Einführung in das Thema: Neue Impulse für Gemeinden?
Wir wollen mit unserem Thema „Emerging Church“ beginnen. Mir wurde der Auftrag erteilt, über neues Leben für Gemeinden zu sprechen.
Vor einigen Tagen – wobei „vor einigen Jahren“ etwas übertrieben wäre – brach der Kanadier Jordan Axani zu einer faszinierenden Weltreise auf. Kurz vor Weihnachten reiste er von New York über Mailand und Prag bis nach Neu-Delhi.
Jordan hatte sich bereits im Frühling die beiden Flugtickets gekauft, also gebucht und bezahlt – eines auf seinen eigenen Namen und eines auf den Namen seiner Freundin Elisabeth Gerger. Doch einige Wochen vor Reiseantritt passierte das Unglück: Die Dame verließ ihn und ließ ihn auf ihrem Ticket sitzen.
Ganz allein wollte Jordan Axani jedoch nicht reisen. Sie wissen ja, ein Flugticket ist nicht einfach übertragbar, und das kostet oft Unsummen – besonders bei einem Weltreiseticket. Also startete er eine ungewöhnliche Aktion im Internet: Er verschenkte das Ticket für die Weltreise, mit der einzigen Bedingung, dass die Frau den gleichen Namen haben müsse wie seine Ex-Freundin, also Elisabeth Gallagher.
Sie werden staunen: Tatsächlich meldeten sich achtzehn Kanadierinnen mit dem Namen Elisabeth Gallagher. Einige versuchten sogar, kurzfristig ihren Namen ändern zu lassen, was jedoch nicht gelang. Schließlich durfte eine der achtzehn Elisabeth Gallaghers mit ihm reisen.
Hauptsache, der Name stimmte. Jordan erklärte gegenüber der Presse, die Reise sei natürlich rein platonisch. Die Hotelkette Marriott reagierte schnell und sponserte für beide getrennte Hotelzimmer an allen Reisezielen. So wurde die Aktion auch werbetechnisch begleitet.
Inzwischen ist Jordan Axani mit dieser anderen Elisabeth Gallagher unterwegs. Ein und derselbe Name, aber zwei völlig verschiedene Personen. Kein Ticketkontrolleur in Neu-Delhi, Prag oder Mailand kann mehr unterscheiden, wer die ursprüngliche Elisabeth Gallagher ist und wer die neue.
Das wirft eine philosophisch interessante Frage auf: Wer ist die wahre Elisabeth Gallagher? Für mich ist es auch eine spannende Vorstellung, wenn sich die beiden Elisabeth Gallaghers einmal begegnen würden.
Diese Frage führt uns zu dem Thema, das uns heute Abend zusammenführt. Es geht um Identität. Was ist die wahre Gemeinde? Wer ist es wirklich? Was macht die Identität der Gemeinde Jesu Christi aus? Wer gehört wirklich dazu? Worin liegt ihre wahre Bestimmung? Und was unterscheidet die Gemeinde Jesu von der Welt?
Nicht überall, wo „Gemeinde“ draufsteht, ist auch wirklich Gemeinde drin – das wissen wir. Die entscheidende Frage lautet: Was ist Gemeinde wirklich, und was ist ihr Auftrag?
Die Diagnose der Emerging Church: Gemeinde in der Krise
Seit einigen Jahren breitet sich auch bei uns eine bestimmte Vorstellung von Gemeinde aus, die genau diesen Anspruch vertritt. Sie sagt: Wir wollen die Identität und das Selbstverständnis von Gemeinde neu bestimmen.
Diese Sichtweise verbindet sich mit einer Diagnose. Sie besagt, dass die Gemeinde Jesu, von Ausnahmen abgesehen, in weiten Teilen ihr eigentliches Wesen und ihren eigentlichen Auftrag vergessen oder verzerrt hat. Die Gemeinde dreht sich weitgehend nur um sich selbst und ist dabei müde und wirkungslos geworden.
Diese Bewegung, so heißt es, will die Gemeinde zu ihrer wahren Bestimmung zurückführen und neues Leben für Gemeinden bringen. Wenn wir das wollen, wenn wir die Gemeinde zu ihrer wahren Bestimmung führen wollen, dann müssen wir sie ganz neu in die Zeit hineinstellen. Die Gemeinde muss sich noch viel mehr auf ihr geistiges und gesellschaftliches Umfeld einlassen, als sie das bisher getan hat. Sie muss noch viel weiter in die Welt hineingehen.
Die Bewegung, die diese Sichtweise vertritt, hat das Ziel, viele bestehende Gemeinden zu erreichen, zu verändern und ihnen, so wie man es sich vorstellt, neues Leben zu vermitteln. Dazu wurde ein weites Feld an Literatur veröffentlicht. Es werden Konferenzen durchgeführt, und teilweise gibt es eine intensive theologische Ausbildung, um dieses Gedankengut zu multiplizieren.
Diese Sichtweise tritt unter dem Begriff Emerging Church auf. Eng verwandt damit sind weitere Stichwörter, die Sie vielleicht schon gehört haben, wie missionale Theologie – nicht missionarische Theologie, sondern missionale Theologie – oder Transformationskonzept.
Wichtige Impulse für diese Bewegung kamen aus den USA, aber auch in Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine emergente Szene herausgebildet. Das Schwierige ist, dass uns diese Szene nicht als ein einheitliches Konzept entgegentritt. Das macht es kompliziert, sich auf Dauer mit dieser Szene zu beschäftigen.
Das heißt: Nicht jeder, der im weitesten Sinne zu dieser Plattform gehört, vertritt an allen Punkten die gleiche Position. Das muss man immer differenziert dazusagen. Es kann leicht passieren, dass jemand sagt: Nein, an dieser Stelle stimme ich nicht zu, ich bin an diesem einen Punkt anderer Meinung als der und der.
Man versteht sich als eine Plattform, auch als eine große Diskussionsplattform, will aber auch gemeinsam in die Gemeinden hineinwirken. Trotz aller Vielfalt und Kompliziertheit lassen sich bestimmte Tendenzen herauskristallisieren und bestimmte Koordinaten bestimmen, die das Wesen dieser Bewegung gut beschreiben.
Jede Gemeinde und jeder Christ ist herausgefordert, zu klären, wie wir uns dazu stellen sollen. Denn Dinge, zu denen wir uns nicht bewusst stellen, beeinflussen uns früher oder später, ohne dass wir es merken.
Jede Gemeindeleitung, jeder Mitarbeiter, aber auch jeder einzelne Christ muss sich die Frage stellen: Was ist das? Kommt hier neues Leben in die Gemeinden? Sollen wir das reinlassen? Sollen wir uns dafür öffnen? Wie sollen wir uns dazu verhalten?
Mein Vortrag heute Abend will den Versuch machen, einige Schneisen durch dieses weite Feld zu schlagen und eine Hilfestellung zu leisten, um diese Bewegung und diese Sichtweise im Licht der Bibel zu beurteilen.
Begriffsklärung: Was bedeutet Emerging Church?
Wie? Was ist Emerging Church, und woher stammt eigentlich der Begriff?
Der Begriff begegnet auch in der Naturwissenschaft sowie in der Sozialforschung. Was sind emergente Systeme?
Emergente Systeme sind komplexe Organismen, die sich positiv entwickeln, wenn sie miteinander auf ihre Umwelt reagieren. Das heißt, komplexe Organismen reagieren gemeinsam auf Einflüsse aus der Umwelt. Dabei entsteht eine Art Dialog. Sie passen sich veränderten Bedingungen an. Für diesen Prozess gibt es keine normativen Vorgaben.
Es gibt also keine feste inhaltliche Bestimmung, in welchem Rahmen dieser Prozess verläuft oder zu welchen Ergebnissen er führt. Man spricht von einer radikalen Offenheit. Es wird mit einer Entwicklung gerechnet, die keine letztgültigen Normen oder absoluten Vorgaben duldet. Stattdessen geht es um ein Reagieren auf bestimmte Einflüsse, die von außen dazukommen.
In dieser gemeinsamen Reaktion entsteht etwas Neues. „Emergent“ beziehungsweise „emerging“ bedeutet heraufkommend, neu entstehend.
In diesem Sinne versteht sich die Emerging Church als etwas Neuheraufkommendes, Neuentstehendes. Sie reagiert im Zusammenspiel mit dem geistigen und gesellschaftlichen Umfeld. Hierbei spielt besonders das eine Rolle, was wir als postmoderne Gesellschaft bezeichnen. Diese prägt unser Denken weitgehend.
Die Postmoderne ist geprägt vom totalen Relativismus: Es kann keine absolute Wahrheit geben. Menschen lassen sich nicht mehr von festen Systemen oder klaren inhaltlichen Lehren faszinieren. Stattdessen geht es vor allem darum, Spiritualität zu erleben, etwas zu erfahren.
Es geht darum, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen und darin neue Horizonte für sich zu erschließen. Emerging Church ist also etwas, das bewusst auf diesen offenen Prozess setzt. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, werden wir gleich noch sehen.
Die Diagnose der Emerging Church im Detail: Kritik an der evangelikalen Bewegung
Diese Bewegung setzt unter anderem bei einer Diagnose an, und ich möchte mich heute Abend auf einen Aspekt dieser Diagnose konzentrieren. Ein Vordenker der Emerging Church in Deutschland hat diese Diagnose folgendermaßen formuliert: Er fordert eine nachhaltige Veränderung des Kurses der Evangelikalen.
Die emergente Bewegung versteht sich als eine Bewegung, die ursprünglich aus der evangelikalen Bewegung hervorgeht, sich aber nur noch bedingt mit ihr verbunden fühlt. Gleichzeitig stellt sie eine radikale Kritik an dieser evangelikalen Bewegung dar. Einerseits sehen sie sich als Evangelikale, andererseits wollen sie mit bestimmten evangelikalen Grundüberzeugungen brechen. Das werden wir im Laufe des Abends noch näher betrachten.
Die Diagnose lautet folgendermaßen: Wir dürfen in Zukunft nicht mehr damit rechnen, dass die entscheidenden geistlichen Impulse durch die Verkündigung der biblischen Wahrheit geschehen. Das sei ein grundlegender Irrtum. Man habe immer zu viel von der Wirkung und der Wichtigkeit der Verkündigung gehalten.
Derjenige, der diese Diagnose für viele andere so formuliert hat, ist Professor Johannes Reimer. Reimer sagt, dieses Missverständnis sei dadurch entstanden, dass man den Missionsbegriff völlig falsch gedeutet habe. Er fordert den Mut, dies zu sagen: Wir haben versagt. Die evangelikale Bewegung scheint in einer Krise zu stecken, die in einem einseitigen und damit falschen Verständnis der Mission wurzelt.
Worin liegt das Falsche? Reimer zufolge habe man in der Vergangenheit zu einseitig auf evangelistische Verkündigung gesetzt, und das sei ein Fehler gewesen. Einer seiner Schüler, Tobias Feix, der bei ihm promoviert hat, bekräftigt diese Behauptung im Interview mit Ideas Spectrum. Feix wurde zu Reimers Behauptung befragt, dass die Evangelikalen zu sehr auf evangelistische Verkündigung gesetzt hätten. Er bestätigte dies und sagte: Ja, einer der Gründe für die derzeitige Krise ist die einseitige Betonung der Verkündigung.
Laut Reimer und Feix leidet die evangelikale Welt nicht an zu wenig Verkündigung, auch nicht an zu oberflächlicher Verkündigung, sondern an einem Überfluss an Verkündigung. Es handelt sich um eine falsche Gewichtung der Verkündigung, eine zu starke Bewertung und Erwartung gegenüber der Verkündigung.
Diesen Zustand wollen sie nun verändern und die Wortverkündigung aus dem Zentrum der Mission verdrängen. Dazu ist es erforderlich, grundlegende evangelikale Überzeugungen, die in bibeltreuen Kreisen eigentlich als selbstverständlich gelten – wir werden das noch sehen – in Frage zu stellen, aufzuweichen und nachhaltig zu verändern.
Anlässlich der Eröffnung des Studiengangs Gesellschaftstransformation am Marburger Bildungs- und Studienzentrum, das von Tobias Feix geleitet wird, hat Professor Johannes Reimer Folgendes gesagt:
„Der Missionsbefehl ist keine Aufforderung zur Proklamation des Evangeliums, sondern zur Transformation, also zur Verwandlung des Denkens und als Folge davon des Lebens.“
Nochmal: Der Missionsbefehl sei nicht in erster Linie eine Aufforderung zur Proklamation, also zur Verkündigung des Evangeliums, sondern zur Transformation, zur Verwandlung des Denkens und als Folge davon des Lebens.
In einem Interview forderte Reimer deshalb einen Paradigmenwechsel. Was ist ein Paradigmenwechsel? Ein Paradigmenwechsel ist eine grundlegende Neuausrichtung, die die Fundamente total verändert. Es handelt sich um eine geistige Revolution, eine inhaltliche Totalumkehr.
Genau das fordert Reimer von uns, fordert er von den Evangelikalen. Er sagt weiter: „Freilich wird die Erneuerung einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Bewusstsein der Verantwortlichen voraussetzen, und dafür sehe ich bereits deutliche Zeichen an der Wand.“
Einige der Zitate, die ich heute nenne – deswegen kann ich mich da relativ kurz fassen – finden Sie in dem Buch, das wir vor einigen Monaten als Malachi-Kreis miteinander herausgegeben haben. Es heißt „Verführung auf leisen Sohlen – die zersetzende Wirkung der Emerging Church“.
Darin finden Sie Beiträge von Benedikt Peters, Georg Walter, Johannes Pflaum und auch von mir. Hier sind auch die entscheidenden Literaturquellen ausführlich dokumentiert. Wer sich intensiver damit befassen und einzelne Punkte noch einmal nachlesen möchte, dem kann ich dieses Büchlein empfehlen. Es ist nicht übermäßig lang, hat nur 135 Seiten, bietet aber viele Literaturhinweise und Anmerkungen, die Ihnen helfen, die Frage weiter zu studieren.
Es geht also um eine grundlegende Veränderung, das ist das Ziel, und um eine Abschaffung der Vorrangstellung der Verkündigung – nicht nur in der Gemeindearbeit als Ganzes, sondern auch in der Mission. Man will das Denken in den Gemeinden umprägen und strebt einen Paradigmenwechsel an, wie Reimer das nennt.
Eine wichtige Waffe im Kampf um das Denken der Zeitgenossen – und wir dürfen das nicht unterschätzen – ist die Prägung und Besetzung von Wörtern und Begriffen. Beim Denken geht es nicht einfach nur um Spielereien am grünen Tisch, sondern unser Denken bestimmt maßgeblich unser Handeln: wie wir denken, was wir für richtig halten und wovon wir überzeugt sind. Das prägt uns in der Art und Weise, wie wir unser Leben praktisch gestalten und wie wir unsere Gemeinden gestalten.
Für das Denken ist entscheidend, mit welchen Begriffen wir denken und wie wir bestimmte Worte und Begriffe füllen. Deshalb ist eine wichtige Waffe im Kampf um das Denken der Zeitgenossen die Prägung und Besetzung von Wörtern und Begriffen. Wir müssen immer wissen: Wörter sind Träger von Gedanken, die Herzen verändern können. Ich sage das noch einmal: Wörter sind Träger von Gedanken, die Herzen verändern können. Das gilt nicht nur in der Theologie.
Der Staatsrechtler Helmut Quaritsch, ein berühmter deutscher Staatsrechtler, hat diesen Sachverhalt einmal so ausgedrückt: „Im Kampf der Geister ist die Besetzung eines Begriffs so wichtig wie im Krieg die Eroberung einer Festung.“
In diesem Sinne hat auch die missionarische Bewegung versucht, bestimmte Schlüsselwörter zu prägen und zu füllen. Ich nenne Ihnen einige dieser Schlüsselwörter:
Narrativ – das heißt erst einmal nur, erzählend vorzugehen. Narrativ bekommt dann eine spezielle Füllung, wenn man sagt, es geht nicht in erster Linie darum, dogmatische Lehre zu vermitteln, inhaltlich klare Linien zu ziehen und Wahrheit gültig zu beschreiben. Stattdessen geht es darum, dass wir uns unsere Glaubensgeschichten erzählen. Indem wir aneinander teilhaben an unseren Glaubensgeschichten, entdecken wir die Wahrheit.
Ganzheitlich ist ein wichtiges Stichwort.
Transformation, also Umwandlung – der Begriff kommt eigentlich aus einem ganz anderen geistigen Kontext, eher aus der Esoterik.
Kontextualisierung – darauf werden wir später auch noch einmal kurz zurückkommen.
Integrierte Spiritualität.
Evangelium leben – also nicht in erster Linie das Evangelium verkündigen, sondern das Evangelium leben.
Inkarnatorisch – das hängt eng mit Weihnachten zusammen. Inkarnation ist ja die Menschwerdung Gottes, dadurch dass er in Christus Mensch wird. Diesen Begriff hat man aufgenommen und versucht, ihn auf die Gemeinde zu übertragen. Auch das werden wir noch sehen.
Schließlich missional – missional in Abgrenzung gegenüber dem Begriff missionarisch. Wenn wir das hören, denken wir ja, missional und missionarisch seien eigentlich das Gleiche. Das ist es aber nicht, und wir werden auch noch sehen, warum.
Dies sind nur einige Beispiele für Begriffe, die im Konzept der Emerging Church immer wieder auftauchen.
Damit Sie das einordnen können, nenne ich Ihnen jetzt auch einige wichtige Vertreter der Emerging Church. Verstehen Sie das bitte richtig: Das ist hier keine schwarze Liste. Diese Liste ist auch nicht vollständig. Es ist einfach wichtig, dass wir verstehen, wo jemand sich selbst verortet und in welchem Zusammenhang er publiziert und auftritt.
Sie könnten eine schwarze Liste etwa der Mitglieder des Malachi-Kreises aufstellen. Dort würden Martin Vedder, Wolfgang Bühne, Johannes Pflaum, ich und einige andere stehen. Das sind wichtige Vertreter der Emerging Church-Bewegung.
Weitere Vertreter sind Johannes Reimer, Tobias Feix, Thomas Weissenborn, Roland Hartmeier, Fabian Vogt, Christina Brudereck, Peter Aschow und viele andere.
Wichtige Impulse hat die deutsche Bewegung, wie so oft, von Vertretern aus den USA empfangen, die dieses Gedankengut bereits vorbereitet und viele Impulse gesetzt haben. Dazu gehören Brian McLaren, Rob Bell – von Rob Bell ist vor einiger Zeit im Brunnen Verlag das bekannte Buch „Das letzte Wort hat die Liebe“ erschienen (der englische Originaltitel lautete „Love Wins“). Dieses Buch wurde eine Zeit lang ziemlich heftig diskutiert.
Weitere Vertreter sind Dallas Willard, Tony Jones, Dan Kimball, Irvin McManus (er hat noch einen Bruder, Ralph McManus), Scott McKnight, Ken Wilber und viele andere mehr.
So haben Sie zumindest einige Namen und Begriffe aus diesem Zusammenhang gehört.
Die Therapie der Emerging Church: Neue Sichtweisen auf Gemeinde und Verkündigung
Und jetzt kommen wir schon zu unserem zweiten Punkt. Mehr als zwei Punkte wird es nicht geben, so viel sei zum Trost gesagt. Allerdings sollten Sie sich nicht zu früh freuen. Dieser zweite Punkt hat vier Unterpunkte. Aber immerhin sind wir schon beim zweiten Punkt.
Nach der Diagnose, die ich jetzt sehr kurz gefasst dargestellt habe – weil wir ja heute Abend irgendwann noch abschließen wollen – fragen wir jetzt: Was ist die Therapie, die diese Emerging Church Bewegung vorschlägt? Wie gesagt, die einzelnen dargestellten Personen setzen zum Teil unterschiedliche Schwerpunkte und Akzente. Dennoch gibt es das, was ich die Therapie der Emerging Church Bewegung nennen würde. Wir werden sehen, dass es dabei um ein neues Verständnis von Gemeinde und Verkündigung geht. Die Frage ist, ob dieses neue Verständnis von Gemeinde und Verkündigung auch neues Leben für Gemeinde und Verkündigung bewirkt.
Also arbeiten wir uns jetzt durch dieses zweite Kapitel hindurch: die Therapie der Emerging Church. Und da kommen wir zum ersten Punkt: Die Therapie der Emerging Church verändert das Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung.
Wir wollen ja nicht einfach nur versuchen, einzelne Zitate aneinanderzukleben, sondern das Denken verstehen, das hinter dieser Bewegung steht. Darum geht es ja. Und das Erste, was wir dabei sehen, ist, dass die Emerging Church das Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung grundlegend verändert.
Was ist das klassische neutestamentliche Verständnis? Die Quellen sagen uns Folgendes: Die Bibel ist die objektive Quelle der Wahrheit. Sie gibt uns vor, was wir zu lehren und zu verkündigen haben. Die Bibel zeigt uns auch die Linien der Anwendung dieser grundlegenden Wahrheiten. Es ist unsere Aufgabe, dies zu studieren, zu verstehen, zu glauben und für uns persönlich anzunehmen. Dann sollen wir es weitergeben, so getreu wie möglich ausrichten und auf die aktuelle Situation in dieser Welt anwenden.
Von der Bibel her haben wir also eine objektive Vorgabe. Sie sagt uns die Wahrheit. Sie ist absolut verlässlich, irrtumslos und völlig zuverlässig. Sie kann uns auch klare Informationen geben, sodass wir sie verstehen können.
Die postmoderne Sprachphilosophie hat grundsätzlich in Zweifel gezogen, ob man mit Begriffen überhaupt klare Inhalte kommunizieren kann. Oder ob wir im Grunde genommen alle auch einfach lalala und Dudududidei singen könnten, weil am Ende doch jeder für sich das herauspickt, was er von seiner Voraussetzung und seiner Erziehung her meint.
Die Bibel sagt dazu ganz klar Nein: Es gibt die Möglichkeit, mit Sprache Inhalte ganz klar weiterzugeben. Das ist unser Auftrag. Die Bibel ist die Quelle. Hier redet der allmächtige Gott zu uns und sagt uns, wie wir zu predigen, zu urteilen und zu leben haben.
Das Emerging Church Verständnis verändert dieses Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung. Dort wird gelehrt: Nein, es gibt keinen objektiven Maßstab für ewig gültige Wahrheit. Den gibt es in dieser Weise nicht.
Ein Begriff, den man für übergeordnete Wahrheit dann verwendet, ist der Begriff der sogenannten Metaerzählung. Das heißt: ein Gesamtkonzept, das ein zusammenhängendes Weltbild beschreibt, in dem wir all die einzelnen Beobachtungen unterbringen können. Die Bibel gibt uns eine solche Metaerzählung.
Die postmoderne Philosophie will das verbieten. Und die Emerging Church unterwirft sich diesem postmodernen Verbot.
Ich will Ihnen ein Zitat von Mike Bischoff vorlesen, einem Vertreter dieser Bewegung. Er sagt:
„Ein Merkmal, das im Zusammenhang mit Pluralität steht, möchte ich einmal eine Theologie der offenen Systeme nennen. Viele postmoderne Denker haben die Idee einer sogenannten Metaerzählung abgelehnt. Dieser Gedanke kann nämlich Furcht und Unsicherheit auslösen, trifft aber meines Erachtens den Kern des biblischen Selbstverständnisses, denn die Größe und Fülle der biblischen Botschaft lässt sich nicht in ein geschlossenes System zwingen.“
Das klingt sehr fromm, aber es wird sehr trickreich mit einem einzigen Wort verändert. Wir sagen nirgendwo, dass die Bibel ein geschlossenes System bietet, das wir erkennen können. Aber die Bibel bietet uns ein System von Wahrheit.
Mike Bischoff lehnt das System als Ganzes ab und macht diese Ablehnung etwas frommer klingen, indem er sagt, wir lehnen ein geschlossenes System ab. Ja, ein geschlossenes System, das wir Menschen bis ins Letzte vollständig ergründen könnten, lehnen wir auch ab.
Aber die Bibel bietet uns ein System, eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte. Sie erklärt uns unser Leben, warum wir Sünder sind, dass wir uns einem Schöpfer verdanken. Sie erklärt, wie die Sünde in die Welt gekommen ist, was Gott getan hat, um uns von den Folgen der Sünde zu erlösen, und wie Gott die Geschichte zum Ziel führen wird durch die Wiederkunft Jesu.
Die Bibel gibt uns ein System, eine biblische Weltanschauung, auch wenn die Postmoderne das nicht wahrhaben will. Aber die Emerging Church sagt: Nein, so etwas können wir den Leuten heute in dieser Weise nicht mehr zumuten. Damit unterwirft sie sich im Grunde genommen dem postmodernen Systemdiktat.
Fabian Vogt sagt das an einer anderen Stelle:
In der Emerging Church wird es in erster Linie um Erfahrungen gehen. Menschen werden sich über ihren Glauben austauschen. Es geht dann nicht oder weniger um die Erinnerung an bestimmte Dogmen und Lehren, sondern um den Austausch von individuellen Kenntnissen, Lebensumständen und Gottesbildern.
Es geht also darum, dass wir miteinander sprechen, uns unsere Vorstellungen mitteilen. Auf diesem Wege vollzieht sich dann die eigentliche Verkündigung.
An anderer Stelle sagt Fabian Vogt:
Da es in der Emerging Church um die Relevanz der Kirche in einer sich rapide verändernden Gesellschaft geht, also um die Verbundenheit der Gemeinde mit ihrer Umwelt, trifft in ihr biblische Exegese immer auf die kulturelle Exegese.
Das ist zunächst einmal richtig. Wir legen die Bibel aus und wir legen unsere Zeit aus. Wir versuchen, unsere Gesellschaft zu verstehen.
Aber welche Schlussfolgerung zieht Fabian Vogt daraus? Ich lese weiter:
Wer die Kirche des einundzwanzigsten Jahrhunderts mitentwickeln will, muss beides tun: die Bibel verstehen, auslegen und interpretieren – und die Welt verstehen, auslegen und interpretieren.
Das ist ja auch noch richtig. Aber jetzt kommt es:
Emergente Systeme können nur überleben, wenn sie im ständigen Austausch mit ihrer Umwelt sind. Und das geht nur durch radikale Offenheit.
Das ist der Punkt. Das heißt, es geht um eine gleichberechtigte Mitsprache von Bibel und Kultur. Wir dürfen nicht die Kultur bevormunden. Wir dürfen nicht von der Bibel herkommen und sagen, bestimmte Dinge sind Sünde und andere nicht.
Sondern wir müssen die biblische Position ins Gespräch bringen mit der aktuellen Kultur, und dann werden sie miteinander agieren.
Erinnern Sie sich an die Definition von Anfang: emergente Systeme – aber radikale Offenheit.
Was gibt es nicht? Es gibt keine hierarchische Zuordnung von Bibel und Kultur. Es ist nicht so, dass die Bibel uns sagen dürfte, was gilt. Die Bibel ist ein Gesprächspartner, ein geachteter Gesprächspartner, aber sie gibt uns nicht Gottes autoritative Wahrheit vor. Sie darf uns nicht sagen, was gilt. Die Bibel darf nicht die Kultur beurteilen, sondern sie ist ein Gesprächspartner, und sie muss in diesen Prozess hineingegeben werden.
In diesem Prozess gibt es keine verbindliche letzte Wahrheit. Die bleibt immer offen.
Noch einmal ein Zitat von Fabian Vogt:
Emergente Systeme fragen nicht nach einer ewig gültigen Wahrheit, sondern nach der Wahrheit einer bestimmten Situation.
Nehmen wir ein krasses Beispiel: die Frage der praktizierten Homosexualität.
Wenn wir diesen Satz von Fabian Vogt darauf anwenden, heißt das: Wir emergente Systeme fragen nicht danach, ob Homosexualität Sünde ist oder nicht. Es gibt keine ewig gültige Wahrheit darüber, wie Gott sich die Schöpfungsordnung gedacht hat, wie er sie konzipiert hat. Sondern es gibt nur die Wahrheit einer bestimmten Situation.
Deswegen müssen wir in jeder Situation neu fragen, was gilt und was nicht.
Das heißt, die Bibel darf keine verbindlichen Vorgaben machen, weder darüber, was wir zu glauben haben, noch darüber, wie wir leben sollen.
Sondern es geht um radikale Offenheit. Es gibt keine ewig gültige Wahrheit in diesem freien Spiel, sondern es gibt dieses emergente Reaktionsfeld.
Und es ist das Ziel, möglichst viele Gemeinden in dieses emergente Reaktionsfeld mit hineinzuziehen.
Die Herausforderung der Kultur: Wahrnehmung und Einfluss
An dieser Stelle müssen wir eine Unterscheidung treffen, die in der ganzen Diskussion oft übersehen wird.
Was wir brauchen, ist eine genaue Wahrnehmung unserer Kultur. Ich denke, dass bei vielen Gemeinden tatsächlich ein Defizit in diesem Bereich besteht. Wir müssen sehr genau analysieren, was im Denken unserer Zeit um uns herum passiert, was in der Kunst geschieht, was in der Politik vor sich geht und welche geistigen Entwicklungen sich vollziehen. Dies müssen wir versuchen zu verstehen, wenn wir unsere Zeitgenossen erreichen wollen.
Wir müssen verstehen, wie sie denken. Das ist auch wichtig, wenn wir die biblischen Wahrheiten gegen Angriffe verteidigen wollen, die immer aus irgendwelchen ideologischen Quellen kommen. Deshalb müssen wir unsere Kultur gründlich analysieren. Wir müssen die Dichter, Denker und politischen Stichwortgeber unseres Zeitalters kennen und verstehen.
Wir müssen uns damit befassen; wir können nicht mit Scheuklappen durch die Welt laufen. Dieses Studieren und dann der Versuch, die Menschen in ihrem Umfeld zu erreichen, ist entscheidend. Wir sollten so sprechen, dass sie uns verstehen können, und unser Anliegen so erklären, dass sie merken, wir wissen, wie sie denken. Das ist das eine.
In der Emerging Church soll aber noch viel mehr geschehen. Dort soll die Kultur der Welt ein Mitspracherecht bei der Ermittlung der Wahrheit haben. Viele Vertreter verstehen darunter Kontextualisierung. Sie sagen: "Nein, die Bibel hat keine vorgegebene Wahrheit. Bleiben wir noch beim Beispiel Homosexualität: Das könne man nicht so sagen, das war Paulus im ersten Jahrhundert. Wir müssen ganz neu fragen." Oder wenn die Bibel Scheidung verbietet, so war das ebenfalls im ersten Jahrhundert, und wir müssen ganz neu fragen.
Dagegen sagt die Bibel: Nein, der ewige Gott hat uns eine ewig gültige, unveränderbare, objektive Wahrheit gegeben, und diese haben wir zu verkündigen. Das ist das Erste.
Neue Lehren statt Verzicht auf Lehre
Die Therapie der Emerging Church verändert das Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung.
Manchmal erweckt die Emerging Church den Eindruck, man würde dort auf festgelegte Lehre verzichten. Das wäre schon schlimm genug für sich genommen. In Wirklichkeit ist der Zugang aber noch viel aggressiver. Es geht nicht darum, auf festgelegte Lehre zu verzichten, sondern darum, die biblische Lehre durch eine Vielzahl anderer Lehren zu ersetzen.
Man lehrt ja, man entwickelt ein Konzept. Wie will man das Denken von Menschen verändern? Das ist ja deren erklärtes Ziel. Wie will man einen Paradigmenwechsel durchsetzen, wenn man das nicht mit bestimmten Konzepten tut? Nein, man vertritt dort schon bestimmte Lehren. Es gibt kein lehrmäßiges Vakuum.
Die Frage ist nicht, ob man Lehre hat, sondern welche Lehre man hat. Also lassen wir uns nicht einreden, dass die Emerging Church weitgehend auf Lehre verzichten würde. Sie führen eine neue Lehre ein.
Dies erfolgt leider nicht immer mit offenem Visier, sondern auf schleichendem Wege. Es geschieht oft dadurch, dass man teils vertraute Begriffe allmählich umdeutet oder leicht verändert. Zum Beispiel den Begriff „missionarisch“ durch „missional“.
Wir werden das noch sehen an einem zweiten Beispiel: den Begriff des Reiches Gottes oder der Inkarnation.
Veränderung des Verhältnisses zwischen Gemeinde und Welt
Und damit kommen wir jetzt endlich zum Punkt 2.2.
Die Therapie der Emerging Church verändert nicht nur das Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung, sondern auch das Verhältnis zwischen Gemeinde und Welt. Dabei geschieht etwas Dramatisches. In der Emerging Church wird die Welt nicht als Gegenüber zur Gemeinde verstanden, obwohl die Bibel uns das ganz klar lehrt. Gottes Wort sagt: Stellt euch nicht dieser Welt gleich. Satan ist der Fürst dieser Welt.
Die Emerging Church bestreitet dieses Gegenüber. Damit muss sie natürlich auch die radikalen Folgen des Sündenfalls, die die Bibel schildert, verharmlosen. Ja, man sagt, die Welt sei gestört, aber im Prinzip stellt die Welt doch einen positiven Raum dar. So schreibt Tobias Falks sinngemäß von einem positiven Ort, an dem jederzeit Gottes Reich durch Taten sozialer Gerechtigkeit gebaut werden kann.
Unser Herr Jesus hat sich zu diesem Thema völlig anders geäußert. Er sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36). Der Herr hat gesagt: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt – oder man könnte auch sagen, wenn er die ganze Welt transformiert – und doch Schaden an seiner Seele nimmt?
Unser Herr hat uns nicht den Auftrag gegeben, und er hat uns auch nicht verheißt, dass wir diese Welt schrittweise in sein Reich transformieren. Vielmehr hat er eine sehr scharfe Unterscheidung zwischen Gemeinde und Welt vorgenommen. Studieren Sie das einmal ab Johannes 15, ab Vers 20. Dafür haben wir heute keine Zeit, aber ich empfehle, in der Bibel diese Stelle zu lesen.
Die Bibel sagt sehr deutlich, dass Satan noch der Fürst dieser Welt ist (Johannes 12,31; 14,30; 16,11). Die Emerging Church tritt mit dem Anspruch auf, diese Welt global zu befrieden. Doch erst der Herr Jesus selbst wird bei seiner Wiederkunft sein sichtbares Reich hier auf dieser Erde bringen. Bis dahin ist dieses Reich wo? Es ist in den Herzen seiner Jünger und in seiner Gemeinde.
Es gibt eine ganz klare Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes auf der einen Seite und der Welt auf der anderen. Die Emerging Church verändert diese Verhältnisbestimmung zwischen Gemeinde und Welt grundlegend. Das wird dadurch verschleiert, dass man diese Welt ansatzweise als das Königreich Gottes bezeichnet.
Ich möchte Ihnen dazu zwei Zitate nennen, damit ich sie hier gleich finde. Ich hatte sie gerade noch so schön herausgesucht – bitte keiner verlässt den Saal, das ist ganz wichtig. Es handelt sich um ein Zitat von Dan Kimble und ein Zitat von McLaren. Beide formulieren sinngemäß, dass Gottes Reich schon jetzt mitten in dieser Welt beginnt.
Und zwar beginnt es dort in einer Weise, dass wir durch soziales Handeln und gute Taten diese Welt verändern. McLaren sagt, dass der König im Königreich ist und das Königreich hier und jetzt unter uns ist – für diejenigen, die Augen haben, um zu sehen, und Ohren haben, um zu hören.
Rob Bell schreibt: Für Jesus waren Himmel und Hölle Realitäten im Hier und Jetzt. Er sprach sehr wenig über das Leben jenseits von diesem Leben. Für Jesus lautete die Frage nicht „Wie kommt man in den Himmel?“, sondern „Wie bringt man den Himmel hierher, also auf die Erde?“
Als Christ will ich tun, was in meinen Kräften steht, damit sich die Hölle auf Erden nicht ausbreitet. Armut, Ungerechtigkeit, Leid – all das ist Hölle auf Erden.
Und das Zitat von Dan Kimble: Evangelisation bietet eine Einladung, in das Königreich zu kommen, anstatt einen Weg in den Himmel.
Es wird also der Unterschied zwischen dem Reich Gottes und dieser Welt systematisch aufgeweicht. Wenn das richtig wäre, dann würde daraus die Aufgabe folgen, diese Welt zu verbessern. Wenn das Reich Gottes in dieser Welt ist, dann wird es wichtiger, die Welt zu verbessern, als Menschen in den Himmel zu rufen oder als Gemeinde Jesu zu bauen.
Vielmehr geht es darum, dass die Gemeinde sich immer mehr zur Welt hin öffnet und, wie man sagt, in die Welt hinein inkarnieren soll. So wird das begründet. In einem Zitat von Enis heißt es folgendermassen – das möchte ich auch vorlesen:
„Eines der auffallenden Merkmale der Emerging Church ist die bewusste Öffnung auf die Gesellschaft hin und die Orientierung auf den Menschen. Das basiert auf der Annahme, dass Gott in Jesus Mensch wurde, wofür das lateinische Wort Inkarnation verwendet wird.“
Aber was heißt Inkarnation? Inkarnation bedeutet, dass Gott Mensch wird, aber Gott bleibt. Jesus ist Gott geblieben. Jesus ist sündlos geblieben. Inkarnation ist an Gott gebunden.
Hier wird gesagt: Ja, weil Gott Mensch wurde, soll auch die Gemeinde sich gewissermaßen in die Welt hinein entäußern. Sie soll sich der Welt stärker angleichen. Sie soll nicht mit fertigen Antworten zu der Welt kommen, sondern gemeinsam mit der Welt durch gute Taten Gottes Reich in dieser Welt bauen.
So wird es gelehrt. Und das bedeutet natürlich – und ich denke, das ist jedem Bibelleser klar, man muss kein Theologe sein, um das zu durchschauen – eine totale Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gemeinde und Welt.
Der Denkfehler ist folgender: Inkarnation bedeutet, Gott geht auf die Welt ein, er kümmert sich um die Welt. Aber Gott geht nicht in der Welt auf, er wird nicht sündig, er wird nicht fehlbar, er wird nicht endlich.
Genauso sollen wir als Gemeinde auf die Welt eingehen. Wir sollen sie verstehen, wir sollen ihr Gottes Wahrheit so gut wie möglich erklären, wir sollen ihre Sorgen ernst nehmen. Aber wir sollen nicht in der Welt aufgehen. Wir sollen uns der Welt nicht anpassen.
Die Bibel bleibt bei ihrer kategorialen Trennung zwischen Gemeinde und Welt. In der Bibel wird das Reich Gottes nicht inklusiv verstanden, sondern exklusiv. Inklusiv heißt: Alle gehören irgendwie dazu. Exklusiv heißt: Es gehören nur die dazu, die an Jesus glauben und die von Jesus in sein Reich berufen werden.
Fabian Vogt schreibt: Die Emerging Church wird ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sein und als Weggefährte Gottes Verheißungen mitten im Alltag leben und verkündigen.
Wir werden ein Teil der Gesellschaft sein, uns immer weniger von der Gesellschaft unterscheiden, ganz hineingehen – man hat das auch genannt „die Welt umarmen“. Das führt dazu, dass das Heil, die Rettung in diesem Konzept immer stärker diesseits bezogen wird. Die Frage von Himmel und Hölle rückt immer weiter aus dem Blick.
Wenn das Verhältnis zwischen Gemeinde und Welt verändert wird, folgt daraus auch eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Gemeinde, christlichem Glauben und den Religionen.
Auch hier gibt es Ansätze im Rahmen der Emerging Church, die darauf hinauslaufen, den kategorialen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Islam und christlichem Glauben zu verschleiern.
Vor einiger Zeit fand in Marburg ein Studientag zur Gesellschaftstransformation statt, in Zusammenarbeit mit jener Einrichtung, die von Tobias Falks geleitet wird. Dort war der kroatische Theologe Miroslav Volf eingeladen.
Volf vertrat die These, dass Christen und Muslime letztlich an denselben Gott glauben. Er fügte hinzu: Beide lehren, es gibt nur einen Gott. Beide lehren, dass Gott die Welt geschaffen hat. Beide lehren, dass Gott der Welt gegenübersteht. Beide kennen ein Liebesgebot. Beide haben neun der zehn Gebote gemeinsam. Und beide reden von der Barmherzigkeit Gottes.
Also müsse es derselbe Gott sein.
Wenn man die biblischen Aussagen dazu ernst nimmt, sieht man, dass es nicht derselbe Gott sein kann. Denn das Herzstück des christlichen Glaubens wird vom Islam als Gotteslästerung bezeichnet: dass Gott seinen eigenen Sohn gab, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, dass er am Kreuz für unsere Schuld starb und dass das für uns der einzige Weg zur Rettung ist, dass er leibhaftig auferstanden ist von den Toten.
All diese Kernaussagen – und das Neue Testament sagt ja: Wer dem Sohn ablehnt, der hat auch den Vater nicht – werden vom Koran nicht nur ignoriert, sondern gezielt bekämpft und zum Teil als Gotteslästerung dargestellt.
Deshalb kann der Allah des Korans nie und nimmer der Vater Jesu Christi sein.
Sie sehen, wohin diese Anpassung und diese falsche Öffnung gegenüber der Welt führt. Die Emerging Church verändert das Verhältnis zwischen Gemeinde und Welt.
Veränderung des Verhältnisses zwischen Evangelisation und sozialer Verantwortung
Und damit kommen wir schon zum dritten Punkt: Die Emerging Church verändert das Verhältnis zwischen Evangelisation und sozialer Verantwortung. Das zeigt sich ganz besonders im Begriff „missional“. Johannes Reimer hat gesagt, die Krise der Evangelikalen wurzelt in einem einseitigen und falschen Verständnis von Mission.
Er schreibt an anderer Stelle – und ich hoffe, dass man das einigermaßen lesen kann: Nichts wäre heute wichtiger als die Entscheidung der Christen, das Reich Gottes in der Welt mit den Menschen zusammenzubauen. Mit den Menschen sind hier die Ungläubigen gemeint, also diejenigen, die noch nicht an Jesus glauben.
Darum geht es vor allem: die Entscheidung der Christen, das Reich Gottes in der Welt mit den Menschen zusammenzubauen – nicht für sie und erst recht nicht gegen sie, sondern mit ihnen. Wenn wir uns gemeinsam um die Umgestaltung der Welt bemühen, heißt das, dass wir das Reich Gottes ausbreiten. Dabei können Nichtchristen in ähnlicher Weise mitwirken wie Christen.
So wird es hier gelehrt von Raymond Tobias Falks, der es ähnlich formuliert hat: Christen müssen neu lernen, dass das Reich Gottes schon im Hier und Jetzt angebrochen ist und dass Christen durch politisches und soziales Engagement eine Gesellschaft heilen können. Das ist eine totale Veränderung der Verhältnisbestimmung zwischen Mission und sozialer Verantwortung.
Es heißt nicht mehr, wir versuchen, Menschen für den Himmel zu gewinnen, sondern wir müssen hier in der Welt Gottes Reich bauen – Christen und Nichtchristen gemeinsam. Gottes Reich kommt durch eine schrittweise Verwandlung der Welt.
Es ist nicht so, dass erst die Emerging Church die soziale Verantwortung der Christen entdeckt hat. Das kennen wir doch durch die ganze Geschichte hindurch. Was haben Christen, weil sie an Jesus glaubten, als Konsequenz ihres Glaubens zur Veränderung der Welt beigetragen?
Was hat etwa William Wilberforce aufgrund seines christlichen Glaubens bewirken dürfen zur Abschaffung der Sklaverei? Was hat die Erweckung, die durch Whitfield und Wesley im 18. Jahrhundert in England ausgelöst wurde, bewirkt? Viele Historiker sagen, wenn es diese Erweckung durch Whitfield und Wesley nicht gegeben hätte, bei der viele Menschen sich bekehrt und zum Glauben an Jesus gefunden haben, dann hätte es in England im 18. Jahrhundert ähnliche Zustände gegeben wie in Frankreich und in jedem großen Blutbad, das auf die französische Revolution folgte.
Was haben christliche Missionare in Afrika und Asien geleistet? Auf dem Gebiet der Erziehung, ärztlicher Hilfe und wirtschaftlicher Entwicklung. Denken Sie an Hinrich Wichern, an Wilhelm Löhe, an Amalie Sieveking. Das ist der normale Weg.
Was hat August Hermann Francke für das Schulwesen getan? Friedrich von Bodelschwingh für die Fürsorge für Bedürftige? Wie viele Schwerbehinderte hat Bodelschwingh vor der Tötung durch das Naziregime bewahrt? Es ist immer so gewesen, dass Christen, die Jesus geliebt haben, auch die Welt um Jesu Willen geliebt und sich eingesetzt haben – auch zur Veränderung und Verbesserung der sozialen Umstände.
Aber es war immer klar, was den Vorrang hat. Es war immer klar, was der Mensch dringender braucht. Es war immer klar, dass es wichtiger ist, auf ewig im Himmel gerettet zu sein, als in dieser Welt etwas leichtere Lebensumstände genießen zu können.
Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an das Grubenunglück in Chile im August 2010 erinnern, als plötzlich 33 Bergarbeiter in 700 Meter Tiefe vermisst wurden. Es gab viele Anliegen, die wichtig waren und den Leuten helfen konnten. Sie brauchten Kleidung, Nahrung und frisches Trinkwasser – all das war wichtig.
Aber ein Anliegen überstrahlte alles andere: Was brauchten sie am meisten? Rettung. Sie brauchten Rettung aus dem Todesgefängnis. Darum wurde sofort mit den Suchbohrungen begonnen. Achtzehn Tage später gab es den ersten Freudenschrei, als die Retter auf einem Bohrgerät einen Zettel fanden: Alle 33 waren noch am Leben. Sie konnten sich in einen Hohlraum flüchten und wurden dann tatsächlich ins Licht der Welt zurückgeholt.
Dieses Beispiel zeigt Folgendes: Diakonische soziale Aktion und Evangelisation sind nicht gleich wichtig. Was wäre die Logik der Emerging Church gewesen? Die Logik der Emerging Church wäre gewesen, die Grubenhöhle zu transformieren, sie schöner auszustatten und zum Naherholungsgebiet umzugestalten. Das wäre die Logik gewesen, sich in diesen Hohlraum gewissermaßen zu inkarnieren und ihn etwas schöner zu gestalten.
Aber die Bibel sagt: Nein, der Mensch braucht mehr als alles andere Rettung. Er braucht Rettung aus dem Gericht des heiligen Gottes. Er braucht Rettung für die Ewigkeit. Das hat immer Vorrang, weil es von unendlich größerem Gewicht für das Schicksal jedes Einzelnen ist.
Deswegen hat der Herr seiner Gemeinde eine ganz klare Priorität vorgegeben: Die Hauptaufgabe ist, Menschen zu Christus zu rufen, damit sie in ihm ihren Retter finden, Vergebung ihrer Schuld empfangen und nicht auf ewig verloren gehen. Sie sollen nicht auf ewig in der Hölle sein, sondern zur Ehre ihres Herrn ewig leben und ihm auf ewig dienen.
Die Erfahrung zeigt immer wieder – und so lehrt es ja auch die Bibel –, dass wenn Menschen durch Christus ihre Schuld vergeben bekommen haben und in ihrem Herzen verändert worden sind, wir zwar noch Sünder bleiben, aber von diesem Bedürfnis angetrieben werden, zu helfen.
Unser erstes Ziel und unser innigster Wunsch ist, dass Menschen Jesus kennenlernen und durch ihn Frieden mit Gott bekommen. Aber wir können dann auch nicht einfach zusehen, wenn um uns herum soziales Leid herrscht. Wir können nicht einfach weitergehen, wenn wir auf tiefe menschliche Not blicken. Es wird uns immer ein inneres Anliegen sein, zu helfen, wo und wie wir können.
Wir werden in unserem Gewissen, wenn wir Jesus gehören, sensibler für die ganz praktischen Nöte unserer Mitmenschen. Aber es wird immer unser innerstes, wichtigstes und größtes Anliegen bleiben, dass Menschen zu Jesus kommen, dass sie in ihm ihren Retter finden, Gottes Kinder werden, Vergebung ihrer Schuld erhalten, ein neues Leben bekommen, zur Ehre Gottes leben und auf ewig im Himmel dabei sein werden.
So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Die dramatische Veränderung des Evangeliums
Und jetzt kommen wir zum letzten Punkt. Die Therapie der Emerging Church verändert, wie wir gesehen haben, das Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung. Sie verändert auch das Verhältnis zwischen Gemeinde und Welt sowie das Verhältnis zwischen Evangelisation und sozialer Verantwortung.
Wenn wir all das ernst nehmen und im Zusammenhang verstehen, dann sehen wir – und das ist eigentlich die dramatischste Konsequenz – dass die Emerging Church das Evangelium als solches verändert. Die Emerging Church verdrängt das Kreuz Jesu Christi aus dem Zentrum der missionarischen Verkündigung. Was dann übrig bleibt, kann man im eigentlichen Sinne gar nicht mehr missionarische Verkündigung nennen.
Im Januar 2013 wurde in Herrenberg eine Tagung durchgeführt, um die ganzen Diskussionen, die zu diesem Themenbereich entstanden waren – auch zwischen Evangelikalen – aufzuarbeiten. Bei diesem Anlass hat Johannes Reimer ein Thesenpapier zur Definition des Evangelisationsbegriffs vorgelegt. Ich habe dieses Papier hier vorliegen: Evangelisation – Grund, Motiv und Ziel. Wenn wir dieses Thesenpapier gründlich lesen, dann sehen wir, dass hier der stellvertretende Sühnetod Jesu keine Rolle spielt; er kommt nicht vor.
Selbst dort, wo emergente Theologen das Kreuz Jesu noch als theologischen Begriff benutzen, können sie zwar über das Kreuz reden, aber ohne die zentrale Botschaft der Erlösung. Stattdessen wird das Kreuz zur Chiffre für Mitleid oder für menschliches Sich-Miteinander-Versöhnen. Der Kern dessen, was am Kreuz geschehen ist – nämlich dass Christus dort stellvertretend für uns den Sühnetod gestorben ist, um die Strafe zu tragen, die wir verdient hätten – spielt keine Rolle und hat kein Gewicht.
Am Ende verändert diese Therapie der Emerging Church das Evangelium als solches. Es wird etwas als Evangelium ausgegeben, von dem Paulus im Galaterbrief gesagt hat, dass es ein anderes Evangelium sei und damit gar kein Evangelium.
In diesem Sinne, dass man meint, missionarisch predigen zu können, ohne das Kreuz Christi in den Mittelpunkt zu stellen, hat Tobias Feix auch in einem Interview behauptet: „Das Evangelium zeigt sich auch im sozialen Miteinander.“ Nun frage ich: Wie soll sich das Evangelium im sozialen Miteinander zeigen? Wie soll sich im sozialen Miteinander zeigen, dass Gott selbst in seinem Sohn, der das Opferlamm für uns wird, sein vollkommen sündloses Leben opfert, um meine Strafe zu tragen? Wer so etwas sagt, beweist damit, dass er Kreuz und Evangelium anders versteht als das Neue Testament.
Wir würden sagen: Die Folgen der Erlösung zeigen sich im sozialen Miteinander. Wenn jemand Vergebung von Jesus bekommen hat, dann wird er auch bereit sein, anderen zu vergeben. Wenn jemand das ewige Leben geschenkt bekommen hat, allein aus Gottes Gnade, dann wird er in seinem Herzen motiviert sein, anderen zu helfen, ihnen zu dienen und Gott mit seinem ganzen Leben zu dienen. Das wirkt sich massiv auf das soziale Miteinander aus.
Aber das Evangelium selbst zeigt sich nicht im sozialen Miteinander. Das Evangelium selbst kann nicht von Menschen nachgemacht oder nachgespielt werden. Es ist eine exklusive Rettungstat Gottes selbst in seinem Sohn Jesus Christus.
Im Rahmen der Emerging Church wird Jesus oft als der Musterevangelist verstanden – also als derjenige, der die Herrschaft Gottes in der Welt durch Worte und Taten ausbreitet. So wie Jesus evangelisiert hat, durch seine guten Taten und sein heilendes Handeln, so wollen wir uns an ihm ein Beispiel nehmen. Er ist der Musterevangelist, und wir als seine Nachfolger sollen uns von Jesus in diesen Prozess der Weltveränderung hineinziehen lassen. Das war jetzt eine emergente Predigt, die ich ihm gehalten habe.
Weil das im Neuen Testament so deutlich ist, versucht man Folgendes zu machen – und ich sage das, damit man nicht darauf hereinfällt: Man versucht, die Evangelien gegen die Paulusbriefe auszuspielen. Es wird gesagt, Luther und die ganze reformatorische Theologie seien eine Engführung gewesen, weil sie immer nur auf Paulus geschaut hätten. Paulus mit seiner Rechtfertigung, seinem juristischen Denken und der Forderung nach Gerechtigkeit und Vergebung – das sei im Evangelium ganz anders.
Im Evangelium gehe es um Liebe und die Ausbreitung des Reiches Gottes durch gute Taten und Heilungen. So werden die Evangelien gegen Paulus ausgespielt. Wer auf Sündenvergebung, Himmel und Hölle achtet, sei nur paulinisch eng geführt. Im Evangelium sei das ja eigentlich ganz anders.
Aber im Evangelium ist es nicht anders. Dem Evangelium geht es um genau die gleiche Frage. Was hat der Herr gesagt in Markus 10,45? „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“
Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, meint er genau dasselbe wie Paulus, wenn Paulus vom Heil oder von der Rechtfertigung spricht. Das Reich Gottes ist kein ethisches Konzept. Es ist nicht die Vorstellung von einer besseren Welt, die hier in der Gegenwart verwirklicht wird. Das Reich Gottes steht gleichbedeutend für Gottes Heil.
Das Reich Gottes in den Evangelien kann oft als Synonym für ewiges Leben gebraucht werden. Denken Sie an das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus: „Wie komme ich ins Reich Gottes?“ Jesus macht deutlich, dass es hier um Tod und Leben, um Himmel und Hölle geht. Niemand kann ins Reich Gottes kommen oder es herbeiführen, es sei denn, jemand werde von oben geboren. Es sei denn, dass Gott in wundersamer Weise in das Leben dieses Menschen eingreift, ihn herausrettet aus seiner Verlorenheit und ihn hineinholt in sein Reich, in die Gotteskindschaft, in den Frieden Gottes, ins ewige Leben.
Das geschieht dadurch, dass Jesus als Schlange in der Wüste erhöht wird – ans Kreuz – und den Opfertod für uns stirbt. Reich Gottes bedeutet dasselbe wie Rechtfertigung, Rettung und Gottes Heil.
Lassen wir nicht zu, dass im Sinne dieses Konzeptes Jesus und Paulus gegeneinander ausgespielt werden. Nur weil Jesus am Kreuz für mich starb, kann ich in das Reich Gottes hineinkommen. Das gehört zusammen.
Wenn wir all das zusammennehmen, was wir gehört haben, wundert es uns nicht, dass diese missionale Denkweise die Gefahr der Hölle verharmlost oder verleugnet. Es geschieht immer wieder in Veröffentlichungen, dass manche ganz ausdrücklich den doppelten Ausgang der Geschichte – Himmel und Hölle – leugnen.
Brian McLaren zum Beispiel hat in seinem Buch „Höchste Zeit umzudenken“ das ganz ausdrücklich geleugnet. Und wo ist dieses Buch erschienen? In einem, ja, eigentlich früher mal evangelikalen Verlag, dem Franke Verlag in Marburg.
Oder denken Sie an das Buch, das der Brunnen Verlag von Rob Bell in deutscher Übersetzung herausgegeben hat. Bell rechnet mit der klassischen biblischen Position ab – auch wenn er sie verkürzt und als Karikatur darstellt. Er rechnet mit der ganzen Position ab und sagt Folgendes: „Liebe zwingt uns, einige der verbreiteten Geschichten, die als Jesusgeschichte ausgegeben werden, in Frage zu stellen. Eine dieser Geschichten enthält das Kapitel, dass einige die Ewigkeit an einem Ort des Friedens und der Freude – Himmel genannt – verbringen werden, während der Rest der Menschen für ewig Qual und Bestrafung in der Hölle erleiden wird, ohne die geringste Möglichkeit, diesem Zustand je zu entkommen.“
Dann kommentiert Bell: „Diese Sicht ist nicht zwingend, sie ist schädlich. Sie untergräbt die ansteckende Verbreitung der begeisternden Botschaft von Liebe, Frieden, Vergebung und Freude, die Jesus brachte und die unsere Welt so dringend braucht.“
Die Verkündigung von Himmel und Hölle sei also schädlich für die Botschaft Jesu, sagt Bell in einem Buch des Brunnen Verlags. Dagegen legt er uns die Auffassung nahe, dass – ausreichend Zeit vorausgesetzt – jeder sich Gott zuwenden und den Gottesfrieden wiederfinden kann. Die Liebe Gottes bringe jedes noch so harte Herz zum Schmelzen, und selbst die Verdorbensten würden ihren Widerstand aufgeben und zu Gott zurückkehren.
Seine Behauptung, die ein provokativer Angriff auf die biblische Lehre ist, schließt er mit folgender Überlegung ab: „Wenn unser Gott die Menschen in Ewigkeit auf Sünden bestrafen wird, die in wenigen Jahren begangen wurden, wenn das unser Gott wäre, dann müsste man sagen, dass mit unserem Gott etwas nicht stimmt.“
Also, wenn dieser Gott wirklich ein Gott von Himmel und Hölle ist, dann müssen wir leider sagen – behauptet Rob Bell in diesem Buch –, dass mit unserem Gott etwas nicht stimmt. Das heißt, dann müssten wir die Geschichte neu schreiben, den Glauben neu definieren und das Evangelium zu einem anderen Evangelium machen.
Schlussbetrachtung und Ermutigung zur Bewahrung des Evangeliums
Ich komme auf die Zielgerade. Ich denke, es ist deutlich geworden, auch wenn ich natürlich nur einige Schneisen schlagen konnte, dass uns in diesem Konzept eine völlig neue Sicht auf den christlichen Glauben begegnet. Dieses Konzept steht in einem ganz offensichtlichen, krassen und eindeutig benennbaren Gegensatz zu dem, was das Neue Testament uns über Glaube, Verkündigung, Mission, Rettung und Verlorenheit lehrt.
Die Emerging Church verändert das Verhältnis zwischen Bibel und Verkündigung, das Verhältnis zwischen Gemeinde und Welt, das Verhältnis zwischen Evangelisation und sozialer Verantwortung und letztlich das Evangelium selbst. Was hier entwickelt wird, ist nicht Stoff für neues Leben in der Gemeinde, sondern das Konzept einer anderen Gemeinde, die auf einem anderen Evangelium basiert.
Es ist sicher gut, dass wir uns auch als solche, die bibeltreu sein wollen, immer wieder fragen lassen, wie es eigentlich mit unserer Zuwendung zur Welt steht. Diesen Stachel wollen wir gerne aufnehmen. Wir sollen uns fragen, wie sehr wir uns mühen, wie sehr uns die Menschen am Herzen liegen, mit denen wir es zu tun haben – sei es in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder im Hörsaal.
Wie genau versuchen wir, sie zu verstehen? Wie viel Mühe machen wir uns, mit ihnen ins Gespräch zu kommen? Was tun wir, um ihnen in ihren alltäglichen Nöten zu helfen, wo es uns möglich ist? Und was riskieren wir, um ihnen die Botschaft vom Retter Jesus Christus zu bringen?
Aber noch aus einem anderen Grund ist dieser Angriff auf das Evangelium für uns heilsam: Er zwingt uns nämlich, das biblische Evangelium umso genauer zu verstehen. Er erzwingt es, die biblischen Prioritäten ganz neu und ganz bewusst zu buchstabieren, umso klarer und deutlicher zu bestimmen.
Wir werden auf dem Weg zum Reformationsjubiläumsjahr 2017 noch manchen Angriffen auf das Evangelium begegnen. Wir erleben das ja heute schon, dass so getan wird, als ob die Zeiten Luthers längst vorbei wären. Das heißt, als ob es diesen Gegensatz zwischen evangelisch und katholisch in dieser Weise gar nicht mehr gäbe.
Und all das kann man nur dann durchziehen, wenn man das Evangelium selbst verändert. Wenn man durchstreicht, dass wir allein durch Christus gerettet werden und durch keine Maria, und dass wir in keiner Weise an unserem eigenen Heil mitwirken.
In diesem Zusammenhang gehört auch, dass der aktuelle Papst Franziskus in manchen evangelikalen Zeitschriften gefeiert wird, als wäre er ein halber Evangelikaler. Das ist er nicht, das ist er nicht die Bohne. Man muss nur seine Schriften lesen. Man kann dem Papst ehrlich gesagt auch nicht vorwerfen, dass er katholisch ist – das dürfen wir ihm nicht vorwerfen. Aber wir dürfen auch nicht so naiv sein, das nicht sehen zu wollen.
Es wird zunehmend Angriffe auf das Evangelium geben. Und das Schlimme daran ist nicht, wenn diese Angriffe von außen formuliert werden. Das Schlimme ist nicht, wenn die römisch-katholische Kirche zu ihrer Doktrin steht – das kann man nicht anders erwarten, als dass sie das tut. Das Schlimme ist nicht, wenn der Islam seine Heilslehre propagiert.
Das Schlimme ist, wenn im Namen des christlichen Glaubens, wenn im Namen des Evangeliums das Evangelium selbst verändert und verfälscht wird. Das ist schlimm, weil wir es den Menschen dann immer schwerer machen, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.
Deshalb sind wir gefordert, zu sagen, was der Kern des Evangeliums ist: dass wir Menschen Sünder sind seit Adam, dass wir verloren sind und vor einem heiligen Gott mit einer großen Schuld stehen. Wenn Gott gerecht wäre, müsste er uns alle auf ewig verurteilen. Das wäre gerecht.
Und wir haben uns unter dieses Urteil zu beugen – da gibt es nichts zu beschönigen. Aber der heilige Gott wollte beides: Er wollte seine Gerechtigkeit und Heiligkeit wahren, er wollte Gott bleiben, und er wollte uns trotzdem nicht verdammen. Was er eigentlich hätte tun müssen, wenn er seine Heiligkeit und Gerechtigkeit gewahrt hätte.
Aber er wollte uns retten. Darum hat er selbst die Strafe auf sich genommen, die wir verdient hätten. Darum hat er in der Person seines eigenen Sohnes Jesus Christus, der für uns Mensch wurde, für Gerechtigkeit gesorgt. Die Schuld ist gesühnt durch Jesus, das vollkommene Opferlamm.
Darum kann der heilige Gott jetzt, wenn er dir und mir vergibt, gerecht bleiben, obwohl er uns vergibt. Weil sein Sohn meine Strafe getragen hat. Weil Jesus an meinem Urteil zugrunde gegangen ist am Kreuz. Und weil er die Sünde, die Schuld und alle Verlorenheit besiegt hat in seiner Auferstehung.
Das haben wir zu predigen, das haben wir zu verkündigen: die totale Verlorenheit des Menschen vor dem heiligen Gott und die alleinige Rettung dadurch, dass sein eigener sündloser Sohn Jesus Christus sein Leben – sein sündloses Leben – für uns in die Waagschale geworfen und auch den letzten Cent unserer Schuld bezahlt hat.
Deswegen ist Jesus der einzige Retter. Und deswegen hat derjenige, der das, was Jesus getan hat, mit Füßen tritt, keine Chance, von dem heiligen, gerechten, liebenden, ewigen Gott in den Himmel hineingelassen zu werden.
Das ist die Wahrheit des Evangeliums. Und das ist die Wahrheit, an der die Reformation damals aufgebrochen ist. Und das ist die Wahrheit, die wir um Jesu Willen und um unserer Zeitgenossen willen dieser Welt schulden.
Wenn uns diese ganze Debatte dazu bringt und dazu zwingt, diese Wahrheit umso genauer zu verstehen, umso gründlicher im Wort Gottes zu studieren und umso klarer, treuer, liebevoller, ernster und werbender zu verkündigen, dann ist etwas Gutes erreicht.
Dazu möchte ich auch Sie alle hier in Berlin sehr, sehr ermutigen, dass Sie sich auch in diesen Dienst für den Herrn wirklich hineinopfern, dass Sie alles tun, damit sein Evangelium unseren Zeitgenossen wirklich in Klarheit verkündet werden kann.
Und Sie werden merken, welch unendlich große Freude der Herr uns in diesem Dienst und auf diesem Weg schenkt.
Ausblick: Die neue Paulusperspektive und historische Parallelen
Einen letzten Hinweis möchte ich noch geben, und dann komme ich zum Schlusswort. Das können wir heute Abend nicht mehr behandeln. Vielleicht, wenn jemand noch eine Frage dazu hat in der Aussprache hinterher, wäre das auch fast einmal Thema für einen eigenen Vortrag.
Es gibt einen Bundesgenossen der Emerging Church-Konzeption, der in den letzten Monaten und Jahren auch in Deutschland einen gewissen Zulauf erhalten hat. Das ist die sogenannte neue Paulusperspektive, vertreten von Anti-Right und anderen. Wir können das heute Abend nicht mehr im Einzelnen entfalten, aber auch dort wird ein anderes Evangelium verkündet.
Dort wird gesagt, es geht bei Paulus eigentlich gar nicht in erster Linie um die Rettung des Sünders, sondern um die Gemeinschaft zwischen Juden und Christen. Das wäre noch einmal Thema eines weiteren Vortrags. Aber natürlich greift das Emerging Church-Konzept begierig nach dieser Paulus-Perspektive, weil nämlich die Paulus-Perspektive von einer anderen Seite jetzt diese neue Botschaft in Anführungszeichen letztendlich propagiert.
Ach, es geht gar nicht in erster Linie um die Rettung des Sünders aus der Hölle, sondern es geht mehr darum, wie wir hier miteinander leben. Es geht um die Gemeinschaft. Es geht nicht in erster Linie um Soteriologie bei Paulus, sondern um Ekklesiologie, also um die Frage der Gemeinschaft untereinander, aber nicht in erster Linie um die Frage unseres Verhältnisses zu Gott.
Auch das ist ein anderes Evangelium. Auch das ist eine totale Verfälschung dessen, was Jesus und Paulus als Heilslehre und Rettungsweg uns verkündigt haben. Deswegen müssen wir auch dieser neuen Paulusperspektive gegenüber eine sehr, sehr klare Position beziehen und unsere Zeitgenossen darüber aufklären.
Ich komme zum Schluss. Letztlich ist die ganze Auseinandersetzung um das Verständnis von Verkündigung und Evangelisation mit der Emerging Church nicht neu. Die Älteren unter uns, die die Debatte verfolgt haben, werden sich noch an die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern.
Die Debatten um den Ökumenischen Rat der Kirchen – im Grunde genommen ist vieles von dem, was die Emerging Church jetzt so als neu präsentiert, damals auch schon unter dem Stichwort „soziales Evangelium“ propagiert worden. Jürgen Moltmann und viele andere haben das damals schon gesagt. Also so wirklich neu ist es nicht, es ist nur mal wieder in ein neues Kleid gewandet.
Aber wir können noch weiter zurückgehen, nicht nur in die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Dort hat das amerikanische Kommissionsdirektorium für Auslandsmissionen im Jahr 1812 folgende Erklärung abgegeben. Man könnte diese Erklärung eins zu eins auch gegenüber der Emerging Church vorlesen.
Da heißt es 1812, vorgemerkt, also vor gut zweihundert Jahren: „Wenn ein Haus mitten in der Nacht in Flammen steht, dann gilt die erste und größte Sorge nicht dem Haus, sondern den schlafenden Bewohnern darin. Gleichermassen ist die erste und größte Sorge von Missionaren die um die Seele, um sie vor dem bevorstehenden Zorn Gottes zu retten. Zur passenden Zeit, wenn Männer und Frauen wirklich ausgesöhnt sind mit Gott, wird sicherlich auch eine soziale Erneuerung folgen.“
Eine solche Herangehensweise an missionarische Aktivitäten ist noch immer der gute alte Weg in den Fußstapfen der Apostel: der Frieden mit Gott und Frieden untereinander. Und das gilt im Jahr 2015 ganz genauso.
