Herr Albrecht, vielen Dank für die herzliche Begrüßung.
Meine Haarfarbe – ich sage immer, wenn man das Haar so offen trägt – ist undefinierbar.
Ich freue mich sehr, hier zu sein. Liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Studienanfängerinnen und Studienanfänger, es ist mir eine große Ehre, mit euch diesen Vormittag zu begehen.
Liebe Kollegen vom BSK, ich finde es ein großes Vorrecht, mit jungen Menschen arbeiten zu dürfen. Es ist ein Vorrecht, mit Menschen zu arbeiten, die einen Durst und eine Liebe für Gottes Wort haben und sich ausbilden lassen wollen. Das ist noch einmal eine andere Qualität als die Konfirmandenarbeit, wo dieser Durst manchmal nicht ganz so sichtbar ist. Aber das ist schon eine wunderbare Arbeit, ganz großartig.
Ich freue mich, dass so viele da sind. Auch Sie, liebe Eltern und liebe Gäste, seien Sie heute Morgen herzlich von mir gegrüßt.
Die Geschichte der Vasa als Sinnbild für Stabilität und Tiefgang
Meine Frau und ich konnten in diesem Sommer eine tolle Reise machen. Wir waren in Skandinavien und unter anderem auch in Stockholm.
Wer schon einmal in Stockholm war, weiß, dass es dort ein weltberühmtes Museum gibt, das eigentlich nur um ein einziges Ausstellungsstück herum gebaut wurde. Das ist das berühmte Vasa-Museum. Im Vasa-Museum kann man vor allem ein großes Schiff bewundern: die Vasa.
Die Vasa war ein schwedisches Kriegsschiff, eine sogenannte Galeone. Sie wurde vom schwedischen König Gustav Adolf in Auftrag gegeben. Den kennen wir noch aus dem Dreißigjährigen Krieg, in dem er den Protestantismus rettete. Gustav Adolf ließ diese Galeone bauen, sie sollte das Flaggschiff der schwedischen Kriegsmarine werden.
Im Dreißigjährigen Krieg war der Feind Polen, katholische Polen gegen das protestantische Schweden, und dafür brauchte man eine Flotte. Man holte einen berühmten Schiffsbaumeister aus Holland, einen echten Profi.
Der Bau dauerte natürlich länger als nur ein paar Tage. Während der Bauzeit bekam der schwedische König die Nachricht, dass die Polen ein noch größeres Schiff mit noch mehr Feuerkraft bauten. Daraufhin befahl der König: „Freunde, ich möchte doppelt so viel Feuerkraft auf meiner Galeone, wie ursprünglich geplant.“
Ein König ist ein König, sein Wort hat Gewicht und Befehl. Also wurden doppelt so viele Kanonen eingebaut, wie ursprünglich vorgesehen. Die Vasa hätte zu diesem Zeitpunkt genauso viel Feuerkraft gehabt wie die gesamte polnische Flotte zusammen.
Außerdem sollte die Vasa das schönste Schiff ihrer Zeit werden. Siebenhundert Statuen wurden angebracht, grimmige Gesichter, die dem Feind schon beim Anblick Furcht einflößen sollten. Sie sollten die Stärke Schwedens und seines Königs dokumentieren.
Dieses Schiff war wahrscheinlich das prächtigste, mit Sicherheit das prächtigste Schiff der damaligen Welt.
Am 10. August 1628 war Stapellauf. Das Schiff glitt auf Holzbohlen ins Wasser, prächtig beflaggt, volle Segel, Matrosen alle an Bord, Tausende Menschen am Ufer – ein riesiges Fest.
Komischerweise hatte die Vasa schon nach ein paar Metern eine leichte Schlagseite. Das Schiff legte 1.300 Meter in 20 Minuten zurück, dann kenterte es und sank.
So lag die Vasa 320 Jahre lang auf dem Grund des Stockholmer Hafens. In den 1950er-Jahren wurde sie entdeckt, geborgen, restauriert und ist heute eine große Attraktion im Museum.
Das Problem war die Statik des Schiffes – und die Kanonen. Diese Kanonen hatten ein erhebliches Gewicht. Oberhalb der Wasserlinie war mehr Gewicht als unterhalb.
Man hatte zwar im Kiel einen Haufen Steine eingebracht, wie damals üblich, damit das Schiff ordentlich im Wasser lag. Doch es waren nicht genug Steine, um das Gewicht der Kanonen auszugleichen.
Unterhalb der Wasserlinie war weniger Gewicht als oberhalb mit den vielen Kanonen. Diese verschobene Statik brachte das Schiff nach 1.300 Metern und 20 Minuten Fahrt zum Kentern.
So lag das schönste, größte, prächtigste und teuerste Schiff seiner Zeit für 350 Jahre auf dem Grund des Stockholmer Hafens.
Beim Stapellauf hatte die Vasa mächtig Eindruck gemacht. Wer konnte so ein Schiff versenken? Die Antwort war: Es hat sich selbst versenkt – weil es unterhalb der Wasserlinie nicht genügend Gewicht hatte.
Alles, was unterhalb der Wasserlinie ist, kann man von außen nicht sehen. Dort kann man keine Pracht entfalten, die Applaus verursacht. Die 700 Statuen, Fratzen, Flaggen und Segel befinden sich oberhalb der Wasserlinie.
Oberhalb der Wasserlinie bekommt man Applaus, Bewunderung und vielleicht auch Furcht bei den Gegnern. Unterhalb der Wasserlinie bekommt man nichts.
Weil die Vasa unterhalb der Wasserlinie nicht das nötige Gewicht hatte, war ihre Fahrt und ihre Geschichte voller Glanz und Gloria nach 1.300 Metern und 20 Minuten vorbei.
Tiefgang als entscheidender Faktor im Leben und Glauben
Man könnte sagen: Viel im Schaufenster, über Wasser, aber wenig Gewicht im Laden, unter Wasser. Dieses Problem mit dem Wasser kann es auch im Leben von Menschen geben, in Jugendkreisen, Gemeinden und Kirchen. Was von außen sichtbar ist, mag vielleicht picobello aussehen, doch es fehlt der Tiefgang, es fehlt an innerem Gewicht und Stabilität.
Was das Leben eines jungen Menschen – nicht nur eines jungen Menschen – was das Leben eines Menschen überhaupt, das Leben einer Gemeinde oder einer Jugendarbeit zum Kentern bringt, sind in den seltensten Fällen äußere Gegner. Das größte Problem ist immer der fehlende Tiefgang.
Es gibt Menschen, die sich glänzend präsentieren können, die, wie man heute neudeutsch sagt, performen können, die Charisma und Aura haben. Doch es fehlt der Tiefgang im Leben, es fehlt eine stabile Persönlichkeit. Zunächst stört das kaum jemanden. Es fällt erst dann auf, wenn die Stürme des Lebens kommen. Dann zerbricht die ganze schöne Fassade.
Das kann man regelmäßig an vielen Stars und Sternchen erleben, die mit ihrer Aura und ihrem Charisma den Jubel und Applaus der Massen bekommen. Doch wenn keine Persönlichkeit dahintersteht, kein Fundament, kein Tiefgang, dann wird man den Rummel und Applaus niemals gesund überstehen.
Jesus spricht in diesem Zusammenhang einmal von Häusern, die auf Sand gebaut sind. Dieses Haus kann prächtig sein, super aussehen, Eindruck machen, Applaus bekommen und sogar Baupreise für Architektur erhalten. Aber es wird die Stürme nicht überstehen. Wenn der Sturm kommt, wenn die Fluten steigen, bricht es zusammen, weil kein Fundament da ist.
Es gibt das berühmte Wort: Charisma ohne Charakter führt immer in die Katastrophe. Dieses Problem gibt es auch bei Jugendreisen, Gemeinden und Kirchen.
In der Johannesoffenbarung, in den Kapiteln 2 und 3, wird eine Schau von sieben Kirchen beschrieben. Diese sieben Kirchen werden bewertet, und fünf von ihnen werden heftig kritisiert. Es läuft viel, der Betrieb ist groß, das Schaufenster ist top dekoriert. Doch im Glauben sind sie nicht treu geblieben. Sie haben Inhalte und Lehren aufgenommen, die toxisch, giftig und vergiftet waren. Sie haben sich darin verschluckt.
Es ist niemand anderes als der Auferstandene höchstpersönlich, der zum Beispiel über die Gemeinde von Sardis das Urteil fällt: „Du hast den Namen, dass du lebst.“ Wenn man also das Schaufenster betrachtet, denkt man: „Wow, dein Gemeindehaus, deine Kirche, super!“ Aber Jesus sagt: „Du bist tot, du bist tot.“ Das, was unter der Wasserlinie ist, trägt nicht das, was über der Wasserlinie sichtbar ist.
Jesus sieht immer genauer und tiefer. Er prüft die Fundamente, den Tiefgang eines Schiffes, das Gewicht unter der Wasserlinie.
Entsprechend betet auch Paulus für die Gemeinde in Ephesus, dass sie in der Liebe eingewurzelt und gegründet ist. Da ist dieses Bild von Wurzeln, die in den Boden hineinwachsen müssen – Wurzeln, die wir alle nicht sehen. Wir sehen immer nur die Bäume oberhalb des Erdbodens.
Paulus betet dafür, dass wir, wie ein Baum, tiefe Wurzeln in der Liebe Gottes haben. So sollen wir mit allen Heiligen begreifen können, welche Breite, Länge, Höhe und Tiefe die Erkenntnis der Liebe Christi und die Erkenntnis Gottes haben.
Worauf es beim Schiffsbau und im Glauben ankommt, ist der Tiefgang – oder anders formuliert, biblisch gesprochen: das Fundament und der Grund.
Die Bedeutung von Wartung und Pflege für Stabilität
Ich möchte an ein anderes Ereignis erinnern, das Ihnen wahrscheinlich auch ein Bild vor Augen führt. Am 14. August 2018 stürzte die Autobahnbrücke in Genua ein. Sie haben diese Bilder wahrscheinlich noch vor Augen: der berühmte grüne Laster, der kurz vor der Abbruchkante stehenblieb, und der Fahrer, der kreidebleich noch fliehen konnte.
Diese Brücke ist inzwischen vollständig gesprengt worden. Damals war es ein schockierendes Bild: mitten in Genua diese hohe Autobahnbrücke, die plötzlich zusammenbrach, weil sie nicht ordentlich gewartet wurde. Über Jahre hinweg hat man sich nicht um diese Brücke gekümmert. Man hat sie nicht gewartet und nicht instand gehalten. Dann kam es zu dieser Katastrophe.
Worauf ich hier hinauswill, ist Folgendes: Was passiert eigentlich, wenn eine Brücke nicht regelmäßig gewartet wird? Was passiert, wenn sie nicht instand gehalten und kontrolliert wird? Die Antwort lautet: Zunächst einmal passiert überhaupt nichts. Man kann diese Dinge sehr lange vernachlässigen, jahrelang ignorieren und dadurch enorm viel Geld sparen. Eine Brücke, die nicht gewartet, kontrolliert oder geprüft wird, ist zunächst sehr billig. Der Steuerzahler jubelt: super billige Brücke.
Das Einzige, was passiert, ist, dass das Risiko wächst, dass am Ende genau eine solche Katastrophe eintritt.
In der Jugendarbeit, in einer Gemeinde, einer Kirche oder in einem Menschenleben ist es genauso. Man kann die Arbeit am Fundament einstellen, das Lehren und Lernen des Glaubens sowie die biblische Lehre und den Tiefgang vernachlässigen. Auch dann passiert erst einmal nichts.
Früher habe ich oft gehört, als ich jung war: Wenn du keine stille Zeit machst, bekommst du Gicht, Rheuma oder Pusteln im Gesicht. Das seien unmittelbare Folgen für Gesundheit, Leben und Glück. Doch das stimmt nicht.
Wenn man aufhört, die Bibel zu lesen, wenn man aufhört, ein persönliches Verhältnis zu seinem Herrn zu pflegen, wenn man aufhört, im Glauben zu wachsen, passiert zunächst überhaupt nichts.
Wenn ein Jugendkreis aufhört, Bibelarbeiten zu machen, wenn eine Gemeinde aufhört, mit einem biblischen Fundament in der Lehre zu arbeiten, passiert erst einmal gar nichts. Es kann sogar billiger werden.
Man kann vielleicht sogar sehr tolle Gottesdienste feiern, die hip, trendy und smart sind – das kann richtig gut sein. Trotzdem passiert nichts.
So wie bei einem Christen passiert erst einmal gar nichts – keine Pusteln, kein Rheuma, keine Gicht. Ein Christ, ein Jugendkreis, eine Gemeinde oder eine Kirche kann weiterhin fromm oder sogar evangelistisch leben.
Aber das Risiko, dass irgendwann alles zusammenbricht, steigt enorm. Vor allem dann, wenn die Stürme kommen.
Die Gefahr des Glaubensverlusts durch fehlende Lehre
Wir gehen 1300 Jahre zurück in die Vergangenheit, ins siebte und achte Jahrhundert. Damals breitete sich der Islam über die vormals christlichen Kirchen und Gebiete in Nordafrika und Kleinasien, dem heutigen Gebiet der Türkei, aus. In Nordafrika gab es riesige christliche Kirchen. Dort, wo heute Marokko, Algerien, Libyen und Ägypten liegen, war einst ein großes christliches Kernland.
Das Abendland lag damals in Nordafrika und in der heutigen Türkei befanden sich die großen Zentren der christlichen Kirchen. Über diese Gebiete fegte der Sturm des Islam hinweg. Wenn man sich das vorstellt, denkt man vielleicht an große Kämpfe und tapfere Märtyrer. Doch das war in der Regel nicht so. Es gab kaum Widerstand. Viele Städte öffneten den islamischen Eroberern die Tore, weil die Menschen gar nicht mehr in der Lage waren zu unterscheiden, was ihr eigener Glaube war und was der Glaube der Eroberer.
Man wusste nicht mehr, was man selbst glaubte. Es fehlten die Grundlagen, und man konnte die Dinge nicht mehr klar voneinander abgrenzen. Die Kirchen, auf die der Islam traf, wussten oft nicht mehr, was der Inhalt ihres Glaubens war und was ihre Wurzeln waren. Diese hatten sie verleugnet und verloren.
Ich arbeite bei der Liebenzeller Mission. Die IHL wird von der Liebenzeller Mission getragen. Wir arbeiten seit über hundert Jahren in Papua-Neuguinea. Dort sind 97 Prozent der Bevölkerung Christen. Das ist eine beeindruckende Zahl. Doch es gibt auch Menschen, die sagen, in Papua-Neuguinea seien nur drei Prozent Christen. Man fragt sich dann: Sind es nun 97 oder drei Prozent? Das hängt von der Perspektive ab.
Einer unserer Missionare hat es einmal so zusammengefasst: Papua-Neuguinea, kurz PNG, sei „over evangelized and under taught“. Das lässt sich nicht leicht übersetzen. Es bedeutet, dass das Land über evangelisiert, aber unterlehrt ist. Es gibt zu viel Evangelisation, aber zu wenig Lehre.
Das ist ein Unterschied zu Europa. Europa wurde nicht evangelisiert, sondern christianisiert. Karl der Große führte mit dem Schwert die Christianisierung durch. Die Sachsen an der Aller standen vor der Wahl: Taufe oder Kopf ab. Das war damals ein starkes Argument, Christ zu werden.
In Papua-Neuguinea hingegen wurde zwar evangelisiert und die Menschen wurden zum Glauben gerufen. Viele bekehrten sich auch, aber häufig nur formal. Sie übernahmen das Evangelisationsvokabular komplett: „I'm born again“, „Jesus saved my life“. Doch wenn man genauer hinhört, merkt man, dass das oft nur angelernte Floskeln sind. Dahinter steckt wenig Substanz, es sind fromme Worte ohne tieferen Glauben.
Diese Floskeln werden häufig benutzt, ohne dass echte Lehre dahintersteht. Und irgendwann fehlt dann auch die Ethik. Der gleiche Jugendkreis, der noch ein frommes Scheinprogramm abzieht mit „I'm born again“, „Jesus saved my life“ und die bekannten Lieder singt – auf Englisch oder in der Landessprache – hat oft keine Hemmungen, in der gleichen Nacht den Supermarkt auszuräumen.
Das Eigentum anderer wird einfach als etwas betrachtet, was man sich nehmen kann. Es gibt kein festes Fundament. Deshalb stößt man unter der dünnen Schicht Christlichkeit schnell auf blanken Animismus und Geisterglauben.
Auch in Europa erleben wir zunehmend einen biblischen Analphabetismus. Nach 1500 Jahren verlässt das Evangelium unseren Kontinent wieder. Europa ist heute der säkularisierteste Kontinent der Welt. Wir sind nicht mehr das christliche Abendland, sondern das endchristlichste Abendland.
Die Menschen in Europa glauben nicht nur nicht mehr an Jesus Christus, sie wissen auch kaum noch etwas über die Grundlagen des Glaubens. Europa hat vergessen, was Gott bedeutet. Wir selbst wissen immer weniger darüber.
Herausforderungen und Chancen der modernen Glaubenspraxis
Liebe Schwestern und Brüder, darf ich einen wunden Punkt anschneiden?
Wir erleben heute eine große und begeisterte Lobreisbewegung, und ich bin sehr dankbar dafür. Mittlerweile habe ich verstanden und begriffen, dass das eine Form der Gottesbegegnung einer Generation ist, der ich nicht mehr angehöre. Es waren die Kollegen Tobias Feix und Tobias Kündler, die das in ihrem Buch über die Generation Lobreis eindrücklich unterstrichen haben.
Auf die Frage „Was stärkt deinen Glauben?“ antworteten 64 Prozent dieser Generation der 16- bis 29-Jährigen mit dem Hinweis auf christlichen Lobreismus, auf Worship. Das steckt ganz tief drin. Es ist das Oberste, was den Glauben stärkt und voranbringt. An zweiter Stelle stand das Gebet – großartig, eine Generation des Gebets. An dritter Stelle kam das Gespräch mit Freunden und Familie. Nummer vier waren christliche Freizeiten, Nummer fünf Predigten im Gottesdienst – und das ist die eigentliche Überraschung, weshalb ich das erzähle. Nummer sechs war Bibellesen.
Es geht mir nicht darum, diese Generation zu bashen oder schlecht zu machen. Im Gegenteil: Wenn Leute über 50 so reden, dann hat das immer so einen leicht angestrengten Beigeschmack – so nach dem Motto: „Das kann es doch nicht sein.“ Es geht mir auch nicht um eine nostalgische Verklärung der guten alten Gesangbuchlieder.
Liebe Leute, was in unseren Gesangbüchern gesammelt wurde, ist sozusagen das „Best of“, die Top 500 aus 1500 Jahren Kirchengeschichte. In 1500 Jahren Lied- und Kirchengeschichte wurde enorm viel Mist komponiert und gedichtet. Das ist sozusagen die Best-of-Auswahl aus diesen 1500 Jahren. Man muss auch sagen: Wir wissen nur nichts mehr vom Rest, sonst wären wir da auch barmherziger. Das ist ja alles aussortiert, das wissen wir gar nicht mehr.
Ich will auf einen Punkt aufmerksam machen: Bei 80 Prozent dieser Lieder muss man nicht an Jesus Christus glauben, wenn man sie singt. Wenn man ständig vor irgendeinem Thron eines Königs steht, dessen Identität man gar nicht so genau kennt und die auch nicht klar auf den Punkt gebracht wird, muss man nicht Christ sein. 80 Prozent dieser Lieder können locker auch Muslime singen – ohne Problem, ohne Probleme!
Wir lernen in diesen Liedern nur noch sehr wenig. Wir lernen nichts mehr über Jesus, über die Bedeutung der Menschwerdung, nichts über die Rechtfertigung, über den Zusammenhang von Glauben und Werken, über das Wesen der Gemeinde oder der Heiligen Schrift. Wir lernen nichts über die lebendige Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten. Wir stehen ständig vor dem Thron eines Königs, aber es wird nicht mehr erklärt, wer dieser König ist.
Früher merkte man den Unterschied, zum Beispiel in dem Lied „Wie tief muss Gottes Liebe sein“.
Nun kann man mit vollem Recht einwenden, dass es gar nicht die Aufgabe dieser Lieder ist, etwas zu lernen, sondern Gott anzubeten. Das ist vollkommen richtig. Nur wenn wir sonst auch nichts mehr lernen, woher kommt dann der Tiefgang, der uns vor den Kindern bewahrt?
Ich will noch auf etwas anderes aufmerksam machen: Eine immer größere Zahl dieser Lieder ist nicht mehr spezifisch christlich, sondern nur noch religiös. Sie können, wie gesagt, von allen religiösen Menschen gleich welcher Religion mitgesungen werden. Auch schön. Aber wenn der dominierende Inhalt christlicher Frömmigkeit und des christlichen Glaubens nicht mehr erkennbar wird, dann stehen wir irgendwann vor dem Problem der Vasa, dann stehen wir irgendwann vor dem Problem der Brücke von Genua.
Die Bedeutung der Lehre für den Glauben und das Leben
Deshalb schrieb Martin Luther 1545 an den Kurfürsten von Sachsen und an den Landgrafen von Hessen die berühmten Zeilen: Es ist mir alles, alles um die Lehre zu tun. Wo die Lehre recht ist, so ist alles recht – Glaube, Werke, Leben, Leiden usw. Wo die Lehre nicht recht ist, da ist alles umsonst, alles verloren und alles gänzlich verdammt.
Aus diesem Grund hat Martin Luther die Katechismen geschrieben. Katechismus – wer kennt das heute noch? Kleiner Katechismus, großer Katechismus – so eine Poulette, Poulette, alles kompakt zusammengebündelt des christlichen Glaubens. Die Konfirmanten müssen das heute manchmal auswendig lernen. Wohl dem Pfarrer, der das macht.
Was uns in der Regel nicht mehr vor Augen steht, ist der historische Anlass und der Hintergrund dieser Katechismen. Der konkrete Anlass, der Luther zur Abfassung der Katechismen bewog, war die Bedrohung durch die Türken, die damals vor Wien standen. Das Abendland war unter der unmittelbaren Bedrohung der osmanischen Expansionsbestrebungen unter Süleyman dem Prächtigen.
Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte sich die Welt für Luther und seine Zeitgenossen stark verändert. Wir befinden uns hier 70 Jahre nach der Eroberung von Konstantinopel, dem Zentrum des byzantinischen Reiches und der christlichen Welt damals, im Jahr 1453. 1521 wurde Belgrad erobert, 1522 fiel die Insel Rhodos, und 1529 standen diese türkischen Heere, diese osmanischen Heere, vor Wien.
Es war nicht ausgemacht, wie die Sache ausgehen würde. Es bestand die ganz reale historische Gefahr, dass weite Landstriche in Europa unter eine muslimische Herrschaft kommen könnten. Vor diesem Szenario schrieb Luther seine Katechismen. Diese mussten die Konfirmanden – damals gab es diesen Begriff noch nicht – bis heute auswendig lernen.
Für Luther war das eine Art geistliches, biblisches Vesperpaket, eine Art Proviant für den Weg, der möglicherweise eine Durststrecke, ein Leidensweg sein würde. Falls Europa überrannt würde, hätte man mit den Katechismen das Allernötigste im Gepäck, um geistlich zu überleben.
Wer vergisst, der vergeht. Das ist mein erster Punkt: Wo die Lehre vergessen wird, vergeht der Glaube. Wo die Lehre vergessen wird, vergeht der Glaube. Wer vergisst, der vergeht. Das ist auch durch Evangelisation nicht zu ersetzen.
Die Konsequenzen von fehlender Lehre und die Gefahr der Lüge
Meine zweite These: Wo die Lehre auszieht, da zieht die Lüge ein.
Wo die Lehre auszieht, zieht die Lüge ein. An dem Ort, an dem die Lehre verschwindet, bleibt kein leerer Raum zurück. Das verlassene Zimmer bleibt nicht unbesetzt, denn in unserer Welt sind viele Lehren auf Wohnungssuche.
Eine große Erkenntnis der Kommunikationsforschung ist, dass wir Menschen niemals nicht lernen. Wir lernen immer. Wenn wir in unseren Jugendkreisen, Gemeinden und Kirchen nicht mehr lehren, wenn wir keine Bibel lesen oder Bibelarbeiten machen, dann wird das nicht einfach niemand tun. Stattdessen werden es andere übernehmen. Die Kinder und Jugendlichen, die uns anvertraut sind, lernen dann nicht einfach nichts, sondern sie werden von anderen gelehrt.
Wir lernen immer und nehmen immer etwas auf. Wenn es nicht die Botschaft der Heiligen Schrift ist, dann sind es die Botschaften und Katechismen dieser Welt: die Botschaften der sozialen Netzwerke, die Musikcharts, der Katechismus von Hollywood und im Internet, der Katechismus der Computerspiele oder einfach der Katechismus der Straße.
Unsere Kinder und Jugendlichen und wir selbst lernen niemals nichts. Wenn wir nicht an den dreieinigen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, glauben, dann glauben wir automatisch an etwas anderes. Wir können niemals nichts glauben. Die Alternative zum Glauben ist nicht der Nichtglaube, sondern immer nur der Aberglaube. Etwas Drittes gibt es nicht.
In unserer Gegenwart bewahrheitet sich der berühmte Satz des britischen Dramatikers Gilbert Keith Chesterton: Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts, sondern an irgendetwas.
Und auch Paulus schreibt in seinen Briefen an Timotheus: Das Gegenteil der heilsamen Lehre sind die ausgeklügelten Fabeln. Etwas Drittes gibt es nicht. Wir Menschen haben nur die Wahl zwischen diesen zwei Alternativen: der heilsamen Lehre des Evangeliums beziehungsweise dem Wort der Wahrheit Gottes oder den ausgeklügelten Fabeln dieser Welt. Eine dritte Wahl haben wir nicht.
Im Zweiten Petrusbrief heißt es: Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, nicht den Märchenstunden dieser Welt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus, sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen (2. Petrus 1,16).
Wir sind in dieser Welt umgeben von Lehren und Dogmen, von Fabeln und Märchen, die unsere Seele erobern wollen. Sie sind auf Wohnungssuche. Sie wollen den verwaisten Leersaal unseres Lebens einnehmen und um unsere Nachfolge werben.
Wenn wir unser Leben nicht mit dem Evangelium füllen, dann bleibt kein Vakuum. Irgendetwas werden wir immer lernen, und irgendetwas werden wir immer glauben.
Das Gleichnis vom Garten und die Folgen von Vernachlässigung
Meine Familie und ich sind vor 13 Jahren in ein Haus gezogen, dessen Vorbewohnerin krank war und deshalb den Garten nicht mehr bewirtschaften konnte. Diese Erfahrung mit dem Garten ist für mich zu einem Gleichnis geworden.
In einem Garten, der nicht mehr bewirtschaftet wird, wächst nicht nichts. Alle Hobbygärtner werden verstehen, was ich meine. In einem solchen Garten wächst nicht nur nichts, sondern es wächst sogar sehr viel. Das Unkraut breitet sich aus. So ist es auch in der Gemeinde und in der Jugendarbeit: Wenn dort nicht gelehrt wird, wächst nicht nichts, sondern es gedeiht das Unkraut.
Ein anderes Bild: Ich war in den Achtzigerjahren in Stuttgart auf der Schule, in Stuttgart-West. Damals war die große Hausbesetzerbewegung im Gange. Die Jüngeren wissen das vielleicht nicht mehr, deshalb muss ich es kurz erklären. Es gab viele Investitionsobjekte, große, schöne Häuser, die leer standen. Dann entstanden Hausbesetzer-Szenen.
Ich hatte einen Klassenkameraden, der saß zwei Plätze neben mir und war voll in dieser Szene drin. Ich war bestens informiert, welche Häuser gerade wieder besetzt wurden. Er zog mit einer Truppe von Autonomen in so ein Haus ein, besetzte es kurzerhand und gründete eine autonome WG.
Das ist für mich auch ein Bild geworden: Wenn wir das Haus unseres Lebens lehrtechnisch leerstehen lassen, dann kommen die Hausbesetzer. Es wird nicht leer bleiben. Dann ziehen die Hausbesetzer ein und es werden ganz andere Geister und Lehren in das Haus unseres Lebens einziehen.
Deshalb noch einmal Martin Luther: „Mir ist alles um die Lehre zu tun. Wo die Lehre recht ist, ist alles recht: Glaube, Werke, Leben, Leiden. Wo die Lehre nicht recht ist, da ist alles umsonst, alles verloren, alles gänzlich verdammt.“ Es kommen immer andere – kein Thema.
Die Kraft der Lehre in Krisenzeiten
Ein drittes und letztes: Wo die Lehre stimmt, überleben wir auch die Krisen.
Der Wert der Lehre in unserem Leben, im Jugendkreis, in einer Gemeinde oder in einer Kirche fällt in der Regel im ersten Moment nicht auf. Leider fällt er auch in vielen weiteren Momenten nicht auf. Über viele Jahre hinweg scheint es keinen Unterschied zu machen, ob Lehre und Theologie, ob Fundament und Tiefgang vorhanden sind oder nicht.
Wie gesagt, wenn wir heute aufhören mit Bibelarbeiten, Lehreinheiten und Andachten, wird erst einmal gar nichts passieren – null, kein Problem. Es wird lange Zeit nichts passieren. Der Unterschied wird vermutlich erst nach sehr langer Zeit deutlich werden, nämlich dann, wenn die Krisen kommen.
Viele der Älteren werden sich noch an den Orkan Lothar erinnern. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 fegte Orkan Lothar über Südwestdeutschland, über Süddeutschland, die Schweiz und Frankreich. Es hat kräftig geblasen. Ich stand an unserem großen Fenster und dachte, ich muss dagegen drücken, damit das Glas nicht reinhaut.
Hunderttausende, wahrscheinlich Millionen von Bäumen hat es damals umgeknickt. Die meisten, die es damals umgehauen hat, waren Flachwurzler. Diese Bäume konnten über viele tausend Tage, sogar über Jahre und Jahrzehnte mit flachen Wurzeln leben – problemlos. Jahrzehnte mit flachen Wurzeln, sogar eine erstaunlich enorme Größe entfalten.
Aber an diesem einen Tag, dem 26. Dezember 1999, als Windböen mit 200 Stundenkilometern über Süddeutschland hinwegfegten, war es vorbei mit den flachen Wurzeln – und vorbei mit dem ganzen Baum. Da wäre es gut gewesen, tiefere Wurzeln zu haben.
Die Killerfrage bei andachtenden Bibelarbeiten ist ja häufig: Was bringt mir das? Die klassische „Was bringt mir das?“-Frage. Und es ist für theologische Lehre enorm schwer zu erklären, was der unmittelbare Effekt von Tiefgang ist.
Es ist sehr schwer zu erklären, dass das Leben nicht explodiert, wenn man eine Bibelarbeit gehört hat. Das Leben explodiert auch nicht – liebe Anfänger, sorry, wenn ich euch hier den Punch etwas nehme. Es wird nicht explodieren, wenn ihr ein halbes Jahr hier auf dem BSK seid, auch nicht nach drei Jahren.
Das Leben explodiert nicht schlagartig. Man wird nicht schlagartig rasend glücklich und doppelt so fromm oder irgendwie sonst was. Nein, das ist alles nicht der Fall.
Biblische Lehre und Tiefgang haben keinen unmittelbaren Effekt, den man schon am nächsten Tag spüren und sehen kann. Man wacht nicht auf und denkt: „Ah, ich bin jetzt eine Woche am BSK, ich spüre schon ganz anders, bin ein ganz toller Mensch.“ Nein.
Der Effekt dessen, was ihr hier lernt, wird man spüren, wenn Orkan Lothar bläst.
Man kann die Frage auch umgekehrt stellen: Was hätte es der Vasa gebracht, wenn man anstatt der vielen Kanonen und Statuen über der Wasserlinie mehr Gewicht im Schiffsbauch untergebracht hätte? Die Antwort ist: Die Vasa hätte ihren Zweck erfüllt. Sie wäre wirklich ein Kriegsschiff gewesen und hätte etwas gebracht in diesem Krieg.
Oder: Was hätte es der Brücke in Genua gebracht, wenn man sie besser gewartet und öfter renoviert hätte? Es hätte viel gebracht. Es wären viele Menschen nicht gestorben und am Leben geblieben.
Was hätte es den Bäumen beim Sturm Lothar gebracht, wenn sie tiefere Wurzeln gehabt hätten? Wurzeln, die man von außen nicht sehen kann, Wurzeln, die wir nie bewundern werden, wenn wir durch den Wald laufen, weil wir immer nur das sehen, was über dem Boden ist.
Man kann über viele Jahre und Jahrzehnte mit flachen Wurzeln leben und sogar eine erstaunliche Größe erreichen. Aber wenn der Sturm kommt, dann bringt es etwas, wenn man Tiefgang hat. Wenn man Wurzeln hat, dann bringt das nicht nur einem selbst etwas, sondern auch einem Jugendkreis, einer Gemeinde, einer Kirche und der ganzen Christenheit.
An stürmischen Tagen, in den Krisen des Lebens, da macht Tiefgang den Unterschied.
Bitte nehmen Sie, bitte nehmt die drei Botschaften mit:
Wo die Lehre vergessen wird, vergeht der Glaube. Wer vergisst, der vergeht.
Wo die Leere auszieht, zieht die Lüge ein. Ein Haus bleibt nicht leer. In einem Garten, der nicht bewirtschaftet wird, wächst nicht nichts.
Wo die Lehre stimmt, da überleben wir auch die Krisen.
Vielen Dank fürs Zuhören. Amen.