschuldigung, ich bin aus hohem Haus.Für solche Aufgaben hat man doch Dienstpersonal.” Und Nikolaus hat nicht geantwortet: “Entschuldigung, ich bin künstlerisch veranlage. Meine Hände vertragen kein Schmutzwasser.” Nein, alle sieben, von denen es heißt, dass sie voll Geist und Weisheit gewesen seien, stellten sich der Wahl durch die Gemeinde und wurden durch Handauflegung zu diesem Tischdienst ordiniert.

Sind wir uns dafür zu schade? Fühlen wir uns beim Handlangerdienst unter Wert verkauft? Kommen wir mit unseren Schwellenängsten, um unser Nichtstun zu kaschieren? Ich kann kein Elend sehen! Es riecht mir zu schlecht! Mir macht fremdes Leid Kummer! Gemacht habe ich es noch nie und überhaupt habe ich zwei linke Hände!

Jesus kauft uns das nicht ab. Glaube ohne Liebe ist tot. Als der bruddelige Fischer Knudsen in Alfred Anderschs Buch “Sansibar oder der letzte Grund” gefragt wurde, warum er sich im Dritten Reich erwärmen ließ, einem armen Teufel bei der Flucht nach Schweden zu helfen, antwortete er: “Weil ich kein toter Fisch sein will. Weil es sonst stinklangweilig wird. Weil ich die Lust an der Liebe behalten will.”

Darum geht es doch, die Lust an der Liebe behalten, die Freude am Helfen zu bewahren, den Mut zum Dienen zu bekommen. Tischdienst ist Ehrensache, deshalb: Bitte zu Tisch!

3.) Das Tischgebet ist Anfang, Mitte und Ende. Ohne das Gebet ist alles Reden lauter Geplapper und alles Tun lauter Geklapper. Erst das Gebet macht aus dem verkündigten Wort vollmächtige Seelsorge und aus der helfenden Tat heilende Leibsorge. Nur das Gebet lässt uns wirklich leben.

Manche empfinden es als entbehrlichen Nachttisch, den man gar nicht erst servieren müsse. Manche sehen es als frommen Schwanz, den man endlich abschneiden müsse. Manche bezeichnen es als tote Tradition, die heute nichts bringe. Die aber hielten an am Gebet. Das heißt doch: So wie Mozart alles zur Note und Rembrandt alles zum Bild wurde, so wurde ihnen alles zum Gebet: Der Knatsch in der Gemeinde, der Suppenteller der Witwen, die Wahl der Männer, die Sache des Reiches Gottes. Kein Ding ist zu klein und Anliegen zu groß, als dass es nicht in Dank und Bitte und Fürbitte vor unseren Gott getragen werden könnte. Gott will sich um die Reibereien daheim genau so kümmern wie um die Waffengänge der Völker. So darf die Angst vor morgen, die Sorge um Arbeit, das Bangen um Frieden, das Zittern um Gesundheit, einfach alles Bewegen hineinfließen in die Bitte: “Herr höre uns um deiner großen Barmherzigkeit willen.” Und darauf steht die Zusicherung: “Da dieser Elende rief, hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Nöten.”

Was nicht zum Gebet wird, wird nichts. So umschließt das Tischgebet den Tischdienst und die Tischrede, also jene Tischgesellschaft des Herrn, zu der ich noch einmal jeden freundlichst einladen will: Bitte zu Tisch!

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]