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Jesus das Licht

23.07.1983Johannes 9,1-7
Von der spannenden Begegnung zwischen dem, der sagen muss: "Ich bin im Dunkel der Welt!" und dem, der sagen kann: "Ich bin das Licht der Welt". - Predigt zur Wunderheilung des Blindgeborenen aus der Stiftskirche Stuttgart

Medizinisch gesehen war er ein hoffnungsloser Fall, dieser blinde Bettler in einer Gasse Jerusalems. Selbst die Christoffel-Blindenmission, die heute den Kampf gegen diese Geißel des Orients aufgenommen hat, hätte ihm nicht helfen können. Der Arzt zuckte bedauernd mit den Achseln: Der Mann leidet an keinem Trachom, das mit Medikamenten zum Stillstand gebracht werden könnte. Der Mann hat keinen Star, der mit einem chirurgischen Eingriff beseitigt werden könnte. Der Mann besitzt keinen zu hohen Zuckerspiegel, der mit geeigneter Diät gesenkt werden könnte. Nein, diesem Bettler fehlt der Sehnerv, blind geboren, stark behindert, eine negative Erbanlage. Medizinisch gesehen war ihm nicht zu helfen.

Auch sozial gesehen war er ein trauriges Schicksal. In Jerusalem wimmelte es von solchen, die mit ihren ausgestreckten Händen die Fußgängerzone belegten und mit ihren umgestülpten Mützen die Gehwege blockierten. Und darunter waren viel Ärmere als er, solche, die keine Eltern mehr zuhause und kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Der Sozialfürsorger winkte energisch ab: "Du hast ja noch Vater und Mutter. Geh bitte dorthin. Sie haben die Sorgepflicht, nicht wir. Was kann die Fürsorge dafür, dass sie dich zum Berufsbettler gemacht haben? Auf unserer Warteliste stehen noch ganz andere Härtefälle." Sozial gesehen war für den armen Teufel nichts drin.

Und religiös gesehen war er ein schwarzes Schaf. Die Gottesdienstbesucher, die über seinen weißen Stock stolperten, hatten im Unterricht beim Rabbi gelernt, dass sich in jedem menschlichen Schicksal die göttliche Gerechtigkeit widerspiegelt. Jedem geht es so, wie er es verdient hat und keinen Deut anders. Gott zahlt heim "Maß gegen Maß". Sie beteten einen Gott an, der die Menschen vom Himmel aus beobachtet und die gute Tat belohnt und die böse Tat bestraft. Deshalb ließen sie den Penner wissen: "Du bist in Sünden geboren. Du hast nur Dreck am Stecken. Du gehörst nicht zu uns." Sicher warfen sie ihm zuweilen einen roten Pfennig zu, aber an ihrer innersten Überzeugung änderte sich nichts. Religiös gesehen war er an seinem Schicksal selber schuld.

Wer aber medizinisch aufgegeben, sozial abgeschrieben und religiös abgestempelt ist, bei dem ist's wirklich dunkel, der tappt wirklich in der Nacht, der hockt wirklich in der Finsternis. Man muss vielleicht Max Frischs bedeutendsten Roman "Mein Name sei Gantenbein" lesen, um die schmerzlichen Erfahrungen eines Blinden zu begreifen, der nicht nur die Sonne vermisst, das Blau des Himmels, das Grün der Bäume, das Rot und Gelb der Blumen, sondern auch die Liebe der Leute. Ein Mensch im Dunkel, das ist der Blinde.

Und an ihm geht Jesus vorüber. Und an dieser abgerissenen Gestalt kommt Jesus vorbei. Und an diesem Haufen Elend kreuzt Jesu Weg. Es kommt zu einer spannenden Begegnung zwischen dem, der sagen muss: "Ich bin im Dunkel der Welt!" und dem, der sagen kann: "Ich bin das Licht der Welt". Tag und Nacht prallen so hart aufeinander wie bei einem Gemälde Rembrandts. Wird Jesus auch bedauernd mit den Achseln zucken wie der Arzt? Wird er auch nur energisch abwinken wie der Sozialfürsorger? Wird er auch nur den moralischen Zeigefinger erheben wie die Gottesdienstbesucher? Wie reagiert Jesus? Das ist die Mitte der Geschichte. Wegen ihm ist sie berichtet. Auf ihn kommt alles an.

Und Johannes sagt: Jesus macht Licht im Dunkel. Jesus bringt Licht ins Dunkel. Jesus ist Licht trotz Dunkel.

1. Jesus macht Licht im Dunkel

Er hat sich mit unserer Aufteilung nie abgefunden, die Bert Brecht in der Dreigroschenoper so beschreibt: "Die einen sind im Dunkel und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht." Er hat sich mit unserer Aufteilung nie befreundet, die von Schattenseiten und Sonnenseiten des Lebens spricht: Die einen logieren im Keller und die andern residieren im Bungalow. Und man kennt die im Bungalow, die im Keller kennt man nicht. Er hat sich an unserer herzlosen Aufteilung nie gewöhnt. In Bethlehem wurde Jesus geboren. Im Hinterhaus kam er zur Welt. Im Stall ging das Licht an. Unsere Väter haben gesungen: "Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein." In Galiläa, Samaria und Judäa hat er gelebt. Im Elendsviertel nahm er Quartier. Im Krankenzimmer wurde es hell. Unsere Väter haben gedichtet: "Licht, das in die Welt gekommen, Sonne, voller Glanz und Pracht." In Jerusalem ist er gestorben. Im Felsengrab wurde er bestattet. Aber im Kidrontal zerschnitt das Osterlicht alle Finsternis. Unsere Väter haben gejubelt: "Auf auf, mein Herz, mit Freuden, nimm wahr, was heut geschieht. Wie kommt nach großem Leiden nun ein so großes Licht."

Im Dunkel der Welt hat Jesus Licht gemacht. Deshalb tappt er nicht im Dunkel. Deshalb sind für ihn nicht alle Katzen grau. Deshalb verschwinden ihm keine Konturen. Er sieht den, der blind geboren war. Er sieht den, dem der Arzt nicht helfen konnte. Er sieht den, den der Fürsorger weggeschickt hat. Er sieht den, den die Frommen brandmarkten. Jesus übersieht ihn nicht. Er schaut bei hoffnungslosen Fällen nicht weg. Er schaut an traurigen Schicksalen nicht vorbei. Er schaut selbst bei schuldigen Kreaturen hin. Jesus sieht jeden. Es gibt gar keine Ecke mehr, die im Dunkel und deshalb außerhalb seines Blickwinkels läge.

Es gilt dieser Satz auch für die, die mit ihrem mittelmäßigen Abiturszeugnis bei der Vergabe von Studienplätzen glatt übersehen werden: "Jesus geht vorüber und sieht". Es gilt auch für die, die nach Studium- und Referendarszeit jetzt arbeitslos auf der Straße sitzen: "Jesus geht vorüber und sieht". Es gilt auch für die, die wegen Krankheit oder Alter einfach beiseite geschoben wurden: "Jesus geht vorüber und sieht". Und es gilt auch für die, die angesichts von waffenstarrenden Völkern blind vor Angst sind: "Jesus geht vorüber und sieht". Solange aber Jesus uns im Auge hat, ist nichts verloren.

Jesus macht Licht im Dunkel. Das ist das Erste, und das Zweite:

2. Jesus bringt Licht ins Dunkel

... und zwar ins Dunkel jener quälenden Warum-Fragen: Warum muss ausgerechnet dieser Mann ohne Augenlicht seine Tage verbringen? Warum muss ausgerechnet dieser Mensch ohne Sehvermögen das Leben meistern? Warum muss ausgerechnet dieser Bettler ein solch herbes Schicksal tragen?

Diese Warum-Fragen kennen wir auch. Warum muss ausgerechnet ich meine Arbeitsstelle verlieren? Warum muss ausgerechnet ich mit solch undankbaren Kindern fertig werden? Warum muss ausgerechnet ich den Krebs bekommen? Die Leute suchen eine Antwort in der Vergangenheit: Hat er vielleicht besonders viel auf dem Kerbholz? Hat er vielleicht doch ganz gehörig Dreck am Stecken? Oder hat er vielleicht ganz miese Eltern, die ihm nur ein Sündenregister vererbt haben?

Aber Jesus zeigt in die Zukunft: "Die Werke Gottes sollen offenbar werden". Damit wird der Zusammenhang zwischen Schuld und Schicksal nicht grundsätzlich vom Tisch gefegt. Es gibt eine Kettenreaktion der Schuld, die sich physisch und psychisch auswirkt. Sünde kann ein ganzes Leben zerstören. Aber hier gilt es, jene wahrhaft evangelische Wendung mitzuvollziehen. Jesus verwandelt die Warum-Frage in die Wozu-Frage. Die Leute fragen: "Warum ist das so?" Jesus aber fragt: "Wozu ist das so?" Jesus verwandelt die kausale Frage in die teleologische Frage. Die Leute fragen: "Woher kommt das?" Jesus aber fragt: "Wohin führt das?" Jesus verwandelt die Frage nach der Motivation in die Frage nach der Proklamation. Die Leute fragen: "Was ist die Ursache?" Jesus aber fragt: "Was ist das Ziel?" Die Blindheit ist zu etwas da. Die Behinderung hat etwas zu sagen. Die Krankheit hat einen Sinn, einen letzten, tiefen, unantastbaren Sinn: An ihr soll ihm Gott groß werden. Mit ihr soll ihm Gott begegnen. Durch sie soll bei ihm Gott zum Zuge kommen.

Das ist das Licht im Dunkel, dass nichts, was uns an Schwerem und Unverständlichem begegnet, letztlich sinnlos ist. Jeder Abend soll dazu dienen, dass der Morgen anbrechen kann. Jede Nacht soll dazu führen, dass der Tag sichtbar wird. Jede Finsternis soll dazu leiten, dass der Stern seiner Liebe und Barmherzigkeit zu funkeln beginnt.

Der Dichter Stefan Andres schrieb es in seinem Lebensbericht so: "Heute danke ich meinem Unglück, dass es mich durch zehn Jahre arm, unbekannt und einsam ließ und dadurch in die Nähe Gottes trieb". Und der französische Widerstandskämpfer und Universitätsprofessor Jacques Lusseyran, der mit acht Jahren beide Augen verlor, bekannte es in seinen Erinnerungen an die schrecklichen Jahre im KZ Buchenwald so: "Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, dass er mich als Kind blind werden ließ. Dadurch traf ich auf die Freude, die nicht von außen kommt, und auf das Licht, das selbst dann in uns ist, wenn wir keine Augen haben".

Warum fällt es uns so schwer, dies auch zu sagen, etwa im Blick auf unsere Krankheit: "An ihr soll mir Gott groß werden!", im Blick auf unsere Behinderung: "Mit ihr soll mir Gott begegnen!", im Blick auf unsere persönliche, bedrückende Situation: "Durch sie soll bei mir Gott zum Zuge kommen".

Jesus bringt Licht ins Dunkel der Sinnfrage.

3. Jesus ist Licht trotz Dunkel

"Auf der Erde rührte er einen Brei an, legte ihn auf die Augen und befahl: Geh hin zum Teich Siloah und wasche dich! Der Mann gehorchte und wurde sehend" - so wie alle Blinden einmal die feinsten Strichzeichnungen eines Albrecht Dürer sehen werden, so wie alle Tauben einmal die zartesten Pianissimos eines Mozarts vernehmen werden, so wie alle Gelähmten einmal die versteiftesten Lendenwirbel bewegen werden. Wo Jesus ist, dauern die Leiden nicht ewig.

Also sehend wird unser Blinder, aber nicht glücklich. Jetzt erst sieht er die neugierigen Nachbarn, die keineswegs auf ihn zueilen und ihm die Hände schütteln, sondern ihn angaffen wie ein Weltwunder und ihm peinliche Fragen stellten. Jetzt erst sieht er die selbstgefälligen Pharisäer, die keineswegs ein Dankgebet mit ihm sprechen, sondern ihn ins Kreuzverhör nehmen und dann aus der Kirche ausschließen. Jetzt erst sieht er die Eltern, die keineswegs die Haustür aufreißen und ein Fest veranstalten, sondern sich kühl distanzieren und sich abwenden.

Ihm ging es wie den fünf blindgeborenen Brüdern auf Sizilien, von denen die Tageszeitung berichtete. Durch eine großzügige Spende konnten sie operiert werden. Alle gewannen das Augenlicht zurück. Die Freude war überschäumend, aber nur für kurze Zeit. Erst jetzt wurden sie gewahr, wie armselig sie hausten und in welchem Elend sie aufwachsen mussten. Augen, die nur die Sonne sehen, bringen nicht das Glück.

Glücklicherweise aber trifft unser Mann noch einmal auf Jesus. So berichtet es dieses Kapitel am Schluss. Und dieser Heiland tut ein zweites Wunder. Zum Augenlicht kommt das Glaubenslicht dazu. Der Mann erkennt in dem, der ihn gesund gemacht hat, den Sohn Gottes. Vorher war es vielleicht ein Wunderdoktor, ein Heilungskünstler, ein Supermann. Jetzt aber erkennt er nicht nur das Licht der Sonne, sondern auch das Licht der Welt.

Und dieses Licht ist heller als 1000 Sonnen. Kein Irrlicht, das ein paar armselige Jünger an der Nase herumführt, kein Stopplicht, das interessante Wege verbietet, kein Blaulicht, das einen Unfall markiert, kein Rücklicht, das nur die Vergangenheit erhellt. Jesus ist Flutlicht, vor dem die Schatten fliehen. Im Dunkel der Welt ist das Licht der Welt aufgegangen. Mit diesem Licht sind die finstersten Talwege sonnenhell. Selbst die Nacht des Todes muss vor diesem Lichte fliehen.

Doch, jeder braucht dieses Licht, deshalb ist die Bitte so wichtig: "Gib uns Augen, die was taugen, rühre meine Augen an. Denn das ist die größte Plage, wenn am Tage, man das Licht nicht sehen kann".

Amen.


[Predigmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]