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Auch wir wären gut beraten, an unseren vermeintlichen Brunnen des Lebens, der Liebe, der Religion einmal innezuhalten und - wie die Frau am Jakobsbrunnen - auf Jesus zu hören, der uns freundlich anspricht. Keinen lässt er in seiner Überraschung und in seinem Schrecken stehen. Jeden will er in ein Gespräch verwickeln. Allen hat er etwas zu sagen. Und in diesem Austausch unter vier Augen könnten auch uns die Lichter aufgesteckt werden: Wir brauchen viel mehr als Wasser aus der Leitung.


Der Krug taucht nicht nur im Volksmund auf: “Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht.” Er wird nicht nur im Volkslied be­sungen: “Im Krug zum grünen Kranze, da kehrt ich durstig ein.” Er steht nicht nur in Titeln der Volksliteratur: “Der zerbrochene Krug” von Heinrich von Kleist. Der Krug hat seinen Platz auch in der Bibel. Er ist ein unentbehrliches Gefäß für die Menschen des Alten und Neuen Testaments. Die Geschichte der Krüge hat noch niemand geschrieben. Der Schöpfkrug gehört dazu, mit dem Rebekka eine ganze Karawane tränkte. Immer wieder lief sie zur Wasserstelle, um zehn Kamele zu versorgen. Ihre Hilfsbereitschafi kannte keine Grenzen. Und der Fackelkrug gehört dazu, mit dem Gideon einen Krieg gewann. Dieser Superwaffe hatten die Midianiter nichts entgegenzusetzen. Feuergebranntes schlug wie eine Bombe ein. Und der Ölkrug gehört dazu, mit dem eine Witwe den Elia be­kochte. Trotz grassierender Hungersnot tropfte er nie aus. Für die nächste Mahlzeit reichte es allemal. Erwähnenswert wäre auch der Mannakrug des Mose, der Honigkrug des Abia, der Tonkrug des Jeremia, der Weinkrug des Speisemeisters. Heute aber geht um den Wasserkrug. Wenn ihn auch Rembrandt auf seiner Federzeichnung von 1648 in künstlerischer Freiheit als gehämmerten Blechkessel dargestellt hat, handelt es sich doch um einen gebrannten Tonbe­hälter, der auf der Umfassungsmauer eines 30 Meter tiefen Sicker­brunnens stand. Der Ort war malerisch schön. Vor den Toren des Städtchens Sychar, an der Weggabelung zwischen Skythopolis und Nablus, unter dem Schatten von einladenden Palmbäumen, lag die viel besuchte Wasserstelle. Der Ort war auch historisch bedeut­sam. Schon Abraham errichtete hier einen Altar, Jakob erwarb dieses Land. Die Mumie Josephs wurde an dieser Stelle beigesetzt. Der Landtag Josuas tagte auf diesem Grund. Jeder Zoll lebendige Geschichte. Nicht umsonst ist der Name Jakobsbrunnen geblieben. Und der Ort war kultisch wichtig. Im Hintergrund erhob sich der Garizim, der vor vielen Jahrhunderten in Konkurrenz zum Jeru­salemer Tempelberg als Reichsheiligtum eingerichtet worden war. Auch wenn der Tempel dort oben schon längst vom jüdischen Hohen­priester Hyrkan I. in Trümmer gelegt wurde, blieb er doch der heilige Berg der Samariter. An diesem malerisch schönen, histor­isch bedeutsamen und kultisch wichtigen Ort also stand der Krug. Er möchte uns einladen, unseren Gedankenflug zu unterbrechen, für einige Augenblicke zu verweilen und darüber nachzudenken, warum er mitgebracht, warum er nicht benutzt und warum er schließlich stehengelassen wurde.

1. Der mitgebrachte Krug

Er stand ja nicht immer da. Zu jedem Brunnen gehört zwar eine Kurbel und ein Seil, aber kein Krug. Warum wurde er mitgebracht? Nun, eine Frau war durstig. Um 12 Uhr wird es in Sychar brennend heiß. Zum Mittagessen brauchte sie noch einen Schluck Wasser. Deshalb lief sie hinaus, um sich diesen kühlen Trunk zu besorgen. Dass aber die Samariterin nicht nur Durst nach Wasser hatte, deutet der tiefsinnige Evangelist Joh­annes im Text an. Sie hatte auch Durst nach Liebe. Der trieb sie in die Hände der Männer. Im Mann und im Wechsel suchte sie diesen Durst zu stillen. Kein Wunder, dass andere einen Bogen um sie machten und mit diesem schmutzigen Weibsstück nichts zu tun haben wollten. Hinzu kam ihr Durst nach Religion. Auch wenn der Garizim nur noch versteinerte Tradition war, so suchte sie dort Inform­ation über einen Gott. Etwas Festes muss der Mensch haben. Ohne einen heiligen Berg wollte sie nicht sein. Die Samariterin war eine tief dürstende Frau und der mitgebrachte Krug war Symbol ihres Lebensdurstes.

Damit ist sie keine Ausnahmeerscheinung geblieben. Der Krug wurde zum Symbol aller Lebenden. Wer hat nicht immer wieder Durst nach Wasser? Ohne dieses Element ist Leben überhaupt nicht möglich. H20 ist das vornehmste und unent­behrlichste Lebensmittel der Welt. Mit Recht regen wir uns auf, wenn Quellen verschmutzt, Flüsse aufgewärmt und Meere ölbedeckt werden. Ohne Wasser gibt es nur Wüste und Tod. Und wer hat nicht immer wieder Durst nach Liebe? Ohne diese Kraft kann keiner ge­deihen. Kinder, die elterliche Liebe entbehren müssen, leiden an psychischen Defekten. Erwachsene, die keine Zuneigung und Anteilnahme verspüren, leiden an seelischen Tiefs. Alte, die allein im Altenheim sitzen, leiden an schweren Belastungen. Ohne Liebe gibt es nur Kälte und Sterben. Und wer hat nicht immer wieder Durst nach Religion? Ohne diese Sehnsucht bleibt kein Erden­bürger. Auch wenn der Franzose Voltaire spottete, die Religion sei in dem Augenblick entstanden, als ein Betrüger mit einem Dummkopf zusammentraf, so behielt doch der Russe Berdjajew recht: “Der Mensch ist unheilbar religiös.” Er muss auf etwas stehen. Er muss an etwas glauben. Er muss für etwas opfern. Und wenn es nicht Golgatha ist, dann ist es eben Garizim. Einen heiligen Berg im Hintergrund hat jeder, wo er je nach Gusto dem Schönen oder dem Edlen oder dem Guten oder dem Ewigen räuchert. Eher findet man Waschgold im Neckar als einen waschechten Atheisten in Württemberg. Ohne Religion gibt es nur Rausch und Vergessen. Wir alle sind tief dürstende Menschen und der Krug ist das Symbol unseres Lebensdurstes. Aber nun das Zweite.

2. Der unbenutzte Krug

Er war einfach zur Seite geschoben. Niem­and hängte ihn an einen Haken und lotterte ihn zum Wasser hinunter. Warum wurde er nicht benutzt? Nun, eine Frau war überrascht. Als sie schwitzend zum Brunnen kam, war der um diese Tageszeit menschenleere Platz besetzt. Eine Person saß dort im Schatten. Sie wusste: Vorsicht bei Fremden! Schon mancher ist außerhalb der Stadtmauern niedergeschlagen worden, so wie man ein Tier niederschlägt. Und diese Person war noch ein Mann. Sie wusste: Vorsicht bei Männern! Schon mancher hat sie weggeworfen, so wie man ausgetretene Schuhe wegwirft. Und dieser Mann entpuppte sich zu allem hin noch als Jude. Sie wusste: Vorsicht bei Juden! Schon mancher zitierte ihr jene rabbinische Weisheit: “Wer Brot der Samariter isst, ist wie einer, der Hundefleisch isst!” So stand die überraschte Frau diesem Jesus gegenüber, verschlossen wie ein verfolgter Igel. Aber dort blieb sie nicht stehen. Dieser Herr sprach sie freundlich an und verwickelte sie in ein Gespräch. Und in diesem Plausch unter den Palmen wurde sie immer offener. Ein Licht nach dem andern ging ihr auf: Ich brauche mehr als Wasser aus dem Brunnen; ich brauche mehr als Liebe von den Männern; ich brauche mehr als Religion von dem Garizim. Ich brauche viel, viel mehr. Deshalb brauche ich auch mehr als einen Wundermann, mehr als einen Supermann, mehr als einen Propheten. Für meinen Lebensdurst brauch’ ich den Messias, und der am Brunnen sagte: “Ich bin’s, der mit dir redet.” Die Frau suchte etwas und fand einen. Sie suchte eine Sache und fand eine Person. Sie suchte Fleisch und Lust und fand Geist und Wahrheit. Und weil das in keinen Krug zu packen war, deshalb blieb er unbenutzt stehen.

Auch wir wären gut beraten, an unseren vermeintlichen Brunnen des Lebens, der Liebe, der Religion einmal innezuhalten und auf den zu hören, der uns freundlich anspricht. Keinen lässt er in seiner Überraschung und in seinem Schrecken stehen. Jeden will er in ein Gespräch verwickeln. Allen hat er etwas zu sagen. Und in diesem Austausch unter vier Augen könnten auch uns die Lichter aufgesteckt werden: Wir brauchen mehr als Wasser aus der Leitung, das ja doch nur jene cupiditas, jene Begierde, weckt, von der Augustin sprach und die den Menschen im Genuss vor Begierde verschmachten lässt. Wir brauchen mehr als Liebe vom Mann oder Liebe von der Frau, die so oft ersehnt, so oft besungen und so oft in den Schmutz getreten wird. Wir brauchen mehr als Religion von einem heiligen Berg, der nur in menschlichen Gehirnen ersonnen und dort hinauf projiziert wurde. Wir brauchen viel, viel mehr. Und deshalb brauchen wir auch mehr als einen Hexenmeister, mehr als einen Zauberkünstler, mehr als einen Guru. Für unseren Lebensdurst brauchen wir Jesus. Und der wurde an Himmelfahrt nicht pensioniert und auf seinen himmlischen Ruhesitz abkommanddiert, sondern von Gott erneut aktiviert. Im Geist und in der Wahrheit kam er an Pfingsten zu uns. Sicher lässt er sich in kein Gefäß packen. Weder mit der Schale unserer Vernunft noch mit der Kelle unseres Glaubens ist er zu fassen. Aber im Wort ist Jesus da. Im Sakrament ist Jesus fassbar. Im Gebet ist Jesus für jeden erreichbar. Alle sollen es erfahren: “Wer von dem Wasser trinkt, so ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten.” Es muss keiner verdursten. Es muss auch keiner Durst leiden. Lebensdurst ist seit Pfingsten stillbar.

Schauen wir noch einmal zum Jakobsbrunnen. Wir sahen den mitgebrachten und den unbenutzten Krug. Jetzt fällt noch der stehengelassene Krug auf.

3. Der stehengelassene Krug

Er blieb auf dem Brunnenrand zurück. Einsam und verlassen stand er in der Gegend, fast wie ein Modell für van Gogh. Warum wurde er stehengelassen? Nun, eine Frau hatte es eilig. An ihr Gefäß dachte sie schon gar nicht mehr. Die Samariterin konnte nicht schnell genug nach Sychar kommen. Jesus hat sie das nicht geheißen. Er gab ihr keinen Befehl. Aus freien Stücken lief sie los. Sie konnte gar nicht anders, als möglichst schnell eine Botschaft loszuwerden. Die Männer im Torbogen, die dort Siesta hielten, stieß sie an: Kommt, sehet einen Menschen! Die Frauen im Bazar, die dort einen Schwätz hielten, rief sie an: Kommt, sehet einen Menschen! Die Kinder im Hinterhof, die dort mit Steinen warfen, lud sie ein: Kommt, sehet einen Menschen, der mir alles gesagt hat! Wahrscheinlich bekam sie einiges zu hören: Du bist nicht mehr sauber! Du bist wohl übergeschnappt! Du bist total ausgeflippt! Aber sie drehte ihre Einladungsrunden weiter. Sie wurde trotz der Mittagshitze überhaupt nicht müde. Jeder musste es hören: Kommt, sehet einen Menschen, ob das nicht der Christus ist! Aus der Dürstenden nach Leben wurde die Botin zum Leben.

Und damit stehen wir vor dem Wunder des Pfingstgeistes. Wer diesem Herrn begegnet, kann diese Tatsache nicht für sich behalten. Wer diesem Herrn begegnet, kann den Mund nicht mehr halten vor solchem Glück. Wer diesem Herrn und Heiland begegnet, kann nur noch weitersagen: “Kommt und sehet!” Gerettetsein gibt Rettersinn, sagten die Väter. Deshalb haben andere nicht nur einen leeren Krug stehen lassen. Matthäus zum Beispiel ließ die Zollkasse stehen und machte sich auf die Füße. Petrus ließ den Fischerkahn liegen und marschierte los. Paulus ließ seine Kollegen im Stich und wanderte durch halb Europa. Eine lange Kette von Männern und Frauen ließen alles zurück, um dies eine weiterzumelden: “Kommt! Und wer es hört, der sage: Komm! Und wen dürstet, der komme und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.”

Jetzt sind wir dran. Tut es uns leid um das Krüglein? Hängen wir an irdenen Gefäßen? Binden uns Dinge, die wir nicht zurücklassen können? Die Welt dürstet nach Gott. Des­halb braucht es Menschen, die keinem Wasserstrudel gleichen, der alles in sich hineinsaugt, sondern Wasserquellen, die andere erquicken. Und wenn eine miese Frau dazu fähig war, wer wäre es von uns nicht? Die Geschichte vom Wasserkrug möchte auch in Ihrem Leben Geschichte machen.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]