Ein unerwartetes Begegnungserlebnis am Bahnhof Friedland
Thema des heutigen Abends: Lasst euch niemand das Ziel verrücken – anders übersetzt: Lasst euch wegen des Ziels von niemandem verrückt machen!
Vor wenigen Jahren war ich von meiner Landeskirche in Württemberg an die hannoversche Kirche ausgeliehen, sozusagen als Leihgabe für die geistliche Tiefebene Niedersachsens. Entschuldigung, die Niedersachsen hier!
Ich war unterwegs mit dem Ziel Grenz- und Durchgangslager Friedland bei Göttingen. Als ich endlich auf dem kleinen Bahnhof von Friedland stand, ohne genau zu wissen, wohin, entdeckte mich eine Schwester vom Roten Kreuz. Sie kam auf mich zu und übergab mir ein Glas heißen Tee.
Sie vermutete, ich sei ein Flüchtling. Nun, ich kam ja auch aus Stuttgart, und mein Lohnmantel war schon etwas geländegängig. Als ich ihr dankte, strahlte sie. Dann sagte sie: „Sprechen Sie doch weiter, sprechen Sie weiter.“
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, aber ich war gehorsam und begann zu stammeln: „Ein schöner Bahnhof hier und liebliche Gegend. Wo geht’s denn nach Friedland, ins Lager?“
Da fiel sie mir ins Wort: „Wissen Sie, wissen Sie, ich höre Ihren Dialekt so gerne. Meine Mutter kommt auch aus Russland.“
Die Herausforderung des Glaubensziels in Kolossä
Lasset euch wegen des Ziels von niemandem verrückt machen! Dieses Wort stammt aus dem Kolosserbrief. Um das Jahr sechzig herum wurden die Menschen in Kolossä regelrecht verrückt gemacht.
Zuerst war alles gut. Durch Epaphras wurden sie erweckt, sie wurden aufgeweckt, und es kam zu einem Durchbruch. Eine Gemeinschaft entstand, die unterwegs war zum großen Ziel, der Ewigkeit entgegen.
Doch auf einmal traten Menschen in den Weg. Es treten immer Menschen in den Weg. Diese Menschen überzeugten mit einem gewaltigen Wortschwall glaubhaft, dass es neben diesem Ziel, Christus, noch andere Ziele gebe: Mächte neben Christus, aber auch Christus und die Natur, Christus und das Schicksal, Christus und die Krankheit, Christus und so weiter.
Das kennen wir doch auch: Christus und die Welt, Christus und das Mädchen, Christus und der Sex, Christus und die Zigarette, Christus und der Alkohol. Allen will man dienen, und man dient niemandem mehr richtig. Das Leben wird zur schweren Anfechtung.
Vor diesem dunklen Hintergrund müssen Sie unser Thema verstehen. Sie müssen auch den Apostel verstehen, wenn er nun mit einem brennenden Herzen seinen Leuten einprägt: Solus Christus – Christus allein! In ihm wohnt alle Fülle, er ist vor allem, er ist das Ziel – Solus Christus.
So habe ich auch aus Württemberg heute keinen anderen Exportartikel. Ich habe Ihnen nichts anderes zu bringen als allein den Namen Jesus. Jesus Christus herrscht als König, alles, alles ist ihm untertan. Ehret, liebet, lobet ihn!
Wenn wir nur auf dieses Ziel schauen und nur auf dieses Ziel, dann entdecken wir auf einmal, dass wir den Strom des Lebens nicht mehr im Kajak durchpaddeln müssen. Ich entdecke das Wunder der Gemeinschaft. Gott hat euch nicht irgendeinen Rettungsring hingeworfen, mit dem ihr euch einzeln über Wasser halten könnt. Christus gab das Schiff der Gemeinschaft, das die Wellen kreuzt.
Die Dreifache Gemeinschaft des Christen
Als Christ bin ich – so haben es uns die Johanneumsbrüder in drei Szenen dargestellt – erstens Mitglied einer Lebensgemeinschaft. Zweitens bin ich Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft und drittens Mitglied einer Schicksalsgemeinschaft.
Mitglied einer Lebensgemeinschaft
Zum Ersten: Ich gehöre einer Lebensgemeinschaft an. Vor anderthalb Jahren erhielt ich den interessanten Auftrag, als Geistlicher ein Schiff nach Kanada zu begleiten. Diesen Auftrag bekam ich nicht, weil ich besonders gut Englisch konnte. Ich kann hier offen sprechen: Im Abitur in Rottweil hatte ich in Englisch eine glatte Fünf. In Französisch war ich deutlich besser, fast fließend sprach ich es, dort hatte ich eine Vier.
Am Kolumbuskai in Bremerhaven bestieg ich den Ozeanriesen namens Arcadia. Da die tausend Passagiere erst einen Tag später kamen, hatte ich Zeit, mich mit der dreihundertköpfigen Mannschaft bekannt zu machen. Das war ein schwieriges Unterfangen. Ganz unten im Bauch des Schiffes, in den heißen Waschräumen, traf ich Chinesen aus Hongkong, die weder Englisch noch Deutsch, geschweige denn Schwäbisch verstanden.
Arabische Hilfsarbeiter und deutsche Ingenieure betreuten die riesigen Maschinenanlagen. Englische Stuarts richteten die Kabinen her, und griechische Matrosen fungierten als Maler. Eine bunte Gesellschaft, eine Blütenlese der Nationen. Doch das Bemerkenswerte war: Keiner, den ich fragte, wer er denn sei, antwortete mit „Ich bin Heizer aus Le Havre“ oder „Ich bin Matrose aus Piräus“ oder „Ich bin Wäscher aus Hongkong“. Niemand antwortete so.
Stattdessen sagte jeder: „Peter, I am an Arcadia“, ich bin von der Arcadia. Ich bin Mitglied dieser Mannschaft. Man fühlte sich nicht als Blüte seiner Nation, sondern als Teil einer Mannschaft – ob als einfacher Wäscher oder begabter Funker. Jeder war wichtig für die Fahrt, jeder war unentbehrlich für die Überquerung des Atlantiks.
Hatten nicht die Urchristen ein ähnliches Wissen, das wir heute neu lernen sollten? Mögen wir noch so verschieden sein – Lehrling oder Meister, Pfarrer, Schreiner oder Bergmann, Deutscher oder Koreaner – wir alle gehören zusammen. Der Name Jesus schließt uns zusammen zu einer Mannschaft. Christ zu sein, das ist unser Stolz. Christ zu sein bedeutet, Glied einer Lebensgemeinschaft zu sein.
Kürzlich sagte mir ein Schwarzer aus Afrika, er sei gefragt worden, was denn die schönste Stunde in seinem Leben gewesen sei. Ich habe auch überlegt, was meine schönste Stunde gewesen ist. Nun, ich will es hier nicht erzählen. Aber er sagte, seine schönste Stunde sei gewesen, als er in seiner Heimatstadt auf der Straße angehalten und gefragt wurde: „Entschuldigung, ich habe eine Frage: Sind Sie ein Christ?“
Das sei seine schönste Stunde gewesen. Wenn dich morgen jemand auf dem Berliner Platz oder auf der Hüssenallee anhält und fragt: „Entschuldigung, ich habe eine Frage: Sind Sie Christ? Sind Sie Christin?“, dann laufen wir rot an und sind peinlich berührt, dass man es uns ansieht. Wir schämen uns für unseren Herrn, der sich nicht schämte, uns seinen Bruder zu nennen.
Christ zu sein, das ist ein Stolz, größer gibt es nicht. Damit ist auch das gesagt: Das ist eine klare Absage an alles christliche Karussellfahren, das sich nur um die eigene Achse der Wünsche, Gedanken und Überlegungen dreht. Und das ist auch eine klare Absage an die Überlegung, man könne vielleicht auch ohne Gemeinschaft, ohne wirkliche Gemeinschaft ans Ziel kommen.
Ich frage: Muss ein Finger zur Hand gehören? Muss ein Ohr zum Kopf gehören? Muss ein Fuß am Körper sein? Das ist doch keine Frage des Müssens, sondern des gar nicht anders Könnens. Ein Glied kann nicht ohne den Körper sein, ein Christ kann nicht ohne Gemeinschaft sein.
Das wussten interessanterweise die Menschen der Bibel. Sie kennen doch alle hier den Spruch, oder haben ihn zumindest einmal gehört: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ Das hat ein Mann gebetet, der dort in Babylon als Flüchtling lebte und Heimweh bekam. Heimat ist etwas Wunderbares.
Er tröstete sich nicht damit, dass Gott ja überall sei – auf Feld und Wald und Wiese und sogar auf der Autobahn –, sondern er hatte Heimweh. Und nach was? Heimweh nach den Glocken der Heimat? Heimweh nach Frau und Kind? Nein. Mit frischem Wasser meinte er die Gottesdienste zu Hause.
Er hatte Heimweh nach der Gemeinschaft der Gläubigen, er hatte Heimweh nach seiner Mannschaft. Ihm wurde bewusst, dass man ohne Gemeinde alles andere sein kann, nur kein Christ. Ein Christ zu Hause ist der harmloseste Bürger, den es auf Gottes Erdboden überhaupt gibt.
Kennen Sie dieses Heimweh? Kennen Sie dieses Heimweh nach der Gemeinschaft der Heiligen? Wonach haben Sie Heimweh? Wo dieses Heimweh nicht mehr zu spüren ist, da hat unser Glaube den Krebs. „I am not got you.“
Wenn das schon einer von seinem eisernen, billigen Pott sagen konnte, wie viel mehr sollten wir von der Terstetens Ruhkonferenz nach Hause gehen und sagen: Ich bin Christ! Ich bin Mitglied einer Lebensgemeinschaft.
Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft
Aber da bin ich schon beim Zweiten. Ich gehöre damit auch einer Arbeitsgemeinschaft an. Auf der Alcatia habe ich nicht einen einzigen getroffen, der nicht eine ganz bestimmte Aufgabe hatte. Selbst der leibarme Mose, der beinahe einen Stein in der Tasche tragen musste, damit er den Wind nicht wegblies, schleppte Koffer bis zur Verzweiflung und sammelte Kippen auf dem Promenadendeck.
So ist es auch heute: Es gibt nicht einen einzigen hier, der nicht eine ganz bestimmte Gabe und Aufgabe hätte. Wir werden nicht einfach wie die Bienen ins Volk eingegliedert. Jesus nimmt jeden so ernst, dass er ihm eine Aufgabe, eine ganz bestimmte Aufgabe, zutraut.
Meine Frage heute Abend lautet: Wo ist deine Gabe? Wo ist deine Aufgabe? Du sagst, ich habe keine, ich kann wirklich nichts. Paulus sagt, die Glieder, die uns schwach erscheinen, sind die nötigsten. Du hast Hände, die man falten kann, und das ist das Nötigste.
Betet, dass junge Menschen aufwachen und wieder das Ziel erkennen. Betet, dass wir durch nichts und durch niemanden von diesem Ziel abgehalten werden. Gott will uns herausreißen aus der passiven Zuhörerschaft hinein in eine aktive Arbeitsgemeinschaft. Gott will keine Fernsehzuschauer, die nur von der Ferne zuschauen und kritisieren – das ist das Billigste. Gott will lebendige Glieder, die sich wieder regen.
Mitglied einer Schicksalsgemeinschaft
Und das Dritte: Ich gehöre einer Schicksalsgemeinschaft an.
Jetzt sind all die Fragen, die vorhin am Schluss aufgetaucht sind, beantwortet: Wie höre ich das Kommando? Wie kann ich es umsetzen? Was muss ich tun, um auf dem Kurs zum Ziel bei der Gemeinde zu bleiben? All diese Fragen sind nun gelöst.
Unser Schicksal hängt nämlich nicht an unserem Vermögen, an unseren Ohren oder an unseren Händen – also an dem, was wir können. Man entdeckt plötzlich, dass die Gemeinde nicht einem Schiff mit großen Motoren gleicht. Das ist die große Entdeckung in der Bibel: Die Gemeinde gleicht vielmehr einer Fähre.
Am Ohio River sah ich Stellen, an denen das Wasser stromabwärts treibt. Deshalb haben sie dort ein Drahtseil über das Wasser gespannt, das an beiden Seiten an festen Pflöcken befestigt ist. Nun fährt diese Fähre sicher von der einen Seite zur anderen, auch wenn manchmal Wellen über den Bug hereinbrechen.
Genauso hat Gott über den Strom unserer Welt ein Seil gespannt. Hosea spricht von den Seilen der Liebe. Die Gemeinde gleicht nun der Fähre, die wie eine rettende Arche von einer Seite zur anderen sicher hinüberfährt.
Dieses Rettungsseil ist auf der einen Seite des Ufers im Grund von Golgatha verankert. Durch die Taufe, so sagt der Kolosserbrief, und durch unser Ja, durch unser Bekenntnis dazu, sind wir verbunden. Ja, wir sind geradezu Teilnehmer geworden an dieser Geschichte. Und Sie wissen, was dort geschah.
Hier ist das Letzte und Endgültige vollbracht. Hier hat Gott in deine ganze Sünde, in deine ganze Sorge, in deinen ganzen Jammer hineingegriffen und hat es im Kreuz getragen. Indem er es zum Vater getragen hat, hat er es weggenommen, getilgt, ausgelöscht und die Handschrift, die gegen uns war, zerrissen.
Das Kreuz ist eingerahmt in diese Erde als ein Zeichen der Ohnmacht aller Mächte und der Bedeutungslosigkeit aller anderen Ziele. Das Kreuz bürgt dafür, dass über dem breiten, dunklen und oft schweren Strom unseres Lebens dennoch ein Vater am Berg ist.
Dieses Seil ist auf der anderen Seite an Gottes letzter ewiger Stadt geknüpft, dort, wo sich alle Knie beugen müssen. Deren Herrlichkeit kann niemand mehr übersehen, denn das Erste ist vergangen, und das Zweite ist gekommen – so schön, dass wir es uns nicht ausmalen können.
Im Namen dieses letzten Endes leben wir. Die Lichter vom anderen Ufer kommen über das Wasser, und wir dürfen nicht weinen, wenn unsere Fähre bis dahin unterginge. So kannst du jeden Sturm deines Lebens bestehen.
Mit Blaise Pascal, dem französischen Denker, können wir sagen, dass es einfach herrlich sei – und damit meint er das Christenleben – auf einem Schiff zu fahren, das zwar von Stürmen geschüttelt wird, von dem man aber weiß, dass es im Heimathafen ankommt.
Junge Christen stehen deshalb immer an Deck und singen, weil sie sich das Ziel nicht mehr verrücken lassen! Welt, du bist uns zu klein, wir gehen durch Jesu Leiten hin zu den Ewigkeiten. Es soll nur Jesus sein, es soll nur Jesus sein! Amen!