Die richtige Straße

Konrad Eißler

Wer an der falschen Straße steht, blickt nichts. Deshalb stehe nicht am falschen Platz, sondern an der Straße, die Jesus nimmt. - Advents-“Jugo” zum Einzug in Jerusalem


Wer an der falschen Straße steht, blickt nichts, liebe Freunde. Diese Erfahrung machte ich schon vor 30 Jahren, also zu einer Zeit, als die meisten von Euch noch Schäfchenwolken geschoben haben. In Hamburg war der Besuch des indischen Ministerpräsidenten Pandit Neru groß angekündigt. Überm Jungfernstieg baumelten die Girlanden. Am Alsterufer wehten die Flaggen. Beim Dammtorbahn­hof drängten sich die fähnchenschwenkenden Massen. Zwischendrin war auch ich armer Student eingekeilt und schnappte nach Luft. Die Zeit verrann. Die Spannung wuchs. Die Ungeduld machte sich immer breiter. Endlich kam der Wagen: Das wird er sein! Das muss er sein! Jetzt kommt er echt! Ich trat einem großkalibrigen Hanseaten auf die Füße und schraubte giraffenartig meinen Hals durch die Gaffer. Aber da war kein Staats-, sondern nur ein Einsatzwagen, der durch Lautsprecher bekanntmachte: “Sie stehen am falschen Platz. Der Gast nimmt einen andern Weg, Gehen Sie an die richtige Straße!” Ich ging enttäuscht nach Hause. Soll sich der Pandit ärgern, dass er mich Bandit nicht sieht. Das war ein Schlag ins Elbewasser. Wer an der falschen Straße steht, blickt nichts.

Diese Erfahrung können wir auch heute machen. In Stuttgart ist nicht nur der Besuch eines indischen Präsidenten, sondern die Ankunft des himm­lischen Repräsentanten groß angekündigt. Über der Marienstraße baumeln die Lichtgirlanden. Am Schlossplatz wehen die Tannenwedel. Im Kaufhaus drängen sich tütenschwenkende Massen. Zwischendrin sind auch wir eingekeilt und schnappen nach preisgünstigem Gruscht. Die Zeit im Advent verrinnt. Die Spannung vor dem Fest wächst. Die Ungeduld mit den Zeitgenossen macht sich breit. Endlich kommt Weihnachten: Das wird es sein! Das muss es sein! Jetzt kommt es echt! Aber außer echtem Firlefanz kommt echt nichts. Enttäuscht pusten wir die Kerzen aus. Soll sich ärgern, wer will. Das war wieder ein Schlag ins Neckarwasser.

Wer an der falschen Straße steht, blickt nichts. Diese Erfahrung müssen wir nicht immer machen. Deshalb gibt der Text bekannt: Sie stehen am falschen Platz, wenn Sie sich nur irgendwo platzieren. Der Gast nimmt einen andern Weg, weil er sich die Route nicht vorschreiben lässt. Gehen Sie an die richtige Straße! Genau die aber ist hier näher bezeichnet, nämlich die B1 nach Bethphage, dann die B2 nach Jerusalem und schließlich die B3 zum Ölberg. Sicher keine Fahrspur für Vierzylinder mit 200 PS, sondern mehr Kriechspur für Vierhaxer mit 1 ES, aber eben doch die Laufspur unseres ankommenden Herrn. Wer dort steht, blickt’s, wenn auch mit einigen faustdicken Überraschungen.

An der B1 nach Bethphage gibt’s nämlich herben Schmerz. Jüdische Bauersleut’ wohnen dort, die mit nordamerikanischen Großfarmern oder südafrikanischen Plantagenbesitzern so wenig zu tun haben wie der Adventskranz mit Sommerferien. Ihr Hof ist ein Einzimmerappartement in Lehmbauweise, wo der einzige Raum als Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Stall zugleich dient, also eine Wohnwaschküche mit Tierzuchthaltung. In Bethphage, zu deutsch: Feigenhausen, blitzt die Armut aus allen Fugen. Deshalb sind die Leutchen auch so mächtig stolz auf ihren reitbaren Untersatz. Sie haben es bis zum Esel gebracht. Morgens ist er Schlepper und trabt auf das Feld, mittags ist er LKW und trottet zum Basar hinüber, und abends ist er Omnibus und schaukelt die Familie durch die Gegend. Dieses Allzweckvehikel ist ein unersetzliches Wertobjekt für diese Bauersleute. Was Wunder, dass sie aus dem Lehmhäuschen kommen, als zwei unbekannte Typen sich am Halfter des Tieres zu schaffen machen. Warum bindet ihr das Füllen los, obwohl es noch gar nicht ausge­wachsen ist? Warum bindet ihr das Füllen los, obwohl wir nur dies Einzige besitzen? Warum bindet ihr das Füllen los, obwohl dort drüben an Nachbars Feigenbaum auch eines grast? Warum bindet ihr ausgerechnet das Füllen los? Aber die Männer sagen nur: Der Herr bedarf’s, und damit ist die Sache gelaufen bzw. das Füllen weggelaufen. Den Leutchen schmerzt das Herz, aber der Schmerz kann ihren Glauben nicht kratzen: Sein Bedarf geht über unser Bedürfnis.

Nun weiß ich auch, dass bei uns keine Essfeigen gesammelt, sondern nur Ohrfeigen verteilt werden. Feigenhausen und Zuffenhausen liegen meilenweit auseinander. Trotzdem führt diese B1 auch durch unsere Landschaft. Eltern beispielsweise sind mächtig stolz auf ihr Söhnchen oder ihr Töchterlein. Sie haben es bis zu diesem Esel gebracht. Morgens ist er Schüler und trabt in die Penne, mittags ist er Handlanger und trottet zum Einkaufen, und abends ist er Chauffeur und schaukelt die Familie zur Oma. Der Allzwecksprössling ist ein unersetzliches Wertobjekt für diese Eheleute. Was Wunder, dass sie an die Decke gehen, wenn jemand diese Jugend für den nebenamtlichen oder hauptamtlichen Dienst Jesu einspannen will. Warum bindet ihr den Jungen, obwohl er noch gar nicht ganz ausgewachsen ist? Warum bindet ihr das Mädchen, obwohl wir nur dieses Einzige besitzen? Warum bindet ihr den Studenten, obwohl die Uni mit andern überfüllt ist? Warum bindet ihr ausgerechnet den? Aber die Bibel sagt: Der Herr bedarf’s. Der Herr braucht’s. Der Herr will mit euch in die Welt hinein. Ihn tragen, ihm dienen, ihm gehören, das ist keine Eselei, sondern Sinnerfüllung. Manchen schmerzt dabei das Herz, wenn Abende im Bibelkreis, wenn Sonntage im Gottesdienst, wenn Ferien auf Freizeiten, oder wenn ein ganzes Leben auf Missionsstationen verbracht werden, aber dieser Schmerz darf doch den Glauben nicht kratzen. Sein Bedarf geht über unser Bedürfnis.

An der B2 nach Jerusalem gibt’s bittere Enttäuschung. Jüdische Festpilger stehen dort, die aus dem Staunen nicht herauskommen. Eine Reisegruppe aus Kana weiß zu berichten, dass dieser kommende Jesus einer ganzen Hochzeitsgesellschaft aus der Patsche geholfen habe. Er könne pures Wasser in reinen Riesling oder besten Trollinger verwandeln. Andere aus Tiberias erzählen immer wieder, dass dieser Wundermann 5000, jawohl 5000 gestandene Leute vor dem Hungertod in der Wüste bewahrt habe. Er könne mit einer Sardinenbüchse und einem Ranken Brot leere Mägen randvoll abfüllen. Und dann tauchten noch die Bethanier mit brandaktuellen News auf, dass dieser Superus das Grab eines Lazarus ausgeräumt habe. Er könne einen Leichnam wieder auf die Beine stellen. Das ist der Hammer. Wenn einer nicht nur den Durst löscht, wenn einer nicht nur den Hunger stillt, wenn einer sogar den Tod im Griff hat, dann ist er das As, dann gehört ihm alle Ehre, dann muss er wie ein König empfangen werden. Alte schnaufen Richtung Tor und winken mit den Händen. Junge zupfen Bäume und wedeln mit den Zweigen. Einer stimmt den alten Messiashymnus an und die andern fallen mit ein: “Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.” Und dann kommt er, aber nicht auf dem höchsten Kamel, nicht auf dem größten Streitwagen, nicht auf dem stärksten Araberpferd! Jesus kommt auf einem beschlagnahmten Esel.

Das ist ungefähr so, wie wenn Präsident Reagan auf einem Mofa käme, oder König Gustav auf dem Fahrrad, oder Kanzler Kohl auf der Radelrutsch. Hätte er doch eine Karosse benutzt, hätte er doch ein Schlachtross be­stiegen, hätte er doch wenigstens sich von einigen Anhängern auf die Schultern nehmen lassen - aber auf dem Rücken eines Esels wie ein schäbiger Feigenhändler! Das darf doch nicht wahr sein! Das kann doch nicht wahr sein! Das ist ein peinliches Missverständnis!

Die Festpilger erinnern sich nicht: “Siehe, dein König kommt auf einem Eselsrücken.” Die Hosiannajubler verstehen nicht: “Selig sind die Sanftmütigen.” Und wir kapieren nicht, dass hier endlich einer ist, der nicht imponieren will, sondern helfen. Sich oben hinsetzen, wollen viele. Sich aufs hohe Ross schwingen, tun viele. Sich gerne beklatschen lassen machen viele. Aber wir brauchen doch einen, der uns nicht als Stimmvieh verschleißt oder als Steigbügel verwendet oder gar als Kanonenfutter ver­braucht. Wir brauchen doch einen, der uns wirklich sieht und der uns ganz kennt und der uns ehrlich liebt. Wir brauchen doch einen, der selbst dann noch zu uns steht, wenn es uns ganz dreckig geht. Deshalb kommt Jesus auf dem Armentier zu Dir. Sicher kannst Du Dich dieses “Bettelkönigs”, wie Luther sagte, schämen, ihm sogar ins Gesicht spucken und noch eine Dornenkrone dazu flechten. Aber willst Du Dich nicht besser von Herzen mitfreuen, ihm die Hände entgegenstrecken und in die Bitte mit einstimmen: “Komm, o mein Heiland Jesu Christ, mein’s Herzens Tür dir offen ist”?

An der 35 zum Ölberg gibt’s giftigen Ärger. Jüdische Theologen stehen dort, die sich über diese Demo mächtig aufregen. Was gibt das für eine Lärmbelästigung, wenn Runde und Dürre den Schnabel aufreißen? Was gibt das für ein Baumsterben, wenn Barfüßler und Hochgestöckelte die Palmbäume plündern? Was gibt das für eine Umweltverschmutzung, wenn Langhaarige und Ungewaschene ihre Jeansjacken in die Luft schmeißen? Wir müssen doch nicht auch noch Krach machen, sondern für Verkehrsberuhigung sorgen! Wir müssen doch nicht auch noch brüllen, sondern den Dezibel-Pegel senken. Wir müssen doch nicht aufregen, sondern beruhigen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Den Pfarrern platzt vor Wut das Beffchen. Und Jesus sagt: Wenn ihr denen den Mund verbietet, dann gebiete ich’s den Pflastersteinen: der adventliche Jubelruf darf nicht verstummen. Dort also läuft die B3, wo Leute den Mund nicht mehr halten können über dem Schrei: “Er kommt!”

Dort also stehst Du richtig, wo Leute das Signal weitergeben: “Er kommt!” Dort ist die wahre Friedensdemo im Gange, wo Leute für Jesus marschieren: Er kommt! Und wenn weitere Christenverfolgungen in Äthiopien kommen: Er kommt! Und wenn schlimmere Rassenkrawalle in Südafrika kommen: Er kommt! Und wenn grausamere Nachrüstungen in Europa kommen: Er kommt! Und wenn tiefere Niederschläge in meinem persönlichen Leben kommen: Er kommt! Er kommt bestimmt! Sein Advent findet statt.

Deshalb stehe nicht am falschen Platz. Jesus nimmt die B1 bis 3. Auch wenn es Schmerz, Enttäuschung und Ärger gibt, komm mit an die richtige Straße! Komm mit!

Amen