Wir befinden uns mitten in unserer Predigtreihe über das Buch Ruth. Heute wird uns Kapitel zwei beschäftigen.
In den letzten beiden Predigten haben wir gesehen, dass es in diesem Buch nicht nur um Ruth selbst geht, sondern auch um andere Personen. Besonders im Fokus stand die Schwiegermutter von Ruth, Naomi. Wir haben erlebt, dass Naomi eine sehr schwere Zeit durchmachte. Alles, was sie hatte, wurde ihr irgendwie genommen. Gott hat Naomi gelehrt, mit leeren Händen dazustehen. Am Ende stand sie gefühlt mit nichts mehr da.
An einer Stelle sagt Naomi: „Ich bin in der Fülle aus dem Land Israel weggegangen, nach Moab, zu einem gottlosen Volk. Und jetzt komme ich leer zurück nach Israel, nach Bethlehem.“
Hoffnungsschimmer trotz Bitterkeit
Im letzten Vers des ersten Kapitels sehen wir, dass es einen Hoffnungsschimmer für Naomi gibt. Dort heißt es in Ruth 1,22: „So kehrte Naomi zurück, und mit ihr die Moabiterin Ruth, ihre Schwiegertochter, die aus dem Gebiet von Moab heimgekehrt war. Sie kam nach Bethlehem, zu Beginn der Gerstenernte.“
Für uns mag das auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinen, doch für das erste Kapitel ist es sehr bedeutend. Naomi ist aus ihrem Land gegangen, weil dort eine Hungersnot herrschte. Nun gibt es einen Hoffnungsschimmer: Sie macht sich auf den Weg zurück in ihr Heimatland, zurück zu dem Land Gottes, zu dem Volk Gottes, zurück zu den Juden.
Hier heißt es, dass sie zu Beginn der Gerstenernte nach Bethlehem kam. Das ist ein Hoffnungsschimmer. Sie wird ihr Land wahrscheinlich nicht so vorfinden, wie sie es verlassen hat. Doch wenn die Gerstenernte bevorsteht, wird sie vermutlich sehen, dass Gott sie versorgt.
Aus diesem Grund ist sie gegangen: Sie hatte das Gefühl, dass Gott sie nicht mehr versorgt und nicht auf ihr Flehen hört. Durch das Richterbuch erfahren wir, dass Gott seine Gnade zurückgezogen hat, weil das Volk gesündigt und ihn nicht gesucht hat, damit er sie versorgt. Am Ende des ersten Kapitels gibt es also einen Hoffnungsschimmer.
Naomi weiß um diesen Hoffnungsschimmer. Nicht nur der Erzähler, sondern auch sie selbst. Im Vers 6 heißt es, dass sie sich mit ihren Schwiegertöchtern aufmachte, um aus dem Gebiet von Moab zurückzukehren. Übrigens wird „Gebiet von Moab“ wörtlich als „die Felder von Moab“ übersetzt. Warum das wichtig ist, wird später noch erläutert.
Sie ist also aus den Feldern von Moab zurückgekommen, weil sie dort gehört hatte, dass der Herr sein Volk heimgesucht habe, um ihnen Brot zu geben. Sie hat von diesem Hoffnungsschimmer gehört, hat sich aufgemacht, und am Ende des Kapitels hören wir diesen Hinweis: Da geht etwas.
Doch obwohl sie diesen Hoffnungsschimmer von Gott gehört hat – dass er dort versorgen wird, wohin sie geht – sehen wir am Ende des ersten Kapitels, dass Naomi sehr stark in ihrer Bitterkeit gefangen ist. Darum ging es in der letzten Predigt ziemlich intensiv: Naomi steckt tief in ihrer Bitterkeit und kommt nicht aus ihrer depressiven, emotionalen Stimmung heraus. Sie badet förmlich darin.
Als sie zurückkommt, heißt es in Kapitel 1, Verse 20-21, dass sie zu den Frauen sagt: „Nennt mich nicht Naomi, nennt mich Mara, was ‚Bitterkeit‘ bedeutet, denn der Allmächtige hat mir sehr bitteres Leid zugefügt. Voll bin ich gegangen, und leer hat mich der Herr zurückkehren lassen. Warum nennt ihr mich Naomi, da der Herr gegen mich ausgesagt und der Allmächtige mir Böses getan hat?“
Sie ist also innerlich völlig zerbrochen, wütend auf Gott und nicht in der Lage, den Hoffnungsschimmer wirklich richtig zu bewerten. Obwohl ihr das Leben gerade Hinweise gibt, dass Hoffnung da ist, nimmt sie die Hoffnungsbotschaft nur kognitiv wahr – so wie wahrscheinlich 99 Prozent in diesem Raum. Aber das reicht nicht.
Naomi sieht den Hoffnungsschimmer, und es macht für sie irgendwie Sinn, dass sie zurückgeht. Das ist eine kognitive Erkenntnis. Doch diese Hoffnung erfasst sie nicht in ihrer ganzen Person. Sie kehrt nicht voller Freude zurück und sagt: „Ich bin zu Gott, meinem Vater und Himmel, zurückgekommen. Ich weiß, ich stürze dort in offene Liebesarme. Ich weiß, dass Gott mich empfangen und segnen wird.“
Stattdessen kommt sie zurück, weiß kognitiv, dass Hoffnung da ist, kann sie aber nicht fühlen oder erfassen. Sie wird davon nicht ergriffen. Versteht man, was ich meine? Das ist ein großer Unterschied.
Ruth hingegen ist ganz anders unterwegs. Schon in Kapitel 2 wird deutlich, dass Ruth aktiv wird, während Naomi sitzen bleibt.
Ich glaube, so geht es uns manchmal auch: Emotional sind wir nicht in der Lage, selbst wenn wir den Hoffnungsschimmer sehen, den Gott uns in seinem Wort gibt, der Woche für Woche hier ausgelegt wird.
Die Frage, die ich mir und euch stelle, ist: Sind wir in der Lage, in unseren emotionalen Tiefs, wenn wir schwach sind, diese Hoffnung, die Gott uns durch sein Wort geben möchte, wirklich zu erfassen und zu ergreifen? Können wir sagen: „Wenn ich zu Gott komme, dann wartet dort jemand auf mich, der barmherzig, gnädig, liebevoll und treu ist“? Oder wissen wir nur kognitiv, dass das so ist, aber unser Herz schlägt nicht dafür?
Wenn das zu abstrakt ist, stellt euch einfach eine Ehebeziehung vor: Man weiß kognitiv, dass man verheiratet ist. Vielleicht hat man gerade den Ehering abgelegt, weil man gespielt hat. Jetzt ist er wieder am Finger, und man weiß kognitiv: Ja, ich bin verheiratet.
Aber das ist etwas ganz anderes, wenn es die ganze Person erfüllt – Verstand, Seele, Herz und Geist – und man sich dieser Person widmet, seiner Frau, und sagt: „Es ist nicht nur eine kognitive Information, sondern ich liebe dich wirklich.“
Ich hoffe, eure Ehen sind nicht so müde, wie es gerade aussieht.
Ruths Hingabe und Naomis Verbitterung
Wie eben gelesen, kommt Ruth mit Naomi in ihr Heimatland zurück. Vorletzte Woche haben wir darüber gesprochen, dass Naomi eigentlich alles versucht hat, um Ruth abzuwimmeln. Sie denkt: „Die will ich nicht bei mir haben – so eine Frohnatur, so eine gläubige Frau, die mir in mancher Hinsicht voraus ist.“
Das ist sehr spannend. Diese moabitische Frau aus einem gottlosen Volk soll nun mitkommen. Sie ist eine ständige Erinnerung an der Seite Naomis, die ihr die Vergangenheit ohne Worte vor Augen hält. Naomi sieht: „Das ist keine Israelitin, das ist eine moabitische Frau.“ Und sie erinnert sie daran, dass sie in ihrem Leben versagt hat.
So ist diese Person immer an ihrer Seite und erinnert sie an eine Phase ihres Lebens, in der sie gescheitert ist. Man könnte sich fragen: Warum mutet Gott Naomi das zu? Warum diese ständige Erinnerung?
Vielleicht könnt ihr das auf euer eigenes Leben übertragen. Manchmal sind Fehler, die wir machen, so einschneidend, dass sie uns ein Leben lang begleiten. Wir würden am liebsten sagen: „Herr, zieh mich in den Himmel, ich will das nicht mehr sehen!“ Denn diese Erinnerungen an unsere Fehler machen uns krank und kaputt.
Gott mutet das Naomi zu – und genauso mutet er es auch dir zu. Die Erinnerung an ihr Versagen, an ihre Fehleinschätzung und an ihre Sünde begleitet Naomi auf Schritt und Tritt.
In dem Moment, als sie auf dem Weg zurück sind, erkennt Naomi noch nicht, dass Gott das scheinbar Schlechte beabsichtigt hat, um es zum Guten zu wenden. Das tut er immer wieder. Ihr kennt diese Worte aus 1. Mose 50, aus der Geschichte von Josef: Gott beabsichtigt, das Schlechte, das in unserem Leben passiert, zum Guten zu wenden und zum Guten zu gebrauchen.
Das sehen wir auch in Kapitel 2. Doch Naomi sieht es jetzt noch nicht. Aber Gott mutet es ihr zu!
Ruths mutiger Schritt und Gottes Vorsehung
Und Naomi hatte einen Verwandten von ihrem Mann her, einen angesehenen Mann aus der Sippe Elimelechs, dessen Name Boas war.
Ruth, die Moabiterin, sagte zu Naomi: „Ich möchte gern aufs Feld gehen und etwas von den Ähren mit auflesen, hinter denen her, in deren Augen ich Gunst finden werde.“ Naomi antwortete ihr: „Geh hin, meine Tochter!“
So ging sie hin, kam und las auf dem Feld hinter den Schnittern her auf. Zufällig traf sie das Feldstück des Boas, der aus der Sippe Elimelechs war.
Siehe, Boas kam von Bethlehem und sagte zu den Schnittern: „Der Herr sei mit euch!“ Seine Mitarbeiter erwiderten: „Der Herr segne dich!“
Boas fragte seinen Knecht, der über die Schnitter eingesetzt war: „Wem gehört dieses Mädchen da?“ Der Knecht antwortete: „Es ist ein moabitisches Mädchen, das mit Naomi aus dem Gebiet von Moab zurückgekehrt ist. Sie hat gesagt, sie möchte gern mit auflesen und hinter den Schnittern her etwas von den Ähren aufsammeln. So ist sie gekommen und geblieben. Von morgens bis jetzt hat sie sich im Haus nur wenig ausgeruht.“
Boas sagte zu Ruth: „Höre mir zu, meine Tochter! Geh nicht auf ein anderes Feld zum Auflesen und geh auch nicht von hier fort. Halte dich bei meinen Mägden auf. Richte deine Augen auf das Feld, wo man schneidet, und geh hinter den Sammlerinnen her. Habe ich nicht den Knechten befohlen, dich nicht anzutasten? Wenn du Durst hast, geh zu den Gefäßen und trink von dem, was die Knechte schöpfen.“
Da fiel sie auf ihr Angesicht, warf sich zur Erde nieder und sagte zu ihm: „Warum habe ich Gunst gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest, wo ich doch eine Fremde bin?“
Boas antwortete ihr: „Es ist mir alles genau berichtet worden, was du an deiner Schwiegermutter getan hast, nach dem Tod deines Mannes. Dass du deinen Vater und deine Mutter und das Land deiner Verwandtschaft verlassen hast und zu einem Volk gegangen bist, das du früher nicht kanntest. Der Herr vergelte dir dein Tun! Möge dein Lohn ein voller sein von dem Herrn, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen.“
Sie sagte: „Möge ich weiterhin Gunst finden in deinen Augen, mein Herr, denn du hast mich getröstet und zum Herzen deiner Magd gesprochen. Ich bin nicht einmal einer deiner Mägde.“
Zur Essenszeit sagte Boas zu ihr: „Tritt her und iss von dem Brot und tunke deinen Bissen in den Essig.“ Sie setzte sich neben die Schnitter, er reichte ihr geröstete Körner, und sie aß, wurde satt und ließ sogar etwas übrig.
Als sie aufstand, um weiter aufzusammeln, befahl Boas seinen Knechten: „Auch zwischen den Gaben darf sie auflesen, und ihr sollt ihr nichts zuleide tun. Zieht aus den Bündelähren Ähren heraus und lasst sie liegen, damit sie sie auflesen kann. Ihr sollt sie nicht bedrohen.“
So las sie auf dem Feld auf bis zum Abend. Als sie ausschlug, was sie aufgelesen hatte, war es etwa eine Eva Gerste, also zwanzig bis vierzig Liter.
Sie hob es auf, kam in die Stadt, und ihre Schwiegermutter sah, was sie aufgelesen hatte. Sie zog heraus, was sie übriggelassen hatte, nachdem sie sich gesättigt hatte, und gab es ihr.
Da fragte ihre Schwiegermutter sie: „Wo hast du heute aufgelesen und wo hast du gearbeitet? Gesegnet sei, der dich beachtet hat!“
Ruth berichtete ihrer Schwiegermutter, bei wem sie gearbeitet hatte, und sagte: „Der Name des Mannes, bei dem ich heute gearbeitet habe, ist Boas.“
Noomi sagte zu ihrer Schwiegertochter: „Gesegnet sei er von dem Herrn, der seine Gnade nicht entzogen hat, weder von den Lebenden noch von den Toten! Der Mann ist uns nah verwandt; er ist einer von unseren Lösern.“
Ruth, die Moabiterin, sagte: „Schließlich hat er noch zu mir gesagt: Du sollst dich zu meinen Knechten halten, bis sie meine ganze Ernte beendet haben.“
Da sagte Naomi zu Ruth, ihrer Schwiegertochter: „Es ist gut, meine Tochter, dass du mit seinen Mägden hinausziehst. So kann man dich auf einem anderen Feld nicht belästigen.“
So hielt sie sich bei den Mägden des Boas auf, um Ähren aufzusammeln, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendet waren. Danach blieb sie zuhause bei ihrer Schwiegermutter.
Amen.
Die existenzielle Herausforderung einer Witwe in Israel
Eine ältere Witwe kommt zusammen mit ihrer Schwiegertochter, die ebenfalls Witwe ist, nach Deutschland. Sie erwartet einen Sozialstaat, in dem alles funktioniert. Doch die Realität sieht anders aus. Man kommt an und ist zunächst völlig auf sich allein gestellt. Diese Situation können die wenigsten hier im Raum wirklich erfassen, vor allem nicht, was sie existenziell bedeutet.
Man kommt an und hat nichts, wirklich gar nichts. Keinen Mann an der Seite, der in der Gesellschaft mehr Handlungsspielraum hat. Da stand sie nun, allein und ohne Unterstützung.
Es ist so, dass das mosaische Gesetz, also das Gesetz von Mose, den Armen und den Witwen eine Möglichkeit gab, durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu sichern. Das ist etwas, das wir in den alten Texten lesen können, zum Beispiel in 3. Mose 19,9. Dort weist Gott sein Volk an: Wenn ihr die Ernte eures Landes einholt, sollt ihr den Rand eures Feldes nicht vollständig abernten und keine Nachlese eurer Ernte halten. Auch im Weinberg sollt ihr nicht nachlesen und die abgefallenen Beeren nicht auflesen. Diese Dinge sollen für den Elenden und den Fremden übrig bleiben. Denn Gott sagt: „Ich bin der Herr, euer Gott.“
Diese Anweisung ist Gott so wichtig, dass er sie ein zweites Mal im 5. Mose 24,19 wiederholt: Wenn du deine Ernte auf deinem Feld einbringst und eine Gabe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Sie soll für den Fremden, die Waise und die Witwe sein, damit der Herr, dein Gott, dich in allem, was du tust, segnet.
Es ist also eine Einrichtung, die Gott seinem Volk gegeben hat: Wenn ihr erntet, dann lasst Dinge übrig, damit Arme, Fremde und Witwen sich davon ernähren können. Es geht hier um soziale Gerechtigkeit – keine sozialpolitische Rede, sondern eine göttliche Ordnung.
Gott hat durch seine Ordnungen für diejenigen vorgesorgt, die nichts haben, für eine Ruth und für eine Naomi.
Die Herausforderungen von Ruths Arbeit
Für Ruth besteht ein dreifaches Problem in dem, was sie tut. Es ist eine sehr schwere Arbeit und findet unter extremer Hitze statt. Zudem ist diese Arbeit nicht ganz ungefährlich.
Man könnte denken: „Na ja, ich gehe dorthin und sammle ein bisschen auf. Wenn es ein Problem gibt, rufe ich bei der Gewerkschaft an, und die klären das dann für mich.“ Doch vielleicht ist euch in dem Text, den ich gelesen habe, aufgefallen, dass immer wieder gesagt wird: „Ich habe meinen Knechten befohlen, dass sie dich nicht antasten sollen.“ Warum muss er das betonen? Genau, weil es ständig passiert.
Naomi sagt: „Geh nicht auf ein anderes Feld, denn dort bist du sicher.“ Dort kann dich niemand angreifen. Er wird dich beschützen und behüten. Beim zweiten Mal, als Boas zu Ruth spricht, in Vers 16, sagt er ebenfalls: „Ihr sollt sie nicht bedrohen, und ihr sollt ihr nichts zuleide tun.“
Diese Arbeit war gefährlich. Du bist offen auf dem Feld als Witwe, als junge Frau, völlig schutzlos. Da kann passieren, was wir uns kaum vorstellen wollen. Und selbst das behandelt Gott schon im Alten Testament im Gesetz. Er sieht voraus, dass solche Dinge passieren werden.
Also: Es ist eine gefährliche Arbeit, eine schwere Arbeit unter schwierigen Bedingungen. Zudem ist Ruth noch eine Fremde. Sie ist keine Jüdin. Mit diesem Arbeits- und persönlichen Profil geht sie nun an die Arbeit. Sie arbeitet nicht nur für sich, sondern auch für Naomi.
Ruths Treue und Glaubensschritt
Wo ist Naomi? Wo ist sie? Sie ist zu Hause. Warum ist sie zu Hause? Merkt ihr, wie Ruth sagen könnte: „Ich möchte jetzt Ehren sammeln gehen, damit wir etwas zu essen haben.“ „Geh hin, meine Tochter.“ Ja, und was macht sie? Sie sagt nicht einfach, dass sie geht, sie ist treu. Sie kommt nicht nach Hause und sagt: „Guck mal, was ich alles für mich gesammelt habe.“
Vielleicht kennt ihr das vom Sankt-Martin-Singen: Wenn man Süßigkeiten ersungen hat und dann nach Hause kommt, sagt man oft: „Das sind meine Süßigkeiten, wehe, jemand nimmt sie mir weg.“ Aber so ist Ruth nicht. Sie breitet ihre Süßigkeiten aus, die sie bekommen hat, und wird von Naomi hineingenommen. Naomi wird an dem, was Ruth gefunden hat, teilhaben gelassen.
Hier sehen wir etwas, das wir schon gehört haben: Ruth zeigt Selbstaufopferung, Hingabe und Nächstenliebe, die unbeschreiblich ist. Eine Frau, die verbittert ist und eigentlich aufgeben möchte, wird von Ruth so gut behandelt. Ruth sagt: „Weißt du was, ich gehe sogar für uns beide arbeiten.“ Und sie fragt nicht einmal, ob Naomi mitkommen will, sie tut es einfach aus Nächstenliebe.
Hier sehen wir mehr als nur den Willen zur Arbeit. Wir sehen Glauben in Aktion. Ruth sagt, sie möchte gern aufs Feld gehen und etwas von den Ähren mit auflesen, hinter denen sie Gunst finden wird. Sie weiß nicht, ob sie so jemanden finden wird, aber sie geht im Vertrauen.
Ein Pastor, dessen Namen ich leider nicht genau aussprechen kann – Ian M. Digweed oder so ähnlich – sagt dazu: Ruth ging im Glauben los, dass irgendwo da draußen ein großzügiger, gottesfürchtiger Gutsherr sein würde, der den Armen Beachtung schenkt. Glaube bedeutet nicht, einfach nur herumzusitzen und darauf zu warten, dass die Versorgung vom Himmel fällt. Wir sind dazu berufen, das zu tun, was wir können, und in unserem Tun darauf zu vertrauen, dass Gott für unsere Bedürfnisse sorgen wird.
Manche denken, wenn sie glauben, müssen sie die Hände in den Schoß legen und warten. Aber Hände falten wird in der Bibel nur einmal erwähnt – im Alten Testament – und zwar im Bild des Faulen, nicht des Betenden. Betende falten nicht einfach nur die Hände. Glaube bedeutet, aktiv zu werden. Ich warte nicht darauf, dass Wunder vor mir passieren und der rote Teppich plötzlich ausgerollt wird. „Ah, da ist ein schönes Feld, da gehe ich jetzt etwas holen.“
Es ist ein Vertrauensschritt, ein Glaubensschritt, nicht zu wissen, was kommt, aber zu wissen, dass jemand da ist, der auf mich aufpasst und für mich sorgt. Ich gehe diesen Schritt im Glauben. Wenn ich schon wüsste, wäre es kein Glaube mehr.
Das sehen wir bei Ruth in extremer Weise. Sie tritt aus dem kleinen Schutzraum mit Naomi heraus, wo sie sicher ist, ihrem kleinen Mini-Clan, und geht hinaus, völlig frei, im Glauben, dass Gott sie versorgen wird.
Vielleicht kennt ihr den Spruch: „Betet, als ob alles von Gott abhänge, und arbeitet, als ob alles von euch abhänge.“ Bete so, als ob nur Gott etwas tun kann, und arbeite so, als ob alles von dir abhängt. Das sind keine Widersprüche. Gott möchte, dass wir aktiv werden und uns in unserer Aktivität segnen, führen und leiten.
Seht, was in Kapitel 2, Vers 3 steht. Das ist sagenhaft: „Da ging sie hin und kam und las auf dem Feld hinter den Schnittern her auf, und sie traf zufällig das Feldstück des Boas, der aus der Sippe Elimelechs war.“ Sie kommt zufällig genau dorthin, wo sie hinkommen muss, um Segen zu bekommen – zu einem entfernten Verwandten, der noch eine bedeutende Rolle in dieser Geschichte spielen wird.
Wörtlich übersetzt ist der hebräische Begriff noch etwas stärker: Es ereignete sich ein „zufälliger Zufall“. Also wird der Zufall überspitzt dargestellt. Kennen wir das nicht auch? Zufälle, die zum Segen führen.
Beachtet im ganzen Buch Ruth – und das ist fast einzigartig für ein biblisches Buch – finden wir keine Engelserscheinung, keine Vision, kein direktes Reden von Gott. Kein „Der Herr sprach …“, keine Träume, in denen Ruth des Nachts einen Felsen sieht, auf dem in leuchtenden Buchstaben „Boas“ steht. Nichts davon!
Ich bin ein Fan von solchen Dingen, ja. Ich liebe es, wenn Menschen besondere Geschichten erzählen, wie sie Gott erfahren haben, Wundergeschichten, wie Gott gesprochen hat. Das begeistert mich! Aber hier sehen wir, dass aus menschlicher Perspektive von einem Zufall gesprochen wird.
Am Ende der Geschichte – ihr habt es gehört – weiß Naomi, wie sie das bewerten soll. In Vers 20 sagt sie: „Gesegnet sei er von dem Herrn, der Boas, der Herr hat seine Gnade nicht entzogen.“ Sie weiß, das sind nicht bloß Zufälle. Sondern Gott ist gnädig in diesem Zufall, in dem einem etwas zufällt.
Gott ist es, der das entgegenbringt, entgegenwirft, und auf einmal trifft es seinen Weg. Du denkst: „Wow, ich bin beschenkt.“ Das bedeutet für mich: Ich bin überhaupt nicht gegen wundersame Erscheinungen. Wenn ich dagegen wäre, müsste ich auch gegen das hier sein. Das ist voll mit wundersamen Erscheinungen.
Preist den Herrn für solche Dinge! Sie sind begeisternd. Aber diese Geschichte zeigt mir in Ruth ein Glaubensvorbild, beispiellos in dieser Geschichte. Die Geschichte möchte mir sagen: Ich muss die Zukunft nicht wissen. Selbst wenn ich kein direktes Wort von Gott bekomme, kein prophetisches Wort, keinen Traum, keine Vision, keinen Engel sehe – ich habe Entscheidungen zu treffen.
Ich muss die Zukunft nicht kennen, wenn ich den kenne, der die Zukunft kennt. Versteht ihr? Wenn derjenige, der die Zukunft kreiert, macht, erhält und alles weiß, was in der Zukunft passiert, und ich diesen Gott kenne, dann muss ich die Zukunft nicht wissen.
Gott offenbart sie manchmal aus guten Gründen, und es ist auch okay, wenn wir fragen. Aber manchmal kommt nichts. „Herr, ich habe kein Reden, soll ich jetzt Däumchen drehen?“ Nein, geh im Glauben, geh voran! Glaubst du, dass Gott souverän ist und die Zukunft kennt? Wenn er die Zukunft kennt und du ihn kennst, dann weißt du alles, was du brauchst.
Es mögen unsichere Schritte sein, loszugehen, ohne zu wissen, wohin es richtig führt. Ich habe zum Beispiel auf meinem Weg zu meiner Berufung als Pastor und zu meinem Studium sehr explizites Reden Gottes gehört. Das war für mich ziemlich krass und nötig.
Dann ging es darum: Nach dem Studium, wohin geht es? In welche Stadt, in welche Gemeinde? Emmendingen kam irgendwie ins Programm. Ich dachte: „Herr, das war jetzt so eine schöne Folge, du hast hier geredet, bam bam bam, und jetzt brauche ich wieder eine richtige Vision, irgendwas, damit ich sagen kann: ‚Gott hat so und so zu mir gesprochen, darum bin ich jetzt hier.‘“
Aber es kam nichts. Kein explizites Reden Gottes, bei dem man sagen könnte: „Das war es.“ Aber wir haben aus unserer menschlichen Sicht Dinge bewertet, auch geistlich, und gesagt: „Jetzt wird es nötig, einen Glaubensschritt zu tun.“ War es richtig? Ich glaube ja.
Gottes Vorsehung als Leitmotiv
Vernachlässige nicht in deinem Leben die Vorsehung Gottes.
„Gottes Vorsehung“ ist ein Begriff, den leider viele Kirchen und Christen heute kaum noch kennen. Vor hundert Jahren waren Bücher oft voll mit diesem Begriff. Für diejenigen, die vielleicht aus einem anderen sprachlichen Raum kommen: Vorsehung ist ein sehr altes, fast schon altertümliches Wort. Auf Englisch würde man „Providence“ sagen. Ich habe sogar auf Rumänisch nachgeschaut: „Providența“ – richtig „providența“. Manchmal haben wir das Gefühl, es handele sich um göttliche Vorsehung, dass Gott die Geschicke lenkt, die Ereignisse führt. Das wirkt jedoch nicht spektakulär, ist kaum der Rede wert. Damit kann ich auch nicht punkten oder einen Preis gewinnen.
Wenn ich Leuten erzähle, wie Gott Dinge zusammengeführt hat, höre ich oft: „Na ja, Zufall.“ Meine Bibel sagt mir etwas anderes. Sie sagt, dass hinter allem ein mächtiger Gott steht. Ruth würde am Ende ihres Lebens nicht sagen: „Ich hatte leider keine besondere Offenbarung, ich hatte nur die Vorsehung Gottes, ich hatte nur Providența.“ Aber gerade das ist es, wenn du die Geschichte von Ruth kennst. Diese Vorsehung ist so wichtig, und wir können Gott dafür verherrlichen, dass er in seiner Vorsehung wirkt.
Ihr Glaube in Aktion führt sie genau an die richtige Stelle – ohne dass sie die Zukunft kennt.
Ich möchte noch einmal ein Zitat lesen, das erklärt, was Vorsehung oder „Providența“ bedeutet. Das ist mehr italienisch als rumänisch, aber sehr treffend. Ein sehr bekannter Theologe, R.C. Sproul, schreibt:
„Der zentrale Punkt der Lehre von der Vorsehung ist die Betonung der Regierung Gottes über das Universum. Er regiert seine Schöpfung mit absoluter Souveränität und Autorität. Er ordnet alles, was passiert. Vom Größten bis zum Kleinsten geschieht nichts außerhalb der Reichweite seiner souveränen, vorhersehenden Herrschaft. Er lässt den Regen fallen und die Sonne scheinen. Er baut Königreiche auf und reißt sie nieder. Er zählt die Haare auf unserem Kopf und die Tage unseres Lebens. Das ist alles göttliche Vorsehung.“
Was im Buch, Kapitel 2, am Anfang wie Zufall, Willkür, Glück oder Schicksal aussieht, entpuppt sich am Ende des zweiten Kapitels als die Vorsehung Gottes. Dafür brauchen wir die göttliche Perspektive.
Der Theologe schreibt weiter:
„Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der Vorsehung Gottes und dem Zufall, Glück oder Schicksal. Der Schlüssel zu diesem Unterschied liegt im persönlichen Wesen Gottes. Der Zufall ist blind, während Gott alles sieht. Das Schicksal ist unpersönlich, während Gott ein Vater ist. Das Glück ist stumm, während Gott reden kann. Es gibt keine blinden, unpersönlichen Kräfte, die in der Menschheitsgeschichte am Werk sind. Alles wird durch die unsichtbare Hand der Vorsehung hervorgerufen.“
Wir sollten uns als Christen also keine Gewohnheit aneignen, ständig von Zufällen zu sprechen. Wenn wir das Wort „Zufall“ verwenden, sollten wir am Ende klarstellen: „Dieser Zufall ist Gott mir zufallen lassen.“
Wir Christen haben durch die Bibel eine andere Perspektive auf die Führung Gottes. Vernachlässige nicht in deinem Leben die Vorsehung Gottes. Preise Gott dafür und erzähle Menschen, wie Gott in seiner Vorsehung, seiner Souveränität und seinem Plan dich geführt hat und Ereignisse zu Ereignissen geleitet hat. Das ehrt ihn.
Zeugnis und persönliche Erfahrung
Meine Frau und ich hatten kürzlich ein Gespräch mit einem Paar, das dem Glauben eher skeptisch gegenübersteht. Es war ein sehr offenes und gutes Gespräch.
Wir lasen gemeinsam aus dem Markus-Evangelium, wie Jesus Christus Wunder tut, Menschen heilt und sogar Tote auferweckt. Das ist für viele schwer zu glauben. Ich fragte sie, was ihnen helfen würde, den Glauben stärker zu ergreifen. Es gibt ja auch aktuelle Geschichten von Menschen, die sie kennen und die ihnen erzählen, was sie erlebt haben.
Ich ging darauf ein und erzählte mehrere solcher Geschichten – erste, zweite, dritte, vierte – und sagte, ich könnte den ganzen Abend noch mit unerklärlichen Wundergeschichten füllen. Dann stellte ich eine Frage, deren Antwort ich schon ahnte: „Ist das jetzt für dich glaubwürdiger?“ Wahrscheinlich nicht, war die Antwort. Es sei nicht so, dass er mir nicht glaube. Aber für ihn sei das genauso weit weg wie das, was in der Bibel steht.
Manchmal denken wir, wir könnten Menschen mit unseren großen Geschichten überzeugen, was die Bibel vielleicht nicht schafft. Ich versuche der Bibel zu helfen: Es ist in Ordnung, wenn wir Zeugnis von großen Dingen geben. Viele wachen dadurch auf. Aber ich habe gemerkt, wenn wir über Vorsehung oder Wunder sprechen, müssen Menschen Gott selbst erfahren. Sonst bleiben sie nur Zuschauer und haben immer nur „second hand“-Erfahrungen.
Wenn du hier sitzt und Gott nicht selbst in deinem Leben erfährst, kannst du zwar sagen, dass alles wunderbar und schön ist, vielleicht findest du es sogar toll. Aber es bleibt immer etwas Äußeres. Wenn du in Not bist oder durch schwere Phasen gehst, brauchst du einen Gott, der in deinem Leben da ist. Dann brauchst du den Geist Gottes, der in dir lebt, dich führt und leitet.
Du brauchst nicht den Pastor, der die Verbindung zu Gott hat, sondern du selbst brauchst diese Verbindung. Wir sind nicht dazu berufen, einem Priester zuzuhören, sondern laut dem Neuen Testament sind wir alle berufen, Könige, Priester und Propheten zu sein. Wir sollen als Ebenbilder Gottes wandeln und den Menschen erzählen, was Gott tut.
Sie werden es erst wirklich erfassen, glauben und sich darüber freuen, wenn sie selbst einen Glaubensschritt tun und vertrauen. Dann können sie prüfen, ob Gott wirklich Wahrheit spricht. In Sprüche 16 heißt es: „Das Herz des Menschen plant seinen Weg, aber der Herr lenkt seinen Schritt.“ Das sehen wir bei Ruth. Sie plant, arbeiten zu gehen und sich Essen zu besorgen, aber Gott lenkt ihren Schritt. Und das tut er auch bei uns.
Lasst uns Zeugnis davon geben. Vielleicht haben wir heute noch Zeit, Zeugnisse zu hören. Überleg, was dir widerfahren ist. Überraschende Wendungen sind von Gott beabsichtigte Zufälle. Für Gott ist es keine Überraschung. Wenn etwas uns überrascht, hat Gott diesen Zufall geplant.
Okay, wir müssen weitermachen. Es ist ein sehr großes und spannendes Thema. Ich empfehle euch, beim Lesen der Schrift besonders auf den Aspekt der Führung Gottes zu achten. Denn sie zieht sich tatsächlich durch das Alte und das Neue Testament.
Boas als gottesfürchtiger und fürsorglicher Mann
Wir kommen jetzt zu der Person Boas. Es ist sehr spannend in der Ruth-Geschichte, dass die ersten Worte der Akteure sehr stellvertretend für das Wesen des Menschen stehen. Die ersten Worte einer Person beschreiben zu einem großen Teil, wie diese Person „tickt“.
Man kann sich das vielleicht so vorstellen: Wenn man über eine Person nachdenkt, fragt man sich, was diese Person immer sagt. Das Erste, was einem einfällt, beschreibt diese Person nicht zu hundert Prozent, aber doch zu einem großen Teil.
Im Buch Ruth finden wir das sehr interessant. Die ersten Worte von Naomi sind: „Geht, kehrt um, weg von mir zu ihren Schwiegertöchtern.“ Diese Worte zeigen ihre ablehnende, verbitterte Haltung. Bei Ruth sehen wir als erste Worte das wiederholende Bekenntnis: „Ich bleibe bei dir, ich bin mit dir.“ Diese Haltung zieht sich durch die Geschichte.
Nun treffen wir auf die Person Boas und schauen uns seine ersten Worte an. In Kapitel vier heißt es: „Und siehe, Boas kam von Bethlehem und sagte zu den Schnittern: Der Herr sei mit euch! Und sie antworteten ihm: Der Herr segne dich!“
Das ist hier nicht einfach nur ein frommes Geplänkel, sondern das Buch möchte uns etwas über die Person Boas sagen. Er ist nicht nur Jude, sondern auch gottesfürchtig. Er stellt Gott an erste Stelle in seinem Reden. „Der Herr sei mit euch“, sagt er zu seinen Mitarbeitern. Das zeigt, dass er nicht nur im Privaten an Gott glaubt, sondern auch im Alltag und bei der Arbeit Gott voranstellt.
Die Mitarbeiter antworten mit „Der Herr segne dich“. Das zeigt Wertschätzung und ein gutes Miteinander. Boas wird von seinen Mitarbeitern respektiert und geschätzt.
Boas kommt mit seinen Mitarbeitern ins Gespräch und fragt zuerst: „Was ist das für ein Mädchen?“ Die Mitarbeiter nennen das Mädchen und sagen als Erstes: „Es ist ein moabitisches Mädchen.“ Man könnte ja andere Dinge zuerst nennen, aber für einen Juden in dieser Zeit ist wichtig, dass sie aus Moab kommt, einer feindlichen Nationalität, die oft gegen Israel Krieg führt. Die erste Identifikation dieser Person ist also ihre feindliche Herkunft.
Die Haltung bleibt distanziert: „Was ist das für ein Mädchen? Ein moabitisches Mädchen.“ Dann erzählen sie Boas von Naomi. Sehr interessant ist, wie Boas darauf reagiert. In den Versen acht und neun sagt Boas zu Ruth: „Höre mir zu, meine Tochter, geh nicht zum Auflesen auf ein anderes Feld, geh auch nicht von hier fort, sondern halte dich zu meinen Mägden. Richte deine Augen auf das Feld, wo man schneidet, und geh hinter den Sammlerinnen her. Habe ich nicht den Knechten befohlen, dich nicht anzutasten?“
Er spricht sie nicht als Fremde an oder einfach als irgendein Mädchen. Er nennt sie „meine Tochter“. Damit baut er eine familiäre Beziehung zu ihr auf, eine Empathie, die ihr bis dahin gefehlt hat.
Nicht nur das: Er sagt ihr auch, dass sie sich zu seinen Mägden halten soll. Er nimmt sie sozusagen in sein Arbeitsteam auf. Er schätzt sie nicht geringer, sondern erhöht ihren Status. Auch wenn sie fremd ist und aus Moab stammt, lädt er sie ein, nicht länger am Rand zu stehen.
Wenn wir uns den Text anschauen, sehen wir einen sehr schnellen Aufstieg von Ruth. Erst ist sie das moabitische Mädchen, dann wird sie Teil des Arbeitsteams, also der Mägde. In Vers 14 lesen wir, dass Boas sie zum Essen einlädt und sagt: „Setz dich zu den Schnittern“, also zu den männlichen Mitarbeitern.
Innerhalb eines Tages erlebt sie eine enorme Verbesserung ihrer Situation. So viel Gehaltserhöhung hat man selten an einem Tag, könnte man sagen.
Sie darf von dem essen, was dort gesammelt wurde. Das heißt nicht nur, dass sie isst, sondern dass sie satt wird und sogar noch etwas übrig bleibt. Für uns ist das normal, aber für sie nicht.
Ich erinnere mich an ein Zitat: „Die Freude, genügend zu essen zu haben, ist für uns in unserem Wohlstand nur schwer zu begreifen. Für mich ist es nicht zu begreifen. Wir sind es gewohnt, unseren Appetit dreimal täglich mit Snacks dazwischen zu stillen.“
Ich esse nicht nur dreimal am Tag, sondern oft auch zwischendurch. Ein echtes Hungergefühl ist selten. Ich esse einfach, weil ich Lust darauf habe.
Doch für eine ausländische Witwe zu dieser Zeit ist es ein echtes Fest, wenn sie so viel essen kann, dass sie satt wird und sogar noch etwas übrig hat, um es mit nach Hause zu nehmen.
Für uns plätschert die Geschichte vielleicht nur so dahin, aber wir erfassen kaum, was das für diese Frau bedeutet. Sie isst, wird satt und bringt noch etwas mit nach Hause. In Vers 17 heißt es, sie hat noch zwanzig bis vierzig Liter Gerste übrig. Das ist eine große Menge.
Das zeigt den Überfluss, mit dem Gott sie beschenkt. Dieser Überfluss steht im krassen Gegensatz zur anfänglichen Hungersnot der Geschichte.
Wenn Menschen anfangen, im Glauben zu leben, im Vertrauen darauf, dass Gott da ist und versorgt, dann werden sie Überraschungen erleben. Sie werden erleben, dass Gott auf wunderbare Weise für sie sorgt.
Boas erkennt Ruths Glauben an
Und wenn man eben nicht so handelt wie Naomi, die ihren eigenen Kopf hat und ihre eigenen Wege geht: Was tut Boas noch? In Vers zwölf lesen wir: „Der Herr vergelte dir dein Tun, und dein Lohn möge ein voller sein vor dem Herrn, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen.“
Das ist kein frommes Gehabe, das hier passiert. Boas erkennt in Ruth ihre Glaubensmotive. Er sieht, dass sie nicht einfach nur gekommen ist, um zu schnorren und zu essen. Stattdessen sieht er in ihrer Geschichte und in ihrem Herzen, dass sie noch am Rand steht. Dann sagt er: „Ich sehe, dass du aus Glauben handelst.“
Das sind die ersten freundlichen Worte, die Ruth empfängt nach einer sehr langen Reise mit einer verbitterten Schwiegermutter. Dann kommt sie in dieses Land, und die Frauen, die dort vor Ort sind, nehmen sie noch nicht einmal wahr. Boas aber sagt freundliche Worte und segnet sie.
Für mich ist das ein Beispiel, und ich möchte fragen, ob man das vielleicht auch für sich übernehmen kann. Wir sind sehr schnell dabei, wenn wir von jemandem hören oder uns verabschieden, zu sagen: „Ich denke an dich.“ Aber ich frage mich, was das bedeutet, an jemanden zu denken. Noch frommer ist: „Ich bete für dich.“
Wie oft habt ihr schon gesagt: „Ich bete für dich“ – und habt nicht gebetet? Ihr nie? Super! Fromme Gemeinde! Ich habe es schon erlebt, dass jemand zu mir sagt: „Ich bete für dich“, und beim nächsten Treffen schnell noch betet, wenn er gefragt wird. So hat er dann gebetet.
Ich finde es spannend, dass im Alten Testament, in den Sprüchen, nicht schlecht ist, wenn ihr jemandem sagt: „Ich bete für dich“, und es dann auch tut. Dann habt ihr alles richtig gemacht. Aber ich sehe im Alten Testament auch ein Vorbild für das Hier und Jetzt: Die Person wird gesegnet, und der Segen wird von Gott her über diese Person ausgesprochen.
Das ist etwas, worüber ich mir Gedanken mache: Dass ich mehr, wenn Menschen in Not sind, nicht einfach sage, „Ich werde für dich beten“ und hoffentlich nicht vergesse, im aktuellen Augenblick ihre Not auszusprechen. Wir sind doch Kinder Gottes, oder? Sind wir Priester, Könige und Propheten in Christus? Können wir nicht sagen: „Der Herr segne dich so und so und so“?
Das ist ein aktives Gebet über eine Person. Das ist uns manchmal ein bisschen peinlich. „Das ist ja so direkt! Muss man nicht die Augen schließen und die Hände falten?“ Doch, das ist ein aktiver, betender Segen, den Boas Ruth gibt. Und auch für uns ist das ein Beispiel, wie wir miteinander umgehen können.
Du brauchst nicht frömmer zu sein, als du vielleicht denkst. Ich muss jetzt jede Woche dafür beten? Boas ist im Hier und Jetzt. Er sieht dich und spricht den Segen Gottes über dich aus. Das ist für mich ein Vorbild. Vor allem tut er das bei Menschen, die am Rande stehen, die nicht gesehen und nicht beachtet werden.
Und ich frage mich: Sind wir auch so? Wenn wir uns hier treffen – bald ist dieser Gottesdienst vorbei – und dann sind wir wieder in unseren Clubs zusammen, in unseren Klüngeleien, mit den Leuten, die wir besonders mögen: Haben wir den Blick für die Menschen, die hier hereinkommen und rausgehen und sich eigentlich wünschen würden: „Beachtet mich doch jemand! Hallo, ich würde gerne mal reden. Ich habe echt Themen, aber ich weiß nicht wie. Wie kann ich meinen Mund öffnen?“
Wir sind berufen, so wie Boas zu sein – und vielmehr wie Jesus Christus. Denn Boas ist in seinem Verhalten nur ein Schatten, nur ein sehr simpler Schatten dessen, was Jesus gemacht hat. Über Jesus wurde gesagt: Er ist ein Freund von wem? Nicht von Simon Petrus und Johannes, sondern von den Zöllnern und von den Sündern.
Das musst du mal reindenken: Jesus wird so bezeichnet. Jesus ist ein Freund von Zöllnern und Sündern. Und in den Versen danach, im Lukasevangelium, passiert Folgendes: Er sitzt dort, und dann kommt auf einmal eine Frau, eine Sünderin, und salbt ihm die Füße. Es ist nicht zufällig, dass das so dicht beieinander steht.
Jesus hatte ein Herz für Menschen, die am Rande stehen, um sie hineinzunehmen. Lasst uns auch so sein und uns am Beispiel von Boas orientieren.
Boas übertrifft das Gesetz durch seine Großzügigkeit
Wenn wir uns noch stärker mit dem Alten Testament beschäftigen würden – ich muss langsam zum Schluss kommen – dann gäbe es gesetzliche Vorgaben, wie man mit Fremden und vor allem mit Verwandten umgehen soll. Das werden wir uns beim nächsten Mal noch genauer anschauen.
Was wir bei Boas sehen, ist, dass er nicht nur das Gesetz erfüllt in dem, was er tut. Er gibt nicht nur das, was natürlich erwartet wird, sondern er gibt darüber hinaus. Er investiert in Ruth mehr, als er vom Gesetz her müsste. Das ist ein Zeichen dafür, dass man einen wahren Gläubigen daran erkennt, dass er über das hinausgeht, was nur natürlich ist.
Um so handeln zu können, müssen wir selbst eine Begegnung mit Gott erlebt haben, in der wir übernatürlich berührt wurden. Nur so können wir auch übernatürlich segnen. Denn Gott gibt seine Gaben und seinen Geist nicht nach Maß, sondern im Überfluss. Er gibt übernatürlich. Wer von Gott übernatürlich bewegt ist, wird auch in die Lage versetzt, übernatürlich zu geben.
Wenn du nur darauf aus bist, den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen – zum Beispiel: „Jetzt habe ich meine Pflicht getan, ich habe dir Hallo gesagt, Gott segne dich, ich habe dir Hallo gesagt, Gott segne dich“ – dann ist das nicht das, was der Bibeltext meint. Es geht um etwas, das sprudelt, lebt und pulsiert. Das sehen wir bei Boas.
Gottes Gnade fließt durch Boas zu Ruth. Ruth empfängt diese Gnade, nimmt sie auf und geht zu ihrer verbitterten Mutter, die in ihrem Loch steckt. So wird Ruth wiederum ein Instrument der Gnade Gottes. Die Gnade, die sie empfangen hat, gibt sie weiter.
Ruth ist keine reiche Frau, sie ist nur ein Kanal für den Segen Gottes. Ich bin hier nicht der Gesegnete oder du, sondern wir sind Kanäle des Segens Gottes. Die Menschen sollen die Gnade Gottes durch uns erfahren. Dazu bist du berufen.
Gnade in Aktion: Jesus als Vorbild
Ich möchte mit dieser Geschichte abschließen.
Ein Mann ging einen Weg entlang und fiel in ein Loch. Allein konnte er nicht wieder herauskommen.
Eine empathische Person kam vorbei und sagte: „Lieber Mann, ich fühle mit dir.“ Kurz darauf kam eine intellektuelle Person vorbei und meinte: „Es ist logisch, dass man in dieses Loch fällt, wenn man nicht nachdenkt.“
Dann kam ein Optimist vorbei und sagte: „Es hätte schlimmer kommen können.“ Ein Pessimist aber sagte: „Es wird noch schlimmer kommen.“
Ein gesetzestreuer Mensch kam vorbei und meinte: „Scheinbar hast du dieses Loch verdient.“
Und dann kam Jesus vorbei. Was sagt er? Gar nichts. Er reichte dem Mann seine Hand und zog ihn aus dem Loch.
Genau das tut Naomi, genau das tut Ruth für Naomi. Sie kommt nicht als Intellektuelle, nicht als Empathische, nicht als Optimistin, nicht als Pessimistin und auch nicht als gesetzestreue Person.
Sie kommt als gottesfürchtige, gläubige Frau und holt die andere Person aus dem Loch, aus dem sie selbst nicht herauskommt. Sie ist einfach gnädig, redet nicht viel, sondern handelt im Glauben.