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Einer versteht mich

Johannes 10,14

Einführung: Die Stimme des guten Hirten und das Kennen der Menschen

Herr Präsident, liebe Freunde, ich möchte Sie heute Abend mit dem Wort Jesu grüßen: „Ich bin der gute Hirte.“ Dieses Wort ist bereits in dem, was Herr Diakon Peter uns gesagt hat, angeklungen. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie.“

Doch wer kennt uns eigentlich richtig? Wer versteht uns wirklich?

Ich sehe mich noch als jungen Vater, wie mein Ältester im ersten Schuljahr so in die Schule getrottet ist. Es hat ihn nicht besonders hingezogen, wie man auf Schwäbisch sagt, so ein bisschen versirmelt. Und ich habe gedacht: Wer versteht denn mein Büblein mit seinen vielen Eigenheiten und Besonderheiten, die er von meiner Frau hat und ein paar auch von mir?

Aber sehen Sie, da fängt es schon an: Kennen wir uns selbst mit unseren Besonderheiten?

Ich erlebe es immer wieder, wenn ich mich vorstelle als Chefbuch, dass Leute mich fassungslos ansehen: „Aber doch nicht der Rolf-Chef-Buch von Schöndorf oder Ulm?“ Da merke ich, sie haben gar nicht damit gerechnet, dass der Chefbuch ein menschenähnliches Aussehen hat. Das ist schon ein Bild, das man von einem Menschen hat. Vielleicht haben sie es zu Recht von mir.

Und ich sehe immer nur meine guten Seiten: Was bin ich für ein guter Kerl!

Vielleicht ist es Ihnen auch schon so gegangen. Wird ein Familienfoto gemacht, bei einem Festtag, bei einer Hochzeit oder einer Vierzigerfeier, dann bekommen Sie nachher einen Abzug. Und da schaut man ja zuerst nach sich selbst, oder?

Wir sind ja keine Egoisten, aber man dürfte auch zuerst nach sich gucken. Es darf doch nicht wahr sein! Was hat der Fotograf für einen schlechten Film eingelegt? Oder hat er eine schlechte Kamera? Ich bin doch nicht so, oder?

Das unbestechliche Auge der Kamera hat gezeigt, das schwabbelige Gesicht. Wie gut ist es, dass man eine Brille hat und weiß, was vorne und hinten ist. Vor dem Spiegel kann ich mich so hinstellen, dass die paar Haare gerade noch einigermaßen gut aussehen.

Doch wer bin ich denn wirklich?

Selbstreflexion und das Erkennen der eigenen Schwächen

Wir wissen von Dietrich Bonhoeffer, dass er im Gefängnis das ergreifende Gedicht „Wer bin ich?“ geschrieben hat.

Sie sagen, ich trete aus meiner Zelle heiter und gelassen wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. Wer bin ich?
Sie sagen, ich trüge die Tage des Leides wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin ich das – oder hilflos, erschrocken wie ein Vogel im Käfig? Wer bin denn ich?

Unser Altlandesbischof Hans von Kehler hat uns als Dekanen immer wieder gesagt: Achten Sie darauf, wenn Sie Pfarrer visitieren, dass Sie nicht bloß die Schattenseiten eines Menschen sehen.

Wir entdecken ja sehr schnell Schattenseiten. Meist ist die Gegenseite einer Schattenseite eine Qualität. Wenn jemand impulsiv und quirlig ist, so dass er uns beinahe auf die Nerven geht, dann kann er auch viel in Bewegung setzen.

Und der andere, der uns ein bisschen langweilig vorkommt, kein großer Redner ist, vielleicht aber ein großer Seelsorger, der gut zuhören kann.

Derjenige, der einen unaufgeräumten Schreibtisch hat, ist oft jemand, der viel mit Menschen zu tun haben will und dem das Papier oben auf dem Schreibtisch nicht so wichtig ist.

Seht nicht bloß die Schattenseiten, sondern erkennt, dass meist die Gegenseite eines Defizits oder Mangels eine Qualität eines Menschen ist. Seht auch die erfreulichen Seiten – selbst bei denen, die uns auf die Nerven gehen.

Wir leben ja meist nah beieinander und hören mit, wenn im Nachbarhaus oder im Obergeschoss der Haussegen schiefhängt. Wenn Türen knallen und man Geschrei hört, lächeln wir verständnisvoll, weil wir wissen, dass das auch anderen passiert – dass sie sich nicht immer im Griff haben.

Verstehen wir auch, dass es Menschen gibt, die vielleicht mit blank gescheuerten Nerven leben und uns brauchen: Männer, die nicht mehr können, weil sie in ihrem Beruf bis zum Letzten gefordert sind; Mütter, die erschöpft sind; Kinder, die sich nach Freiheit sehnen.

Kennen wir unseren Mitmenschen wirklich? Wissen wir, was ihn bewegt?

Das Gebet als Ausdruck des Vertrauens und der Gemeinschaft

Aber jetzt wollen wir das Abendgebet sprechen, wenn die Glocke läutet, zu diesem Bibelwort: „Ich bin der gute Hirte, ich kenne die Meinen.“

Hirte deiner Schafe, der von keinem Schlaf etwas wissen mag,
deine wundermilde Hand diente mir zum Schilde am vergangenen Tag.

Sei die Nacht auch auf der Wacht,
und lass mich von deinen Scharen um und um bewahren.

Lass auch meine Lieben keine Not betrüben,
sie sind mein und dein.

Schließ uns mit Erbarmen in den Vaterarmen ohne Sorgen ein.

Ich bei dir und du bei mir,
also sind wir ungeschieden,
und ich schlafe im Frieden.

Amen.

Das Kennen der Mitmenschen und das Erkennen ihrer Stärken

Kenne ich mich selbst? Kenne ich meine Mitmenschen? Oft blicken wir mit entlarvenden Augen auf andere und entdecken ihre Schwächen. Gott sei Dank gibt es aber auch gütige Augen.

Hier im Oberland gibt es manche begnadete Erzieher. Ein Pfarrer erzählte mir, dass einer meiner Jungen zum zweiten Mal in der Schule durchgefallen sei. Das ist ja auch ein Pfarrerschicksal: Der Vater wird versetzt, und das Kind bleibt sitzen.

Der Oberstudiendirektor sagte, in unserer Anstalt sei kein Platz für seinen Sohn. Er meinte, der Junge sei falsch im Gymnasium eingeschult worden. Man könne es ja noch an einer Privatschule versuchen, ob er dort aufgenommen werde.

Der Vater fuhr mit zitterndem Herzen nach Wilhelmsdorf, denn dort gebe es einen guten Pädagogen. Zusammen mit seinem Sohn ging er hin. Der Oberstudiendirektor fragte, ob der Junge auch das Zeugnis mitgebracht habe. Dann las er vor: Mathematik fünf, Latein vier, Englisch fünf, Geographie vier – so ging es weiter.

Der Vater sagte, er habe gedacht, er käme zu einem guten Pädagogen, doch jetzt erniedrige dieser seinen Sohn. Am Schluss fragte der Oberstudiendirektor: „Ist das alles?“

„Ha, da sind wir noch mit ganz anderer Sache fertig geworden“, antwortete der Vater. „Nur zwei Fünfer. Mensch, ich habe schon Leid durchgemacht mit drei Sechsern.“

Mit tränenden Augen sagte der Vater zu mir: „Zum ersten Mal hatten mein Sohn und ich wieder Boden unter den Füßen.“

Die besondere Bedeutung der Augen Jesu

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass bei den vielen Gemälden von Jesus die Haartracht unterschiedlich dargestellt wird? Auch das Gewand variiert. Dennoch haben sich die Künstler in allen Jahrhunderten bemüht, die Augen Jesu mit besonderer Liebe darzustellen.

Wir wissen ja gar nicht viel über Jesus, ob er groß oder klein gewachsen war. Aus der Bibel geht jedoch hervor, dass es offenbar den Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes wichtig war, wie oft berichtet wird, dass einzelne Personen Jesus sahen – nicht die Menge, sondern einzelne. So sagt Jesus zu Nathanael: „Als du unter dem Feigenbaum saßt, sah ich dich.“

Bis hin zum Kreuz Jesu, als er in seinem Leiden so in der Not war, denken wir oft nur an uns selbst und wie man mit uns umgeht. Doch Jesus sagte: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Worte richtete er an die Henkersknechte, die ihn kreuzigten.

Auch als Jesus Maria und Johannes begegnete, zeigte sich seine besondere Wahrnehmung. Er sagte zu Maria: „Das ist dein Sohn.“ Und zu Johannes: „Das ist deine Mutter.“ Johannes sollte sich um Maria kümmern.

Als in jenem Haus der Gelähmte durch das Dach heruntergelassen wurde – von vier Freunden, die die Matratze an Stricken herabließen – war Petrus wahrscheinlich verärgert. Er sah die Unordnung und dachte sich: „Was für eine Schweinerei, dass man uns den Dreck auf den Kopf schüttelt.“ Doch Jesus sah die Situation anders. Er erkannte den Glauben der vier Freunde und das Zutrauen, das sie zeigten.

Jesus sah auch die verkrampften Hände des Gelähmten, die jeden Finger nach Heilung schrien. Doch er erkannte die eigentliche Not: „Mein Sohn, dir sind die Sünden vergeben.“

Bei den Pharisäern und Schriftgelehrten sah Jesus, dass sie nicht daran glaubten, dass er etwas tun könne. Sie dachten: „Sünden vergeben kann doch nur Gott.“ Als Jesus ihre Gedanken sah – wie durch eine Tomografie – erkannte er ihre Zweifel und Ablehnung.

Wie gut ist es, dass Jesus mit seinen gütigen Augen durch und durch sieht und uns versteht!

Als die Jünger bei Nacht Not litten und auf den Wellen sahen, kam Jesus zu ihnen. Andere hätten den reichen jungen Mann nur als eingebildeten Fatzke abgetan, der immer gleich in religiöse Diskussionen gehen wollte und in den Himmel kommen wollte. Doch Jesus sah ihn an und liebte ihn.

Als bei Petrus das passierte, was er sich eigentlich verboten hatte zu denken – „Wenn alle dich verlassen, ich nicht, auf mich kannst du bauen“ – und er seinen Herrn verleugnete, sah Jesus ihn an. Nicht mit vorwurfsvollen Augen, sondern mit der Gewissheit: „Petrus, du weißt, ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre.“

Jesus als verständnisvoller Hirte in unserer heutigen Zeit

Stellen Sie sich vor, das würde uns heute gelten – nicht nur als alte Geschichten. Jesus versteht Menschen durch und durch. Mit gütigen Augen blickt er auf sie. Auch wenn wir nach außen hin ganz sicher wirken, sieht er, wie kaputt wir sind und dass wir eigentlich nicht mehr können.

Liebe Freunde, nach jahrzehntelanger seelsorgerlicher Tätigkeit habe ich den Eindruck, dass kaum ein Mensch mehr kann. Unsere Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und die Diakonie – sie alle können nicht mehr. Das gilt bis hinauf in die Führungsetagen der Wirtschaft. Es sind nicht die Bosse, die wir kritisieren müssen; auch sie können nicht mehr. Die Vorstandsetage trägt alles mit, bis es schiefgeht. Dann ist der Chef, der Vorstandsvorsitzende, dran – ganz allein.

In der Politik ist es ähnlich. Der Teufel und Herr Kohl – sie haben doch auch bloß 1200 Gramm Gehirn wie wir und sollen die Weltprobleme lösen. Oft sind sie sterbens einsam. Jeder Berater drückt sich und sagt: „Ja, Sie sind der Chef, Sie bestimmen die Richtlinien der Politik.“

Man hat den Eindruck, dass nicht nur Mütter, Väter, Lehrer, Richter und Ärzte kaputt sind – und wir dafür kaum ein Auge haben – sondern dass Jesus heute auch die ganze Menschheit so sieht, wie es uns berichtet wird. Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn. Schwäbisch übersetzt heißt das: Es verbarmte ihn. Denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten hatten.

Die Realität des Glaubens und das lebendige Jesusbild

Wenn es das gäbe, dass Jesus heute auch so gegenwärtig wäre – das steht im Einklang mit etwas, das ich keinem Menschen sagen kann.

Oberkirchenrat Hans Schäfer aus Thüringen wird ab morgen das Vorrecht haben, dass Bruder Habicht uns die Vorträge hält. Bei uns heißt er dann nicht Holster Geier, sondern Holster Habicht. Er stammt aus Thüringen, aus der Kirche, deren Geschichte uns Oberkirchenrat Schäfer erzählt hat.

Als junger Pfarrer war er in drei Filialdörfern tätig. An Sonntagen ging er mit seinem Kantor über Land, um die schlecht besuchten Gottesdienste zu besuchen. Der Kantor musste jeden Sonntag dreimal die Predigt von Pfarrer Schäfer anhören. Einmal, als sie gerade über Sand gingen, sagte der Kantor: „Herr Pastor, wenn man Ihnen so zuhört, könnte man glauben, Jesus gibt es wirklich.“

„Ja, Jesus gibt es wirklich“, antwortete der Pfarrer.

Goethe konnte sterben, Schiller, Doktor Sauerbruch und Mahatma Gandhi auch – Menschen, die uns heute an vielen Stellen hätten helfen können. Auf sie kann Gott verzichten. Aber auf einen hat er nicht verzichten wollen: auf Jesus. Den hat er aus dem Grab herausgeholt.

Diesen Jesus brauche ich, und diesen braucht ihr. Jesus lebt heute, und wenn uns jemand versteht, dann er.

Die besondere Beziehung des Hirten zu seinen Schafen

Ich bin der gute Hirte, meine Schafe hören meine Stimme, ich kenne sie.

Ich habe von einem Fachmann erfahren, dass Schäfer, also Hirten, ihre Schafe an ihren Besonderheiten erkennen, obwohl sie alle ähnlich aussehen. Oft sind es kleine Makel, an denen sie die einzelnen Tiere unterscheiden. Das eine Schaf hat ein zerrissenes Ohr, das zweite frisst nicht so gern, das dritte bleibt immer etwas zurück und trödelt, das vierte lahmt auf einem Bein. Der Fachmann erkennt seine Schafe an ihren Schwächen.

Wenn Jesus sagt: „Ich bin der gute Hirte“, dann brauchen wir unsere Fehler nicht zu verstecken. Bei Jesus herrscht eine große Ehrlichkeit. Er hat nicht nur gesagt, dass er der gute Hirte ist, sondern auch, dass er als Arzt für die Kranken gekommen ist.

Jesus als Arzt, der unsere Schwächen kennt und heilt

Sie wissen, wie es beim Arzt ist. Wenn man im Sprechzimmer aufgerufen wird, fragt der Arzt: „Wo fehlt es?“

Keiner wäre so töricht zu sagen: „Herr Doktor, mir geht es gut, ich kann alles essen, ich schlafe wunderbar, ich kann noch joggen, mir geht es gut.“

Der Arzt würde dann sagen: „Entschuldigung, dann sind Sie hier fehl am Platz. Bitte gehen Sie raus. Draußen wartet noch das Wartezimmer voller Menschen, die meine Hilfe brauchen.“

Wenn Jesus der große Arzt ist, der uns kennt und uns nur in die Augen schauen muss, um zu sagen: „Die gefallen mir nicht recht, was ist los?“, dann dürfen wir bei ihm wahrhaben, wo es uns fehlt.

Ich möchte vorschlagen, dass Sie heute Abend noch ein Blatt Papier nehmen und aufschreiben, wo Sie erkennen, dass es bei Ihnen fehlt. Jesus kennt es, aber es ist gut, wenn man es ihm sagt und sich seiner Behandlung ausliefert.

Denn nicht nur wie bei dem Oberstudiendirektor von Wilhelmsdorf oder bei einem guten Arzt – die wollen doch helfen, auch wenn an vielen Stellen unseres Lebens etwas ungenügend ist.

Wir wollen es doch miteinander schaffen. Und Jesus kann uns erst helfen, wenn wir es wirklich selbst vor uns wahrhaben: „Ich brauche dich, Herr Jesus, ich brauche dich als den Arzt, ich brauche dich als den Hirten, der mich versteht.“

Persönliche Erfahrungen und der Vergleich mit anderen Religionen

Ich habe in meiner Tätigkeit als Pfarrer, als Synodaler und als Mann des Jugendwerks viel Gelegenheit gehabt, zu Christengemeinden auf anderen Kontinenten zu reisen. Dabei hatte ich auch die Möglichkeit, viele Tempel anderer Religionen zu besichtigen.

Wie wirken die Augen des goldenen Buddhas in Bangkok? Über die hinweg, die vor ihm ihre Blumengebinde und Fettopfer niederlegen. Wie kalt erscheinen die Augen Vishnus? Wie zornig blicken die Augen vieler Götterbilder in Afrika.

Einer aber versteht mich durch und durch mit seinen gütigen Augen: dieser Jesus, der mein Leben neu machen will. Wie gesagt, wir müssen uns nicht verstellen, sondern können ihm sagen: So sieht es bei mir aus, weil Jesus etwas in meinem Leben bewirken möchte.

Die Angst vor der Fremdheit in Beziehungen und die Sicherheit bei Jesus

Wir brauchen auch keine Angst zu haben. In vielen Ehen ist die Angst präsent: „Mensch, wir passen doch gar nicht zusammen.“ Je länger wir verheiratet sind, merken wir, wie fremd wir uns sind.

Wenn schließlich herauskommt, dass wir uns absolut nicht verstehen, dass das eine Mesalliance ist – nebenbei gesagt, jede rechte Ehe ist eine Mesalliance – dann macht das Leben erst interessant. Wäre es nämlich so, dass gleich und gleich sich gesellig zusammenfinden, wäre das stinklangweilig, nicht wahr?

Aber der Schrecken ist da: Wir sind so anders, wir sind so fremd!

Bei Jesus brauchen wir diese Angst nicht zu haben, dass die Abgründe in unserem Leben zum Vorschein kommen könnten. Herr, du kennst den Grund unseres Herzens, auch das, was ganz tief unten verborgen ist, was sich abgesetzt hat wie ein Sumpf.

Gerade deshalb bin ich sein Fall, weil er nicht nur ein Liebhaber ist, der nach einer Geliebten Ausschau hält, sondern weil er der Arzt ist, der Hirte, der das Verirrte sucht. Gerade deshalb, weil in unserem Leben diese Sprünge sind, diese Abgründe, diese Verzweiflung, die uns nur wie eine Papierwand vom Abgrund der Verzweiflung trennt.

Zweifel, Verzweiflung und das Finden Gottes

Der große dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard hat gesagt, man habe lange geglaubt, Gott zu finden, indem man alles anzweifelt – auch die Bibel und die Religion. Wir kennen das ja aus der Theologie: große Zweifel.

Doch es wird eine Zeit kommen, in der der Ausgangspunkt, das Absolute zu finden, Gott zu finden, nicht mehr der Zweifel ist, sondern die Verzweiflung an sich selbst. Ich kann doch gar nichts.

Wir waren zu Hause sechs Geschwister und hatten großartige Eltern. Unsere Mutter hat uns, wie auch unser Vater, ganz entscheidend viel mitgegeben. Aber einmal hat die Mutter in Verzweiflung gesagt: „Ich habe bei eurer Erziehung alles falsch gemacht.“

Wir haben nur das Gute gesehen, das wir von unserer Mutter bekommen haben. Aber sie hat vor Gott erkannt, was sie falsch gemacht hat – wo sie vielleicht zu streng war, wo sie zu lax war. „Ich habe alles falsch gemacht.“

Liebe Freunde, das kann über uns kommen, wenn die Kinder heranwachsen und sich entdecken, was man ihnen schuldig geblieben ist, was man falsch gemacht hat. Da helfen keine Erziehungsbücher. Haben Sie schon jemanden gesehen, der in der Erziehung alles richtig gemacht hat?

Man wird immer an den Menschen, die den eigenen Lebensweg begleiten, schuldig werden. Und die Mutter hat es erkannt: „Alles habe ich falsch gemacht.“

Dieses Wort „alles“ tauchte noch einmal auf, als sie ganz plötzlich vor zwölf Jahren verstorben ist – am dritten Herzinfarkt. Ich war gerade auf dem Rückflug von Thailand. Meine beiden Brüder wurden aus der Synode herausgerufen, um ans Sterbebett zu kommen.

Als sie ankamen, war die Mutter bereits gestorben. Aber neben dem Sofa, auf dem sie gestorben war – denn ein Sterben ist oft ein harter Kampf, ähnlich wie bei der Geburt, ein Ringen um das Leben und um das Sterben – hatte sie einen kleinen Zettel geschrieben. Darauf stand: „Alle, alle meine Sünden – Er hat Jesus weggenommen.“

Die Vergebung und das Heilwerden durch Jesus

Ich habe vieles falsch gemacht, und Jesus, der Hirte der Menschen, will alles wieder in Ordnung bringen. Er sagt nicht zu uns: „Ach, nimm es nicht so tragisch, du hast doch manches gut gemacht. Wenn alle so wären wie du, dann wäre es gut.“ Nein, Jesus geht genau dorthin, wo es wirklich falsch war.

Zum Beispiel, als ich dem alten Opa harte Worte gesagt habe, die ich nicht mehr zurücknehmen kann. Heute war ich bei einer Beerdigung. Ich hätte diese Frau, die dort beerdigt wurde, in den letzten Jahren ein paarmal besuchen sollen, wenn ich in Tübingen war. Aber ich dachte immer, das reicht noch später.

Bei jeder Beerdigung wird uns bewusst, was wir schuldig geblieben sind. Das dürfen wir vor Jesus ehrlich zugeben, denn er ist gekommen als einer, der uns versteht – mit unserem Erschrecken über uns selbst. Gerade wenn wir über uns selbst erschrecken, sind wir sein Fall. Wir sollten uns davor nicht wegducken.

Jesus hat einmal das schöne Wort gesagt: „Oh, wie oft habe ich euch versammeln wollen.“ Wissen Sie, wie es weitergeht? Wie eine Glucke, die ihre Küken unter ihre Flügel sammelt. Wir sind doch eigentlich starke Männer. Aber in Wirklichkeit sind wir es nicht.

Wir Männer tun nur so. Wenn wir Kinder gebären müssten, würden wir an jeder Geburt sterben. Die Frauen sind das starke Geschlecht. Doch auch wir brauchen uns nicht stark zu geben. Wir sind wie kleine Biber, die die Wärme der Gegenwart Jesu brauchen. Er versteht uns durch und durch und will uns bergen – uns armselige, gefährdete Menschen.

Die liebevolle Fürsorge Jesu für die Schwachen

Was für Bilder! Ich bin gekommen, das verlorene Schaf zu suchen, das wärmebedürftige, schutzlose Küken unter die Flügel zu sammeln. Vielleicht versteht uns Jesus besser, als wir oft denken.

Mit all meiner Erfahrung und allem, was Gott an Können in mein Leben gelegt hat, bin ich doch oft nur wie ein rohes Ei – verletzlich. Und genau das kennt Jesus. Da muss ich nichts vorspielen. Er kennt mich durch und durch.

Sagen Sie heute Abend einfach: „Ich brauche Dich, Herr, ich brauche Dich.“ Es ist gut zu wissen, dass Du mich verstehst und ich nicht vor Dir schauspielern muss.

Das ehrliche Bekenntnis vor Gott

Ein letztes Mal: Die Zeit ist schon wieder beinahe vorbei.

Lassen Sie uns ehrlich sein und vor Gott aussprechen: So bin ich wirklich. Ich bin gut, dass dein Auge mich sieht. Ich möchte vor deinem Auge leben.

Wir sind einmal eingeschneit worden in einer Hütte und mussten warten, bis wir freigeschaufelt werden konnten. Da hat jemand gesagt: „Lasst uns doch einmal einen Brief an Gott schreiben mit all dem, was bereinigt werden muss zwischen Gott und uns.“

Es waren unvergessliche drei Stunden der Ruhe in dieser Hütte. Ab und zu hörte man Schritte, wenn jemand noch ein zweites oder drittes Blatt Papier holte. Es war eine Beichte vor Gott, nicht vor Menschen.

Herr, ich brauche dich, ich brauche dich. Nicht wegducken, ich brauche dich, ich bin arm. Nicht weglaufen, du verstehst mich doch. Herr, ich brauche mich auch nicht zu entschuldigen, ich muss mich nicht besser machen. Ich muss nicht sagen, die anderen sind doch auch nicht besser. Du verstehst mich. Durch und durch.

Und du weißt auch, dass ich anders werden will. Du weißt, dass in meinem Leben ein Hunger ist, dass es besser wird, dass ich heil werde. Herr, ich möchte doch nicht im Dreck steckenbleiben. Du verstehst mich.

Die Gefahr der Selbstberuhigung und der Aufruf zur Ehrlichkeit

Das ist das Letzte, was ich Ihnen sagen möchte: sich nicht zu beruhigen.

Wenn unser Gewissen vom Herrn Jesus berührt wird, besteht die Gefahr, dass wir uns schnell wieder durch all das, was auf uns einstürmt, beruhigen.

Ich habe einen Pfarrer erlebt, der genial war. Er war in einem Ort, in dem es sehr viel Tunichtgute gab. Bei einer besonders schwierigen Beerdigung hatten die Angehörigen gesagt: „Ja, unser Vater, wie er für uns gesorgt hat, und er hat es sein Leben lang geschafft.“ Jeder wusste eigentlich, dass die Familie vor dem Vater zitterte.

Der Pfarrer überlegte, wie er es machen sollte. Sollte er vor der versammelten Trauergemeinde lügen, obwohl alle wussten, wie es wirklich war? Schließlich entschied er sich, es so zu machen: Er sagte, „Wir beklagen heute das Ableben von dem und dem. Ihr wisst ja selbst, wie er war.“ Punkt.

Er hat alles gewusst, nicht wahr? So können auch wir sagen: „Herr Jesus, du weißt, wie ich bin. Ich wäre gerne ein bisschen anders, aber es klappt eben nicht.“

Doch Jesus möchte etwas Neues machen. Er ist wie ein Arzt, der herausgefordert wird durch die Krankheit eines Menschen. Er möchte unsere Not und unsere Schwachheit in den Griff bekommen.

Die Hoffnung auf Gottes große Tat im Leben

Martin Luther hat einmal gesagt: Niemand verliert den Glauben daran, dass Gott durch ihn eine große Tat tun will, bis ihm gesagt wird: „Lassen Sie den Glauben nicht fallen, dass Gott an Ihnen Großes tun will, mehr als Sie je bisher erlebt haben.“

Deshalb gibt es ein großartiges Gebet in der Bibel, im Psalm 139. Dort heißt es: „Herr, du erforschst mich und kennst mich. Du verstehst jedes Wort, noch bevor es über meine Lippen geht, weißt du, was ich sagen will. Du kennst mich, bevor ich überhaupt geboren war, als ich im Mutterleib geformt wurde.“

Der Beter schließt mit den Worten: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz. Prüfe mich und erfahre, wie ich es meine. Sieh, ob ich auf bösem Weg bin, und leite mich auf ewigem Weg.“

Das bedeutet: Herr Jesus, manchmal weiß ich selbst nicht, ob ich auf dem richtigen oder falschen Weg bin. Aber du weißt, ob ich mir selbst etwas vormache oder ob ich nur fromm tue. Nun pack mich an, du siehst durch mich hindurch. Du weißt, was für mich das Richtige ist, und führe mich auf ewigem Weg.

Einer versteht mich durch und durch – uns, unsere Kinder und die vielen angefochtenen Menschen. Einer, der sich nicht mit Grausen abwendet, wenn er sieht, welche Fehler in uns sind, sondern sich wie ein Arzt, wie ein Hirte erst recht uns zuwendet.

Das wollen wir ihm jetzt dankbar im Gebet sagen: Dass wir ihn brauchen.

Schlussgebet: Das Vertrauen auf Jesus als Hirten und Arzt

Herr Jesus, Du hast schon so oft auf uns geschaut, ohne dass wir es bemerkt haben. Deine ewige Welt ist gar nicht so weit entfernt.

Du verstehst unsere Einwände, unseren Zweifel, die Härte unseres Herzens, unsere Verlässlichkeit und unsere Ungeduld. Oft können wir gar nicht wahrhaben, wie viel wir schon falsch gemacht haben. Doch Du hast Augen der Liebe und willst nur eines: dass wir auf dem Weg zu Dir weiterkommen und heil werden.

Gib uns jetzt die Kraft, uns nicht wegzuducken, sondern fest vor Dir zu stehen. Herr, ich brauche Dich, ich brauche Dich. Leite mich auf dem ewigen Weg! Amen!