Folget mir
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]
Schwarze Wolkenbänke schoben sich seit Tagen über die brasilianische Serra. Wie aus Kübeln gegossen stürzte das Wasser auf das heiße Land. "Ausgiebige Regenfälle in Santa Catarina" meldete der Rundfunk. Dann schluckte das Erdreich nichts mehr. Der Jaraguá-Fluss trat über die Ufer. Ein Staudamm brach zusammen. Die Flutkatastrophe war da. Im Städtchen Waldburgo saßen sie in der Falle. Ringsum stieg das unheimliche Meer. Die Todesfurcht ging um wie ein Gespenst. "Kämpft!" rief der Ortsvorsteher und zeigte die Faust. Einige ließen sich anstecken und griffen nach Hammer und Nägeln. Mit eigener Kraft muss das zu schaffen sein. "Vergesst!" lachte der Barkeeper und öffnete seine Kneipe. Viele ließen sich einladen und kippten den Zuckerrohrschnaps hinunter. "Freuet euch des Lebens, solange das Lämpchen noch glüht." "Träumt!" flüsterte der Capoglo und schlug seine Gitarre im Sambarhythmus. Die meisten ließen sich einschläfern und legten sich unter das Vordach. Visionen muss der Mensch haben. Aber im Grunde wusste jeder: Alles kämpfen nützt nichts. Alles Vergessen nützt nichts. Alles Träumen nützt nichts. Wir sind gefangen. Wir sind eingeschlossen. Wir sind verloren. Und dann tauchte einer auf, von dem man gar nicht so recht wusste, woher er kam. Er sah aus wie ein Waldburger und sprach auch ihren Dialekt. "Folgt mir!" sagte er: "Ich kenne eine Furt. Ich weiß einen Steg. Ich zeig' euch den Weg!" "Betrüger!" tönte es von der Baustelle. "Scharlatan!" schallte es aus der Kneipe. "Spinner!" klang es unter den Vordächern. Dass es aber in Wirklichkeit ein Retter war, der sie vor dem Tod rettete, merkten nur die, die ihm folgten. Waldburgo ging in der Flut unter.
Liebe Freunde, unsere Welt kennt noch eine ganz andere Flut: Hungerflut, Kriegsflut, Krankheitsflut, Schmerzflut, Trauerflut. Die Flutkatastrophe ist da. In unseren Städten und Dörfern sitzen wir in der Falle. Ringsum steigt das unheimliche Meer von Tränen. Die Todesfurcht geht um wie ein Gespenst. "Kämpft!" ruft der Realist und zeigt Hammer und Sichel. "Vergesst!" lacht der Optimist und prostet mit dem Glas. "Träumt!" flüstert der Utopist und verliert sich in Visionen. Aber im Herzensgrund weiß jeder: Alles nützt nichts. Die Fluten umklammern uns. Wir sind verloren. Und dann taucht einer auf, von dem viele gar nicht mehr wissen, woher er kommt. Er sieht aus wie wir und spricht unsere Sprache. "Folget mir!" sagt er. "Ich kenn' eine Furt durch die Flut. Ich weiß einen Steg durch den Tod. Ich zeig' euch den Weg zum Leben." Auch wenn sie ihn Betrüger und Scharlatan und Spinner schimpfen, Jesus ist in Wirklichkeit der Retter, der vor dem Tode rettet. Sein "Folge mir" ist kein Kommando des Feldwebels, der uns herumexerzieren will: "Rechtsum! Linksum! Abteilung marsch!" Sein "Folge mir" ist kein Befehl des Polizisten, der uns verhaften will: "Folgen Sie mir unauffällig!" Seine "Folge mir" ist kein Lockruf des Sektierers, der uns verführen will. "Folge mir" ruft der Heiland, der unser Unheil kennt und unser Heil will. Nachfolge ist die einzige Möglichkeit der Rettung. In drei Kurzgeschichten, die wie Blitzlichter drei Männer ins Licht rücken, wird dies näher erläutert.
1. Folge mir ohne Illusion
Der erste Mann schaut nach vorne. Seine Augen hat er weit aufgerissen. Etwas Schwärmerisches liegt auf seinem Gesicht. Natürlich sieht er nur Wasser, wohin der Blick auch geht, aber vor seinem inneren Auge steht der Ausweg schon fest: eine breite, weite, große Prachtstraße, mindestens wie die Via Appia in Rom, auf der der Verkehr nur so dahinflutet. Wenn schon Mose sein Volk auf einem Gehweg durchs Rote Meer geführt hat, wird es Jesus auf einer Chaussee tun. Der Rettungsweg ist die illuminierte Strandpromenade, auf der das Flanieren Spaß macht. So hebt der Mann beide Arme, öffnet die Handflächen nach oben und singt im Brustton der Überzeugung: "Herr Jesus, dir nach, weil du rufst!" Aber Jesus zerstört diese Illusion. Er mag keine Luftballons. Spanische Schlösser dürfen im Glauben nicht gebaut werden. Sein Weg, den er als Fluchtweg anzubieten hat, ist der Leidensweg. Mit Hass hat es schon angefangen. Es machte Schwierigkeiten, überhaupt einen Winkel für seine Geburt zu finden. Kaum ist er im Stall geboren, da bekommt er es mit den Behörden zu tun, die seine Liquidation beschließen. Schon als Säugling ist dieser Jesus Asylant in Ägypten. Später wird er in seiner Vaterstadt nicht mehr ernst genommen: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Mit einer Handvoll Jünger zieht er durch das Land. Beargwöhnt, belächelt, bemitleidet. Die Masse jubelt ihm zu, aber nur dann, wenn er Brot für den Magen auf den Tisch legt. Vom Brot des Lebens wollen sie nichts wissen. Er hat kein Dach überm Kopf: "Die Füchse haben Gruben, die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlegt." Immer wieder ruft er: "Kommet her, ihr Mühseligen und Beladenen, ihr Geschlagenen und Geplagten, ich will euch den Weg durch das Wasser zeigen!" Aber die meisten zeigten ihm die kalte Schulter. Schließlich wird er verhaftet. Auch seine Treusten schlagen sich seitwärts in die Büsche. Grenzenlos allein steht er vor seinem Richter. Er wehrt sich nicht gegen die Dornenkrone, die sie ihm in den Kopf treiben. Er lässt sich gefallen, dass sie ihm ins Gesicht spucken. Er trägt den Hohn und den Spott und wirft den Querbalken nicht ab, den sie ihm auf den Rücken packen. Dann hängt er zwischen Himmel und Erde. Als Spottfigur für den Schächer, als Narr für die römische Soldateska, als Dummkopf für die gaffenden Juden, als Mülleimer für die fluchenden Griechen, als der Allerletzte der ganzen Welt. Er neigt sein Haupt und verschied.
Der Rettungsweg ist der Kreuzweg. Keine Station, an der Sie leiden, die Jesus nicht kennt. Keine Geisel, die Ihnen zu schaffen macht, die er nicht auch zu spüren bekam. Kein Schmerz, der an Ihnen nagt, der ihm nicht auch zugefügt worden ist. Ein Kreuzweg ohnegleichen. Im Blick darauf sagt Jesus, dass Erwählte keine andere Wahl haben, als diesen Weg zu wählen. Nur er führt heraus. Nur er führt hindurch. Nur er kommt ans Ziel. Jeder Schwärmer wird mit diesem Ruf auf den Boden der Realität zurückgeholt: Folge mir ohne Illusion!
2. Folge mir ohne Verzug
Der zweite Mann schaut zur Seite. Seine Augen gehen unruhig hin und her. Etwas Trauriges liegt auf seinem Gesicht. Natürlich sieht auch er die steigende Flut, aber gleichzeitig sieht er seinen alternden Vater. Er ist nicht mehr gut beieinander. Nur arg mühsam kommt er noch aus dem Bett. Wie in Häuflein Elend sitzt er zitternd vor der Hütte. "Der macht's nicht mehr lang", sagen die Nachbarn. Er braucht jemand, der nach ihm schaut. Allein kann er sich nicht mehr versorgen. Niemand kann sich selbst zu Tode pflegen. Es ist doch Kinderdank, wenn man seinen Vater nicht einfach hocken lässt. Es ist doch Anstandssache, wenn man seine Eltern auf der letzten Wegstrecke begleitet. Es ist doch Christenpflicht, wenn man die Gebote hält: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird. Deshalb sagt dieser Mann zu Jesus: "Wenn ich den Vater zu Tod gepflegt habe, wenn ich den Vater beerdigt habe, wenn ich diese Aufgabe erledigt habe, dann Herr, dann folge ich dir, dann gehe ich mit dir, dann gehöre ich dir ganz.
Aber Jesus duldet keinen Aufschub, so seriös der Grund auch ist. Nachfolge Christi kann nicht mit Sonderurlaub beginnen. Jede Rettung hat ein Jetzt. Als Mose die Israeliten rief, mussten sie mitten in der Nacht aufbrechen und konnten keine Angelegenheiten mehr regeln. Als Jesus die Jünger rief, mussten sie stehenden Fußes aufbrechen und konnten keine Geschäfte mehr abwickeln. Als Gott den Saulus rief, musste er sofort vom hohen Ross herunter und konnte keine Demission bei seiner Dienststelle mehr einreichen. Jetzt sind wir gerufen und nicht erst im Alter, wenn der Psalter zu Ehren kommt. Jetzt sind wir gerufen, wo wir im Anstieg oder auf der Höhe des Lebens sind. Jetzt sind wir gerufen, ob wir es mit seiner Nachfolge endlich ernst zu machen gedenken. Das ist doch unsere Not, dass wir immer noch zuvor etwas anderes tun müssen, etwas Gutes, etwas Edles, etwas Wichtiges, bevor wir dann vielleicht Jesus folgen. Der junge Mann möchte schon Mitarbeiter werden und einen Kreis übernehmen, aber zuvor muss er den Tanzkurs absolvieren, ohne den er zum Außenseiter in der Klasse wird. Das junge Mädchen möchte schon hauptamtlich werden und in die Mission gehen, aber zuvor muss sie Geld verdienen, damit sie im Alter finanziell gesichert ist. Der junge Mann möchte schon ganze Sache machen und als Christ leben, aber zuvor muss es geschäftlich klappen. Es ist immer dasselbe Lied: Wenn wir verheiratet sind, dann... Wenn die Aufbauphase unseres Ladens hinter uns liegt, dann... Wenn einmal die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, dann... -Wenn ich einmal im Ruhestand bin, dann... Wieviel haben deshalb den Schritt nicht gewagt, weil sie sich wegen der Familie, wegen dem Geschäft, wegen den Leuten nicht wagten! Wieviel sind deshalb nicht zum_ Glauben gekommen, weil sie zu allem anderen kommen mussten? Wieviel wurden deshalb nicht gerettet, weil sie anderes retten wollten? Es gibt nichts, was diesen dringenden Ruf aussetzen könnte: Folge mir nach ohne Verzug!
3. Folge mir nach ohne Rücksicht
Der dritte Mann schaut nach hinten. Seine Augen hängen an der Vergangenheit. Etwas Wehmütiges liegt auf seinem Gesicht. Natürlich sieht er den steigenden Wasserpegel, aber dort hinten erkennt er seine Heimat. Dort ist er zur Schule gegangen, dort hat er Räuber und Gendarm gespielt, dort ist er mit seinen Freunden zusammengesessen. Schön wär’s, die Jugendzeit, deshalb erlaube mir Herr, dass ich noch Abschied nehme, dass ich noch Hände schüttle, dass ich noch eine Farewell-Party gebe. Aber Jesus kennt jenes eigenartige Gesetz, das bei Haustieren zu beobachten ist. Bei einer Feuersbrunst stürzen sie blindlings in das brennende Haus zurück und kommen um, nachdem man sie eben daraus gerettet hat. Der Wehmütige steht in Gefahr, dasselbe zu tun. Er könnte dort seine alten Freunde finden und das neue Leben verlieren.
Deshalb sagt Jesus dieses damals bekannte Sprichwort: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes. Wer nicht nach vorne schaut, zieht eine krumme Furche. Wer nicht nach vorwärts ausgerichtet, dreht eine krumme Tour. Wer nicht das Ziel im Auge hat, sondern rückwärts über die Schulter schielt, wird ein in sich Gekrümmter. Zum Vorsatz: "Ich will dir nachfolgen!" gehört der Nachsatz: "Ich schau nicht zurück." Aus dem Zurückschauen wird Rückfall und Abfall. Von daher ist Jesus gegen alle rührige Abschiedsszenen. Man rät auch keinem Kettenraucher, zum Abgewöhnen noch genüsslich eine Zigarette durch die Lunge zu ziehen. Man rät auch keinem Alkoholiker, zum Trockenwerden noch eine Lage Halbe mit seinen Kumpanen zu schmeißen. Niemand von uns hat das Zeug dazu, mit dem, was uns versuchlich oder hinderlich erscheint, zu spielen, als könnte es uns nichts mehr anhaben.
Wer sich vornimmt, hinter Jesus drein den Rettungsweg einzuschlagen, der meidet nicht nur den Blick zurück, sondern der ist geradezu magnetisch angezogen von dem, was vor ihm liegt. Es ist doch nicht so, dass wir wehleidig uns und andern klarzumachen hätten, was wir bei Jesus zurücklassen müssen. Bei ihm ist nur zu gewinnen: Befreiung von Schuld, Überwindung von Angst, Durchschreiten der Flut, Erleben von Freude, Entdecken von Gemeinschaft, Gewinnen von Hoffnung. Die alte Frage: "Was hatte ich?" ist erledigt. Die neue Frage lautet: "Was werde ich haben?" Und selbst wenn die Todesflut mir schließlich bis zum Halse steht, liegt es erst recht vor uns, nämlich das Reich Gottes, die Vollendung, der Herr selbst. Deshalb sagt er: Folge mir nach ohne Rücksicht, ohne Verzug, ohne Illusion. Die Rettung ist möglich. Der Untergang ist nicht unser Schicksal. Die Furt durch die große Flut ist Wirklichkeit. Warum zögern wir? "Nun aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt. Wir geh'n an unseres Meisters Hand und unser Herr geht mit."
Amen