Die Frage nach dem Wesen des Menschen
Im Buch Hiob, Kapitel 14, Vers 1, heißt es: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe.“
Was ist der Mensch? Es gibt viele Antworten, doch all diese Antworten werfen neue Fragen auf. Was ist der Mensch wirklich?
Hören wir einmal auf die Antwort eines Theologen, der ursprünglich gar keiner war. Im Land Uts wohnte er – arbeitsam, rechtschaffen und gottesfürchtig. Zehn Kinder füllten sein Haus, und zehntausend Tiere seine Ställe.
Dieser Mann war inmitten von Ackerbauern und Viehzüchtern eine fürstliche Gestalt. Doch dann jagte eine Botschaft die andere: Räuberische Beduinen überfielen seine Hirten und raubten die Rinder. Schreckliche Gewitter entluden sich über den Feldern und vernichteten seine Schafe.
Kriegerische Chaldäer überquerten die Grenze und stahlen seine Kamele. Heftige Wirbelstürme erfassten das Haus und begruben alle seine Kinder auf einen Schlag.
Hiobs Erkenntnis über den Menschen
Über diesem teuflischen Kesseltreiben gegen seinen Glauben ist Hiob zum Gottesgelehrten geworden. Er durchschaut den Menschen vor Gott in seiner Ärmlichkeit und Erbärmlichkeit.
Auf unsere Frage nach dem Menschen antwortet er in diesem kurzen Vers: Der Mensch ist nicht zuerst von seinem Woher zu begreifen, sondern vor allem von seinem Wohin.
Der Mensch ist nicht zuerst von der Pädagogik, von der Soziologie, von der Biologie oder von der Psychologie her zu verstehen, sondern vor allem von der Theologie her.
Der Mensch ist nicht zuerst vom Unterbewussten gegängelt, vom Zufall gesteuert, vom Milieu geprägt oder vom Erziehen geformt, sondern vor allem vom Tode gezeichnet, von der Schuld gebranntmarkt, vor Gericht geladen.
„Tod, Schuld, Gericht bestimmen den Menschen.“ So sagt also Hiob: Der Mensch ist vom Tode gezeichnet.
Der Tod als unausweichliche Realität
Schlagen wir eine Zeitung auf: Hinter Politik und Lokalteil folgen die Anzeigen. Schwarz umrandete Kästchen sind unübersehbar. Schmerzerfüllt teilen wir mit, dass jemand plötzlich aus unserer Mitte gerissen und in die Ewigkeit abgerufen wurde. Es gibt kaum eine Ausgabe ohne Todesnachrichten. Jeder hat es schwarz auf Weiß: Menschen sterben.
Machen wir einen Krankenbesuch. Der Patient wurde in ein Einzelzimmer verlegt. An seinem Bett steht eine Sauerstoffflasche, und zugezogene Vorhänge halten das Licht ab. Eine Unterhaltung ist nicht mehr möglich. So legt man seine Hand auf die heiße Stirn des Fiebernden. Auch ohne Auskunft des Arztes ist klar: Der Todeskampf hat begonnen.
Gehen wir in ein Pflegeheim. Der einst vitale Nachbar ist nicht wiederzuerkennen. Er erkennt den Besucher nicht mehr. Auf dem Rollstuhl sitzt ein zusammengefallenes Bündel Mensch. Man fragt sich, ob das Sterben nicht eine Erlösung wäre.
Die persönliche Konfrontation mit dem Tod
Oft denken wir ans Sterben, doch denken wir auch an unser eigenes Sterben? Oft sprechen wir vom Ende, aber sprechen wir auch von unserem eigenen Ende? Oft sehen wir den Tod, doch sehen wir auch unseren eigenen Tod?
Hiob blickt nicht in die Zeitung, nicht in die Krankenstube und nicht ins Sterbezimmer. Er schaut in den Spiegel und klagt: „Meine Tage sind schneller als Läufer, sie fliegen wie Weberschifflein, sie verwelken wie eine Blume.“
Die Zeichen des Todes sind unübersehbar – auch bei uns. Dennoch wollen wir sie nicht wahrhaben, wir wollen sie verdrängen oder irgendwie überdecken. Vielleicht färben wir die grauen Haare, cremen die kleinen Fältchen ein oder pudern die großen Poren. Doch der Zerfallsprozess ist nicht aufzuhalten.
Die Hoffnung über den Tod hinaus
Eines Tages ist es auch für uns so weit: Wir alle sind vom Tod gezeichnet, weil dem so ist. Deshalb ist Hiobs Lage so, dass es Gott erbarmt.
Von drei Freunden, die sich als leidige Tröster entpuppen, wird er im Stich gelassen. Sie haben noch ein paar fromme Sprüche auf Lager. So geht seine Klage durch die Jahrhunderte: Kyrie eleison, Herr, erbarme dich!
Gott stellte sich nicht taub. Seine Ohren sind nicht verstopft. Er hat diese Klage gehört und erhört. In Jesus Christus wurde er Mensch, vom Weibe geboren, von Maria zur Welt gebracht. Er lebte nur kurze Zeit – dreiunddreißig Jahre.
Jesus ging auf wie eine Blume zur Freude vieler Elenden, fiel aber ab in der Eiseskälte der Herzen. Er floh wie ein Schatten bei der Sonnenfinsternis über Golgatha und blieb nicht.
Aber Gott ist geblieben. Er rief seinen Sohn aus dem Grab heraus. Seither hat die Todeswand ein Loch, seither ist das Grab keine Todeszelle mehr. So hat es David Livingstone, der englische Missionar, gesagt: Seither ist der Tod ein glorreiches Ereignis für den, der Jesus kennt.
Der Glaube als Antwort auf die Endlichkeit
Im Glauben an diesen Herrn ist mein Sterben kein Abbruch, sondern ein Aufbruch. In der Liebe zu diesem Herrn ist mein Tod kein Auszug, sondern ein Umzug. In der Hoffnung auf diesen Herrn ist mein Grab keine Endstation, sondern eine Durchgangsstation.
Altenzimmer, Krankenzimmer und Sterbezimmer werden zum Vorzimmer der Ewigkeit. Mit Hiob sind wir vom Tode gezeichnet, aber mit Jesus sind wir vom Leben bestimmt.
Der Märtyrer Dietrich Bonhoeffer konnte auf die Frage nach dem Menschen so antworten: Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, dein bin ich, oh Gott!
Wollen Sie, lieber Zuhörer, es ihm jetzt nicht nachsprechen? Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!