Einführung: Einsamkeit und das Bild einer verlassenen Frau
In dem Abschnitt, den wir heute betrachten, geht es unter anderem um eine alte, einsame Frau. Dabei muss ich an eine Tante von mir denken – eine verheiratete Tante, die inzwischen über achtzig Jahre alt ist. Sie ist schon seit Jahrzehnten geschieden. Ihr Sohn starb plötzlich im Alter von siebzehn oder achtzehn Jahren. Ihre Tochter lebt irgendwo auf Kreta, wo sie das Erbe ihres Vaters verwaltet.
Wahrscheinlich ist diese Tante nicht wirklich vereinsamt. Sie hat, glaube ich, noch soziale Kontakte. Deshalb ist sie vielleicht kein ganz typisches Beispiel. Was ihre Kernfamilie betrifft, ist sie jedoch allein. Und das ist in Deutschland kein absoluter Einzelfall.
Die Scheidungsrate ist hoch. Viele Familien sind über ganz Deutschland verteilt. Man hat oft wenig Kontakt zueinander. Manche Kinder haben sogar den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Das heißt, wir leben in einem Land mit einem hohen Potenzial für Einsamkeit.
Vor diesem Hintergrund ist das Bild, das wir heute in Jesaja betrachten, vielleicht ein Bild, dem wir auch öfter in der Realität unserer Umgebung begegnen können.
Überblick über die Struktur des Jesaja-Abschnitts
Schauen wir uns ganz kurz ein Schema an. In den Abschnitten der großen zweiten Hälfte von Jesaja sind die Unterteilungen innerhalb der Abschnitte vielleicht nicht ganz so eindeutig wie im ersten Teil. Ich habe das Ganze in fünf Abschnitte eingeteilt.
Ich glaube, dass Jesaja am Anfang in zwei großen Abschnitten, sozusagen zwei großen Kapiteln – nicht Kapitel im heutigen Bibelverständnis, sondern große Kapitel seiner Schrift – verschiedene Themen anreißt. Diese Themen haben zu tun mit der Rückkehr der Israeliten aus der Gefangenschaft, aus der Deportation oder auch aus der Zerstreuung. Gerade im ersten Teil nimmt er viele typische Stichworte auf und wiederholt sie zum Teil auch.
Es geht in zwei Abschnitten um neues Leben in Jerusalem, um einen neuen Wachstumsschub der Bevölkerung in Jerusalem. Außerdem geht es in zwei Abschnitten um den Knecht Gottes und zum Schluss um Gottes ewige Gerechtigkeit.
Im zweiten Abschnitt wird tatsächlich noch einmal beschrieben, wie die Israeliten und vor allem Gott selbst in das Land zurückkommen. Dann, etwas untypisch vielleicht für das, was wir bisher gesehen haben, nimmt Jesaja einfach noch einmal Themen aus dem ersten Teil auf, um sie zu vertiefen. Das heißt, es sind jetzt keine selbstständigen, unabhängigen Themen, die in den nächsten drei großen Abschnitten kommen, sondern er kehrt zurück zu etwas, wovon er schon gesprochen hat, und ergänzt etwas, das ihm sehr wichtig ist.
Er tut dies zuerst mit dem zentralen Abschnitt über den Knecht Gottes. Die meisten von euch haben diesen Abschnitt schon einmal gelesen: der Knecht Gottes, der für unsere Ungerechtigkeit gestorben ist, Jesaja 53. Eigentlich, wie hier geschrieben, fängt es schon am Ende von Jesaja 52 an. Dort macht er ein Gedicht über diesen Knecht in fünf Strophen und stellt es in das Zentrum des zweiten großen Teils von Jesaja. Es ist auch das Zentrum des mittleren von drei Abschnitten.
Dann kommt Jesaja noch einmal auf das Thema Jerusalem und neues Leben in Jerusalem zurück und vertieft es, was er auch ganz am Anfang schon angesprochen hat. Anschließend fügt er noch etwas über Gottes Gerechtigkeit an. Das ist etwas, das er auch im allerersten Abschnitt ganz am Ende schon angesprochen hatte.
Das heißt, die meisten Themen werden im ersten Abschnitt angesprochen und dann in den letzten drei Abschnitten vertieft, nachdem Jesaja noch einmal beschrieben hat, wie das Volk in sein Land zurückkommt.
So sieht ungefähr das Schema dieses mittleren Abschnitts aus, dieser mittleren neun Kapitel aus den Kapiteln 40 bis 60.
Das nur, damit ihr einen kurzen Überblick habt. Ihr findet es auch im Speicher und könnt euch das selbst noch einmal anschauen, sammeln oder was immer jemand machen möchte.
Das Bild der Wüste als Symbol für neues Leben
In dem Abschnitt, den wir die letzten zwei Male betrachtet haben, Jesaja 40 bis 48, war das dominante Bild das von Israel als Wüste, die zurückgeblieben ist und in der neues Leben entsteht. Die Wüste wird fruchtbar, sie wird grün und bewässert.
Jesaja nutzt dieses Bild, um zu beschreiben, dass etwas, das wüst und lebendigslos ist – ein Land, das seiner Bewohner beraubt wurde – neues Leben erhält. Dieses Leben entsteht, weil die Bewohner zurückkehren und weil letzten Endes der Gott dieses Landes zurückkehrt.
Ich möchte mit euch noch einmal kurz an zwei Stellen lesen. Wir hatten das eigentlich schon gegen Ende des ersten Teils von Jesaja.
 Jesaja 35,1:
Die Wüste und das dürre Land werden sich freuen, und die Steppe wird frohlocken und aufblühen wie eine Narzisse. Sie wird in voller Blüte stehen und frohlockend, ja frohlockend und jubelnd. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht des Kamel und Scharons. Sehen werden sie die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unseres Gottes.
Hier nimmt Jesaja zum ersten Mal dieses Bild von der Wüste, die plötzlich grünt, auf. Vor allem in Jesaja 41 kehrt er darauf zurück. Ich lese nur diese eine Stelle; dieses Bild kommt ja mehrmals vor, wir haben das betrachtet.
 Jesaja 41,18:
Ich werde die Wüste zum Wasserteich machen und das dürre Land zur Wasserquelle. Ich werde Zedern in die Wüste setzen, Akazien und Myrten und Olivenbäume. Ich werde in die Steppe pflanzen Zypressen, Platanen und Buchsbäume miteinander, damit sie sehen und erkennen und zu Herzen nehmen und verstehen, allesamt, dass die Hand des Herrn dies getan und der heilige Israel es geschaffen hat.
Dieses Bild wiederholt sich immer wieder in Jesaja 40 bis 48, in dem Jesaja das neue Leben und die Wiederbesiedlung des Landes beschreibt. Natürlich meint er zuerst das, was er vor Augen hatte: die Wiederbesiedlung des Landes, die er sehen durfte, die er voraussehen durfte unter Serubbabel, Esra und später Nehemia.
Aber wahrscheinlich hat er auch den einen oder anderen Blick in die Zukunft werfen dürfen, wenn Gott wirklich sein Volk noch einmal sammelt, um endgültig sein Reich in diesem Land aufzurichten.
Das Bild der einsamen alten Frau: Jerusalem als Symbol der Verlassenheit
In dem Abschnitt, den wir heute betrachten und beim nächsten Mal, es sei Kapitel 49 bis 57, ändert sich das Bild ein bisschen. Man könnte sagen, es wird etwas weniger allgemein, dafür emotionaler und persönlicher.
Jesaja beschreibt Israel nicht mehr als Wüste, sondern vor allem Jerusalem als eine einsame, alte Frau. Ich habe das in meinen einleitenden Sätzen schon angedeutet: eine Frau, die verlassen wurde, eine Frau, der man ihre Kinder geraubt hat und die letzten Endes allein zurückgeblieben ist. Allein wird sie alt, ohne Hoffnung.
Natürlich ist es allein von den Bildern her so: Eine Wüste hat keine Emotionen. Wenn ich ein Land als Wüste beschreibe, dann drückt das eher eine karge, leere Landschaft aus. Eine alte Frau, die verlassen ist, dagegen enthält eine Menge Emotionen – viel Trauer und Verzweiflung.
Aber vielleicht denkst du jetzt: Gerald, du hast gerade gesagt, dass Jesaja das nur als Bild für die Ruinen Jerusalems nimmt. Ruinen haben ja auch keine Emotionen. Das stimmt. Aber ich glaube, Jesaja nimmt uns hier mit in eine Szene, in seine dichterische Art. Er stellt sich vor, dass jemand – vielleicht er selbst oder Gott, der oft in der Ich-Form spricht – in diesen Ruinen steht oder sitzt.
Gott denkt dabei zurück an die Jahrhunderte, in denen Leben in dieser Stadt war. An die Herrscher, die dort geherrscht haben. An die Menschen, die in seinem Tempel ihm gedient haben. An die Kinder, die gespielt haben. An die Feste, die gefeiert wurden. An die jungen Menschen, die geheiratet haben.
Wenn Gott jetzt inmitten dieser Ruinen steht, lösen diese Erinnerungen bei ihm Emotionen aus. Jesaja projiziert diese Gefühle in die Ruinen. Eigentlich müsste doch auch diese Stadt, diese Ruinen, dieses Leben vermissen, diesen Zeiten nachtrauern. Die Steine der Mauern, die irgendwo noch da sind, müssten doch weinen bei all dem, was sie erlebt haben und was jetzt alles weg und vorbei ist.
Ich weiß nicht, ob ihr diesen Gedanken nachvollziehen könnt. Mir geht es manchmal so, wenn ich an einem großen Fluss stehe, zum Beispiel am Main. Dann denke ich darüber nach, was dieser Fluss schon alles gesehen hat. Er ist hier schon geflossen, bevor die ersten Menschen sich in Offenbach überhaupt angesiedelt haben.
Natürlich ist das Quatsch, denn erstens hat der Fluss selbst nichts erlebt und zweitens sind es ja immer wieder andere Wassermoleküle. Aber irgendwie ist es eine Vorstellung, die mich manchmal fesselt. Dieser Fluss war da, bevor hier die ersten Bäume abgeholzt wurden, um die ersten Hütten zu bauen.
So ähnlich macht es Jesaja hier mit den Trümmern von Jerusalem. Er vergleicht sie mit einer verzweifelten, einsamen, alten Frau, deren Kinder – also die Bevölkerung – weg sind und deren Mann, in dem Fall Gott, sie verstossen hat. Das ist das Bild, in das er uns hier hineinnimmt: ein emotionales Bild.
Die Wende: Trost und Rückkehr des Volkes
Und auch hier kommt natürlich die Wende, genauso wie die Wende für die Wüste im vorigen Abschnitt kam. Dort gab es Wasser in der Wüste, und wir haben gelesen, dass alle möglichen Bäume wuchsen, dass es grün wurde und lebendig.
Genauso gibt es auch hier die Wende, wenn das Volk zurückkommt. Jesaja hatte den ganzen zweiten Teil mit den Worten aus Jesaja 40,1 überschrieben: „Tröstet, tröstet mein Volk“, spricht euer Gott. Diese Worte richten sich an jemanden, der verzweifelt ist und Trost braucht, der sich nach einer Veränderung sehnt.
„Tröstet, tröstet mein Volk“, redet zum Herzen Jerusalems und ruft ihr zu, dass ihre Mühsal vollendet ist, dass ihre Schuld abgetragen ist, dass sie von der Hand des Herrn zweifaches Empfang hat für alle ihre Sünden. Hier hat Jesaja dieses Bild bereits aufgenommen, das Bild, dass Jerusalem getröstet werden soll, dass man zum Herzen von Jerusalem sprechen soll, zum Herzen dieser Frau.
In den ersten neun Kapiteln ist er darauf nicht zurückgekommen; er hat diese Worte als Überschrift für den ganzen zweiten Teil genommen. Aber erst jetzt, in dem Abschnitt von Kapitel 49 bis 57, kommt er auf diese Eingangsworte zurück.
In den Kapiteln 40 bis 48 ging es vor allem um eine politische Erlösung. Der König von Persien sagt: Ihr dürft zurückgehen, ihr sollt zurückgehen, ihr sollt den Tempel Gottes in Jerusalem bauen. Es geht also um etwas Politisches. Menschen kehren zurück und bilden wieder eine unabhängige politische Einheit, natürlich unter der persischen Oberherrschaft, aber mit viel Selbstverwaltung. Das beschreibt Jesaja.
Im zweiten Teil geht es jedoch nicht nur um eine politische Erneuerung und die Rückkehr von Menschen. Es geht um eine geistliche Erneuerung. Es wird viel menschlicher und persönlicher, nicht nur geographisch. Die Frage lautet: Wie wird die Beziehung zu Gott erneuert? Wie wird dieser Bund mit Gott neu geschlossen? Das ist hier das Thema.
Immer wieder taucht das Wort „Trösten“ auf, das die ersten Worte in Jesaja 40 bildete. Wenn man das liest, merkt man schnell, dass es hier beim Trösten nicht darum geht, jemanden nur über den Kopf zu streicheln und zu sagen: Es wird schon wieder gut. Es geht nicht einfach um Empathie. Dieser Trost entsteht dadurch, dass sich real etwas ändert, dass man es wirklich vor Augen hat, dass es anders wird.
Es ist kein Vertrösten auf eine ungewisse Zukunft, sondern der Trost besteht darin, dass sich wirklich etwas ändern wird. Jesaja hatte diesen Gedanken schon ganz am Anfang seines Buches eingeführt. In den ersten zwölf Kapiteln, die eine Einleitung zum ganzen Buch Jesaja bilden, schließt er seine Gedanken im Kapitel 12 genau mit dem ab, worauf er jetzt zurückkommt.
Ich lese Jesaja 12:
„Und an jenem Tag wirst du sagen: Ich preise dich, Herr, denn du warst zornig gegen mich, aber dein Zorn hat sich gewendet, und du hast mich getröstet. Siehe, Gott ist meine Rettung; ich vertraue und fürchte mich nicht, denn der Herr ist meine Stärke und mein Gesang, er ist mir zur Rettung geworden.
Mit Wonne werdet ihr Wasser schöpfen aus den Quellen der Rettung, und ihr werdet sprechen an jenem Tag: Preist den Herrn, ruft seinen Namen an, macht unter den Völkern seine Taten bekannt, verkündet, dass sein Name hoch erhaben ist!
Singet dem Herrn, denn Herrliches hat er getan. Dies werde kund auf der ganzen Erde. Jauchzet und jubelt, Einwohnerschaft von Zion, denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels.“
Jesajas Perspektive auf Deportationen und Rückkehr
Wir müssen uns ein wenig in Jesaja hineinversetzen. Jesaja hat mehrere Deportationen erlebt, die wir als Deportationen durch die Assyrer bezeichnen. In der zweiten Hälfte des Buches Jesaja beschreibt er die Rückkehr aus dem babylonischen Exil. Für Jesaja scheinen das jedoch keine zwei getrennten Ereignisse zu sein.
Für ihn war Babylon einfach die Nachfolge Assyriens, was aus seiner Sicht nicht erstaunlich ist. Babylon war zu seiner Zeit eine der größten Städte Assyriens. Das babylonische Reich war geografisch weitgehend deckungsgleich mit dem assyrischen Reich. Die Menschen, die von den Assyrern deportiert wurden – aus dem Nordreich Israel oder teilweise auch aus Judäa – wurden in dieselbe geografische Region gebracht, in die später auch die Babylonier Deportationen vornahmen. Wenn sie zurückkehrten, kamen sie aus derselben Region zurück.
Für Jesaja waren das also nicht unbedingt zwei verschiedene Dinge. Für uns oder für Daniel hingegen sind es zwei verschiedene Weltreiche. Daniel lebte unter den Babyloniern, und für ihn war das etwas völlig Neues. Für Jesaja war es lediglich die Fortsetzung derselben Politik, nur von einer anderen Hauptstadt aus, unter einer anderen Dynastie und mit einem anderen Reichsnamen – aber im Grunde dasselbe.
Jesaja hatte vor Augen, wie Menschen in die Verbannung gingen und nach Generationen aus diesem Land zurückkehrten, egal wer dort gerade herrschte. Deshalb hat er diese Ereignisse wohl als zusammenhängend betrachtet. Für ihn war es ein großer Trost, dass Menschen nach Generationen zurückkehren, nachdem er erlebt hatte, wie sie fortgehen mussten. Der einzige Unterschied bestand darin, wie viele Generationen der deportierten Familien bereits in Mesopotamien leben mussten. Das war der einzige Unterschied zwischen den assyrischen und den babylonischen Deportierten aus Israel.
Jesaja fasst das zusammen in Jesaja 49,14: „Siehe, diese werden von fern herkommen, und siehe, dieser von Norden und von Westen, und dieser aus dem Land des Siniter.“ Weiter heißt es: „Jubelt, ihr Himmel, frohlocke, du Erde, und ihr Berge, bringt Jubel aus! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und seine Elenden erbarmt.“
Zion, ein anderes Wort für Jerusalem, spricht: „Der Herr hat mich verlassen, und der Herr hat mich vergessen.“ Jesaja antwortet im Namen Gottes: „Könnte auch eine Frau ihren Säugling vergessen, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Sollte sie ihn sogar vergessen, so werde ich dich nicht vergessen“, sagt Gott zu Jerusalem.
„Sieh, in meinen beiden Handflächen habe ich dich eingezeichnet, deine Mauern sind beständig vor mir.“ Wir leben heute in einer Zeit, in der Tätowierungen üblich geworden sind, was früher im westlichen Abendland nicht der Fall war. Für Israeliten war es zudem verboten, sich tätowieren zu lassen. Manche lassen sich heute den Namen ihres Geliebten oder ihrer Ehefrau oder Freundin tätowieren, andere ein Bild. Ich kenne jemanden, der das Auge seiner Tochter auf dem Arm tätowiert hat.
Hier nutzt Gott dieses Bild, als hätte er Jerusalem, die Grundrisse und Mauern der Stadt, in seine Hände tätowiert. Er sagt: „Immer wenn ich etwas tue, muss ich an Jerusalem denken. Ich habe plötzlich die Grundrisse und Mauern vor Augen. Ich kann das gar nicht vergessen. Es ist wie eine Tätowierung, bildlich gesprochen, unauslöschlich in meine Hände eingraviert.“
Frauen können vielleicht ihre eigenen Kinder vergessen – das ist selten, aber selbst wenn das möglich ist, sagt Gott: „Ich werde euch nicht vergessen. Ich werde ständig an euch denken, als wäret ihr eine Tätowierung in meinen Händen.“ So denkt Gott über diese Stadt und dieses Land, das er errichten musste, das er aber auch leer machen musste. Immer wenn er auf seine Hände sieht, wenn er sich erinnert, erwachen die Emotionen wieder – zu diesem Volk, zu dieser Stadt, die er liebt.
Jesaja 49,17 sagt: „Deine Kinder eilen herbei“, spricht er zu Jerusalem. „Deine Kinder eilen herbei, seit Generationen fern gewesen. Deine Zerstörer und Verwüster ziehen aus dir weg, sie räumen das Land und die Stadt.“
„Hebe deine Augen ringsum und sieh, sie alle versammeln sich und kommen zu dir. So wahr ich lebe, spricht der Herr, du wirst sie alle wie ein Geschmeide anlegen und dich damit gürten wie eine Braut.“
Die Mutter von Heike erinnert sich spontan daran, wie ihre Kolleginnen sich über neue, teure Kleidung und Schmuckstücke unterhielten, die ihnen ihre Männer geschenkt hatten. Sie erzählte, dass sie ihr ganzes Geld in drei besondere Schmuckstücke investiert habe. Als sie gefragt wurde, was das für Schmuckstücke seien, holte sie ihre Handtasche hervor und zeigte drei Bilder ihrer Kinder. So ist es auch bei Gott: Deine Kinder werden zu dir zurückkehren, und du wirst dich an ihnen freuen wie an kostbare Schmuckstücke.
„Denn deine Trümmer und deine Wüste, dein zerstörtes Land – nun wird es zu eng für die Bewohner, und die, die dich verschlingen, werden fern sein.“ Es werden so viele zurückkommen, dass es zu eng wird im Land und in Jerusalem für all jene, die dort wohnen wollen.
„Die Kinder deiner Kinderlosigkeit werden noch vor deinen Ohren sagen: ‚Der Raum ist mir zu eng, mach mir Platz, dass ich wohnen kann!‘ Und du wirst in deinem Herzen sprechen: ‚Wer hat mir diese geboren, da ich durch die Kinder beraubt und unfruchtbar war, verbannt und umherirrend? Um diese habe ich großgezogen, als ich allein übrig geblieben war. Wer sind diese?‘“
Plötzlich ist da eine Menschenmenge. Es scheint, als seien es mehr als die, die einst deportiert wurden. Familien haben sich in der Ferne vermehrt und kehren nun zurück, um das Land und die Stadt neu zu bevölkern. Jerusalem war verlassen und lag über Jahrzehnte in Ruinen – wie eine alte, einsame, verlassene Frau. Jetzt kehren Menschen zurück, mehr als zuvor dort lebten.
Jesaja sagt nicht genau, was er meint. Ob er die Zeit von Esra und Nehemia beschreibt, das 20. Jahrhundert oder die Zukunft, vielleicht meint er alles zusammen. Aber es geht ihm darum, dass diese Stadt und dieses Land neu belebt werden.
Jesaja 41,22-24 sagt: „So spricht der Herr, Yahweh: Siehe, ich werde meine Hand zu den Nationen erheben und zu den Völkern meinen Banner aufrichten. Sie werden deine Söhne in ihrem Schoß tragen, und deine Töchter werden auf den Schultern getragen werden. Könige werden deine Wärter sein, und ihre Fürstinnen deine Ammen. Sie werden sich vor dir niederwerfen mit dem Gesicht zur Erde und den Staub deiner Füße lecken. Du wirst erkennen, dass ich der Herr bin. Die auf mich harren, werden nicht beschämt werden.“
Das ist die Verheißung, die Gott durch Jesaja vermittelt – im Blick auf die nähere und fernere Zukunft.
Verbindung der Bilder: Die einsame Frau und die Hoffnung auf neues Leben
In Jesaja 51 werden zwei Bilder miteinander verknüpft: das Bild von der Wüste und das Bild von der einsamen Frau. Jerusalem, sagt Gott, wird so sein wie einst Sarah – eine Frau, die alt geworden ist. Sie hat zwar noch ihren alten Mann, doch sie hat keine Kinder. Sie ist ohne Perspektive, eine Frau ohne Perspektive, ein Ehemann ohne Perspektive, irgendwie dazu verurteilt, einsam zu sterben.
Doch dann greift Gott ein. Ich lese Jesaja 51, Vers 1: „Hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht.“ Dann heißt es: „Blickt hin auf den Felsen, aus dem ihr gehauen seid, und auf die Höhlung der Grube, aus der ihr gegraben seid.“ Man denkt spontan beim Lesen, dass damit Gott gemeint ist. Aber er meint nicht Gott. Er meint das alte Ehepaar, aus dem das Volk gehauen wurde, die Grube, aus der es gegraben wurde. Er meint dieses alte Ehepaar, aus dem dieses Volk entstanden ist.
Der Text geht weiter: „Blickt hin auf Abraham, euren Vater, und auf Sarah, die euch geboren hat, denn ich rief ihn, den einen, und ich segnete ihn und vermehrte ihn.“ Wie aus einem kinderlosen Paar eine ganze Nation wurde, so wird aus dieser einsamen Frau, aus den Ruinen Jerusalems, wieder eine neue und lebendige Nation. Die Wüste Juda wird wieder bewohnt, gefüllt und lebendig sein.
Ich lese einfach weiter, immer noch Jesaja 51: „Denn der Herr tröstet sie, er bemerkt – dieses Wort kommt immer wieder –, tröstet alle ihre Trümmer und macht ihre Wüste wie Eden und ihre Steppe wie den Garten des Herrn. Wonne und Freude werden darin gefunden werden, Danklied und Stimme des Gesangs.“
Das Blatt hat sich gewendet, Leben ist da. Gott tröstet sein Volk. Jesaja sagt, Gott wird so mächtig eingreifen, wie er es damals bei dem legendären Auszug aus Ägypten getan hat. Er wird sein Volk in das Land zurückbringen, das er Abraham und seinen Nachkommen versprochen hat. Er tröstet die einsame Frau.
Jesaja 51, Vers 9: „Wache auf, wache auf, kleide dich in Macht, du starker Herr, wache auf wie in den Tagen der Vorzeit, in den Geschlechtern vor Alters! Bist du es nicht, der Rahab zerhauen, das Seeungeheuer durchbohrt hat? Bist du es nicht, der das Meer, die Wasser der großen Flut, trockengelegt hat, der die Tiefen des Meeres zu einem Weg gemacht hat, damit die Erlösten hindurchziehen?“
Hier entfaltet sich das Bild von dem Auszug aus Ägypten, vom Durchzug durchs Meer und der Vernichtung, dargestellt durch das Bild, dass Rahab zerhauen wird – die Vernichtung der ägyptischen Armee. Dann sagt Jesaja weiter: „Und jetzt ist er wieder bei der Rückführung aus Babylon. Die Befreiten des Herrn werden zurückkehren und nach Zion kommen mit Jubel. Ewige Freude wird über ihrem Haupt sein, sie werden Wonne und Freude erlangen, Kummer und Seufzen werden entfliehen. Ich, ich bin es, der euch tröstet.“
Immer wieder in diesem Abschnitt verwendet Jesaja dieses Wort. Auch Jesaja 51, ab Vers 17 zeigt Jerusalem als alte, hilfsbedürftige, einsame Frau: „Erwache! Erwache, stehe auf, Jerusalem!“ Eben sollte der Arm Gottes in seiner Macht erwachen, jetzt soll die Bevölkerung Jerusalems aufwachen. Es ist Zeit, nach Jerusalem zurückzukehren.
Jerusalem soll aufwachen, es ist Zeit, sich vorzubereiten, dass wieder Leben da sein wird. „Da war niemand“, Vers 18, „der sie leitete, von allen Kindern, die sie geboren hatte. Niemand, der sie bei der Hand nahm, von allen Kindern, die sie großgezogen hatte.“ Ja, hier ist sie, die alte einsame Frau.
Zweierlei war es, was ihr begegnete. Wer hat Mitleid mit dir? Die Verwüstung, die Zerschmetterung, die Hungersnot und das Schwert – all das hatte Jerusalem erlebt. Aber wer tröstet dich? Für Generationen in der Deportation stand genau diese Frage im Raum: Wer wird Jerusalem trösten, wer wird die Einsamkeit abwenden?
Gottes Arm ist erwacht. Jesaja sagt, die Bevölkerung, die eigentlich nach Jerusalem gehört, die Israeliten, die in der Verbannung sind, sollen sich nicht länger mit dem Status quo zufrieden geben. Es muss einen Aufbruch geben.
Jesaja 52, Vers 1: „Wache auf, wache auf, kleide dich, Zion, in deine Macht, kleide dich in deine Prachtgewänder, Jerusalem, du heilige Stadt! Denn fortan wird kein Unbeschnittener und kein Unreiner in dich eintreten. Schüttle den Staub von dir ab, steh auf, setz dich hin, Jerusalem, mach dich los von den Fesseln deines Halses, du gefangene Tochter Zion!“
Die Gefangenschaft endet, es muss einen Aufbruch geben. Gott macht diesen Aufbruch möglich.
Und noch einmal, wie wir es schon gelesen haben, lässt Jesaja die Geschichte mit Jubel enden. Wenn Gott eingreift, wenn das Volk zurückgebracht wird, dann geht es noch einmal um Gottes mächtigen Arm.
Jesaja 52, Vers 7: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Botschafters, der Frieden verkündet, der Botschaft des Guten bringt, der Rettung verkündet, der zu Zion spricht: ‚Dein Gott herrscht als König!‘“
Die Stimme deiner Wächter – sie erheben die Stimme, sie jubeln insgesamt, denn Auge in Auge sehen sie die Rückkehr des Herrn nach Zion. Nicht nur das Volk kommt zurück, nicht nur Gruppen von Menschen kehren zurück, bauen den Tempel auf, bauen irgendwann die Mauern in dieser Stadt auf. Gott kehrt zurück.
Jesaja ruft zum Jubel auf: „Preist ihn mit Jubel, jubelt insgesamt, ihr Trümmer Jerusalems, denn der Herr tröstet sein Volk, erlöst Jerusalem. Der Herr hat seinen heiligen Arm entblößt vor den Augen aller Nationen, und alle Enden der Erde sehen die Rettung unseres Gottes.“
Das ist das, was Jesaja sieht. Das ist das, worauf sich Jerusalem vorbereiten soll: die Wende der Geschichte.
Die Verheißung der Ausbreitung und die Rolle der Nationen
In Jesaja 54 greift Jesaja das Bild auf, dass Jerusalem zu eng wird für die Bevölkerung.
„Jubel, du Unfruchtbare, die nicht geboren hat, brich in Jubel aus und jauchze, du, die keine Wehen gehabt hat! Denn die Kinder der Vereinsamten sind zahlreicher als die Kinder der Vermählten“, spricht der Herr.
„Mache den Raum deines Zeltes weit und spanne die Behänge deiner Wohnstätte aus. Spare nicht, mach deine Seile lang und deine Pfähle stecke fest! Denn du wirst dich ausbreiten nach rechts und nach links, und deine Nachkommenschaft wird Nationen in Besitz nehmen und verödeten Städten wohnen.“
Ab Vers 3 wird Jerusalem noch einmal explizit dargestellt als eine Frau, die nicht nur von ihren Kindern verlassen wurde, sondern auch von ihrem Ehemann – im Bild natürlich Gott – verstoßen wurde.
Jesaja 54,4 sagt: „Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht beschämt werden, und schäme dich nicht, denn du wirst nicht zu Schanden werden. Du wirst die Schmacht deiner Jugend vergessen und dich an die Schande deines Verstoßen-Seins nicht mehr erinnern. Denn der, der dich gemacht hat, ist dein Mann, Herr der Heerscharen ist sein Name, und der Heilige Israels ist dein Erlöser. Er wird der Gott der ganzen Erde genannt, der dich verstoßen hat.“
Er ist der Herr der Heerscharen, er hat die militärische Macht, er ist der König der ganzen Erde.
„Denn wie eine verlassene, einem Geist betrübte Frau ruft dich der Herr zurück.“ Dieser mächtige Herrscher ruft dich zurück als seine Frau.
„Und wie eine Frau der Jugend, wenn sie verstoßen ist, spricht dein Gott: Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen will ich dich sammeln. Im Zornausbruch habe ich in einem Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit ewiger Güte werde ich mich deiner erbarmen“, spricht der Herr, dein Erlöser.
In Vers 11 heißt es: „Du Elende, sturmbewegte, ungetröstete, siehe, ich lege deine Steine in Bleiglanz und gründe dich mit Saphiren. Ich mache deine Zinnen aus Rubinen, deine Tore aus Karfunkel und deine Kränze aus Edelsteinen. Alle deine Kinder werden vom Herrn gelehrt sein, und der Friede deiner Kinder wird groß sein.“
Rückkehr und Freude: Das Bild der Natur als Zeichen der Erneuerung
Und dann, in Kapitel 55, wechselt Jesaja noch einmal zu dem Bild der Natur, das wir aus dem folgenden Abschnitt kennen. In Jesaja 55,12 heißt es: „Denn in Freuden werdet ihr ausziehen und in Frieden geleitet werden, und die Berge und die Hügel werden für euch in Jubel ausbrechen, und alle Bäume des Feldes werden in die Hände klatschen.“
Statt der Dornsträucher werden Zypressen aufschießen, und statt der Brennnesseln werden Myrten wachsen. Es wird dem Herrn zum Ruhm gereichen, zu einem ewigen Denkzeichen, das nicht ausgerottet wird. Das ist es, was diesem Land, dieser Stadt bevorsteht.
Wie gesagt, Jesaja hat mit Sicherheit die Rückkehr damals gesehen, etwa vier Generationen nach seiner Lebenszeit. Aber wahrscheinlich ist nicht alles nur ein Bild. Wahrscheinlich hat er weiter in die Zukunft geschaut und gesehen, was diesem Volk, diesem Land und diesem Staat irgendwann noch bevorsteht.
Es gibt einen zusätzlichen Faktor, warum die Stadt bevölkert wird. In Jesaja 56,7 heißt es: „Denn mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Völker.“ Jesus wird diesen Vers später in einem ganz anderen Zusammenhang zitieren. Hier steht: „So spricht der Herr Yahweh, der die Vertriebenen Israels sammelt: Zu ihm, zu seinen Gesammelten, werde ich noch mehr hinzusammeln.“
Das bedeutet, es werden nicht nur Israeliten sein, nicht nur Leute, die jüdische oder israelitische Gene haben. Es werden auch andere Menschen kommen, die zu dieser Stadt und zu diesem Tempel kommen wollen, die dazugehören wollen. Ja, und dann wird es wahrscheinlich wirklich überfüllt sein.
In diesem Abschnitt fasst Jesaja diesen Gedanken zum letzten Mal zusammen, in Jesaja 57,18: „Seine Wege habe ich gesehen, aber ich werde es heilen“, sagt Gott, „und ich werde es leiten und ihm Tröstung erstatten und seinen Trauernden.“
„Die Frucht der Lippen schaffend, spricht der Herr: Friede, Friede den Fernen und den Nahen, und ich will es heilen.“ Immer wieder geht es darum: Menschen werden gesammelt, die einsame Frau wird nicht mehr einsam sein, die Kinder werden zurückkommen, die Stadt wird überfüllt und fruchtbar sein. Gott, als der Mann, der Ehemann, wird seine verstoßene Frau zurückholen.
Die Ursache der Vertreibung: Sünde und Ungerechtigkeit
Im Gegensatz zu dem Bild der Wüste hat das Bild der verstoßenden Frau natürlich einen Stachel, denn die Frage steht im Raum: Warum wurde sie verstoßen? Warum wurde Jerusalem verwüstet? Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Das ist vielleicht das eigentliche Thema von Jesaja in diesem Abschnitt: Was war die Ursache für die Vertreibung, und was muss sich ändern, wenn das Volk zurückkehrt? Gehen wir ein Stück zurück: Jesaja fügt dieses Thema in all die Stellen von Rückkehr, Jubel, neuem Leben und neuen Bevölkerungsmassen ein. Er fragt, wie es so weit kommen konnte und wie in Zukunft vermieden werden kann, dass es wieder so weit kommt.
„Ihr seid ja Söhne der Verstoßung“, so spricht der Herr. „Wo ist der Scheidebrief eurer Mutter, mit dem ich sie entließ? Oder welchen von meinen Gläubigern habe ich euch verkauft?“ Und jetzt kommt es: „Siehe, um eurer Ungerechtigkeiten willen seid ihr verkauft.“ Das hatte eine Ursache – die Deportation. Es gab einen Grund, warum dieses Land, dieses Volk und diese Stadt verstoßen wurden. „Um eurer Übertretung willen ist eure Mutter entlassen worden.“
Leute, es waren eure Übertretungen, es war eure Sünde, die diese ganze Situation ausgelöst hat. „Vergesst es nicht! Warum bin ich gekommen?“ schreibt Jesaja weiter. „Und kein Mensch war da, ich habe gerufen, und niemand antwortete. Warum habt ihr mich so lange ignoriert? Ist meine Hand etwa zu kurz zur Erlösung, oder habe ich keine Kraft, um zu retten? Warum kommt ihr nicht zu mir?“
„Sieh, durch mein Schelten trockne ich das Meer aus, mache Ströme zu einer Wüste.“ Ihr wisst es doch aus eurer Geschichte, was passiert ist. Warum habt ihr nicht auf mich gehört?
Ganz am Ende des Abschnitts, in Jesaja 57, Vers 3, heißt es: „Und ihr naht hierher, Kinder der Zauberin, Nachkommen des Ehebrechers und der Hure.“ Ende von Vers 4: „Seid ihr nicht Kinder des Abfalls, Nachkommen von Lügnern, die ihr für die Götzen entbrannt seid unter jedem grünen Baum, die ihr Kinder in den Tälern schlachtetet und in den Klüften der Felsen?“
Es gibt einen Grund, warum ich euch aus diesem Land fortgeschickt und verbannt habe. Folgerichtig geht es bei Jesaja nicht einfach um eine pauschale Errettung. Es geht nicht darum: „Na ja, Israel hat gesündigt, vier Generationen Verbannung sind genug, Schwamm drüber, machen wir alles rückgängig.“
Jesaja verknüpft in diesem Abschnitt immer wieder das Wort Rettung mit dem Wort Gerechtigkeit. Ich lese mal ein paar Verse aus Jesaja 51, ab Vers 4, in Ausschnitten:
„Hört aufmerksam auf mich, mein Volk, und meine Nation, heult auf zu mir, denn ein Gesetz wird von mir ausgehen, und mein Recht werde ich aufstellen zum Licht der Völker.“
Und jetzt kommt es: „Nahe ist meine Gerechtigkeit, meine Rettung ist ausgezogen. Erhebt eure Augen zum Himmel und blickt auf die Erde unten, denn die Himmel werden zergehen wie Rauch und die Erde wird zerfallen wie ein Kleid. Und ihre Bewohner werden dahinsterben, aber meine Rettung wird in Ewigkeit sein und meine Gerechtigkeit wird nicht zerschmettert werden.“
Zum zweiten Mal die Kombination von Rettung und Gerechtigkeit. Ich lese ein Stück weiter:
„Fürchtet nicht den Hohn der Menschen und erschreckt nicht vor ihren Schmähungen, denn wie ein Kleid wird sie die Motte verzehren und wie Wolle die Schabe. Aber meine Gerechtigkeit wird in Ewigkeit sein und meine Rettung durch alle Geschlechter hindurch.“
Ja, unter Rettung können wir uns etwas vorstellen im Zusammenhang. Aber was hat Rettung und Gerechtigkeit miteinander zu tun?
Wie gesagt, ist es einfach gerecht von Gott zu sagen: „Das reicht jetzt, vier, fünf Generationen Verbannung sind genug.“ Vielleicht. Ist es gerecht von Gott, dass er sagt: „Ich habe euren Vorfahren ewige Treue geschworen, und irgendwie muss ich dazu stehen. Es ist Teil meiner Gerechtigkeit, meine Verheißungen zu erfüllen.“ Ja, irgendwie schon.
Aber offensichtlich erwartet Gott auch etwas von seinem Volk. Wenn er sie zurückholen will, dann erwartet er, dass sie anders sind als vorher. Denn was macht es sonst für einen Sinn, sie zurückzuholen in dieses Land, wenn alles wieder von vorn losgeht?
Offensichtlich hat er damals Menschen gefunden, die zumindest ein Stück weit anders tickten als vorher. Zwei halbe Sätze, die ich aus Jesaja 51 ausgelassen habe:
Jesaja 51, Vers 1: „Hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht.“
Offensichtlich hat Gott Menschen gesehen, dort in Babylon, diesem großen Reich, Israeliten, die wirklich der Gerechtigkeit nachjagen und die Gott suchen – irgendwie etwas ganz Neues.
Vers 7: „Hört auf mich, die ihr Gerechtigkeit kennt, ihr Folgenden, in deren Herzen mein Gesetz ist.“
Das klingt so anders als das, was er ihnen vorgeworfen hat, nämlich dass sie nur noch Götzendienst getrieben haben und ihre Kinder den Götzen geopfert haben. Er hat Menschen gesehen, die sein Gesetz neu im Herzen haben.
Und das war, glaube ich, eine Voraussetzung dafür, dass er sie durch ein großes Wunder zurückgeführt hat in ihr Land.
Es wird auch in Zukunft die Voraussetzung sein, dass er Menschen aus aller Welt zurückführt in sein Land, dass dort Menschen sind, die der Gerechtigkeit nachjagen, die den Herrn suchen und in deren Herzen das Gesetz Gottes ist.
Ich habe den Eindruck, dass wir das heute noch nicht sehen, auch wenn in den letzten Generationen viele Menschen nach Israel zurückgekommen sind. Hier stellt Gott irgendwie andere Maßstäbe auf.
Jesaja 55, Vers 6: „Sucht den Herrn, während er sich finden lässt, ruft ihn an, während er nahe ist! Der Gottlose verlasse seinen Weg, der Mann des Frevels seine Gedanken, und er kehre um zu dem Herrn, so wird er sich seiner erbarmen und zu unserem Gott, denn er ist reich an Vergebung.“
Er erwartet etwas von seinem Volk, wenn er sie in sein Land zurückbringen soll.
Jesaja 56, Vers 1: „So spricht der Herr: Haltet Recht und übt Gerechtigkeit, denn meine Rettung ist bereit zu kommen und meine Gerechtigkeit offenbart zu werden. Glückselig der Mensch, der dies tut und das Menschenkind, das hieran festhält.“
Er wartet zumindest, auch wenn er sicher keine Perfektion erwartet, weil er weiß, dass er das nicht kann. Er erwartet zumindest, dass man ihn bewusst sucht, dass man sich ihm anvertraut und mit ihm leben möchte.
Es war seine Erwartung durch alle Zeiten, etwas, das in der Vergangenheit so selten im Volk geschah und gerade in den letzten Generationen, die noch im Land lebten, fast nicht mehr passiert ist.
Jesaja 57, Vers 13: „Wer aber zu mir seine Zuflucht nimmt, wird das Land erben und meinen heiligen Berg besitzen. Und man wird sagen: Macht Bahn, macht Bahn, bereitet einen Weg, hebt aus dem Weg meines Volkes jeden Anstoß weg.“
Gott ist so begeistert, wenn jemand auch nur Zuflucht zu ihm nimmt, auch wenn er nicht den Anspruch erheben kann, dass er schon alle Gesetze erfüllt.
Denn so spricht der Hohe und der Habende, der in Ewigkeit wohnt und dessen Name der Heilige ist: „Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und auch bei dem, der einen zerschlagenen und gebeugten Geist hat.“
Das sind Menschen, die Gott sucht, die er damals gesucht hat, die er durch die Geschichte gesucht hat und die er in der Zukunft suchen wird – Menschen, die einen zerschlagenen und gebeugten Geist haben, die irgendwie Zuflucht nehmen zu diesem Gott, diesem heiligen Gott, der im Heiligtum wohnt.
„Um zu beleben den Geistesgebeugten und zu beleben des Herzens Zerschlagenen, denn ich will nicht ewig rechten und nicht für immer ergrimmen.“
Vers 19: „Die Frucht der Lippen schafft“, spricht der Herr, „Frieden, Frieden den Fernen und den Nahen, und ich will es heilen.“
Und jetzt kommt der letzte Satz dieses Abschnitts: „Aber sie sind wie das aufgewühlte Meer, denn es kann nicht ruhig sein, und seine Wasser wühlen Schlamm und Kot auf. Kein Friede den Gottlosen“, spricht mein Gott.
Das ist der gleiche Satz, zumindest das Ende, mit dem auch der vorherige Abschnitt in Jesaja 48 endete: Kein Friede den Gottlosen.
In diesem Abschnitt Jesaja 40 bis 48 war das überraschend. Gerade vorher hatten noch alle gejubelt, dass sie zurückkommen, dass die Wüste blüht. Und plötzlich kommt dieser Satz: Kein Friede den Gottlosen.
Es ist nicht etwas, was für alle ist. Es ist nicht etwas, was für alle gilt, nur weil sie israelitische Gene oder israelitisches Blut haben. Jesaja sagt: Kein Friede den Gottlosen.
Hier, in diesem zweiten großen Abschnitt Jesaja 49–57, überrascht das nicht mehr. Jesaja 57 hat noch einmal ausführlich diesen ganzen Götzendienst beschrieben, der in seiner Generation und in den Generationen nach ihm geherrscht hat. Wir haben vorhin einen kurzen Ausschnitt davon gelesen.
Es ist keine Überraschung, dass Gott sagt: Nur wer sich von diesen Dingen distanziert, von den Sünden der Vorfahren, „nur der wird das erleben, was hier in so glühenden Farben beschrieben wird: eine grüne, blühende Wüste, eine glückliche Frau, die nicht mehr einsam ist.“
Nur der wird das erleben, der zu mir kommt, der zu mir Zuflucht sucht. Die gottlosen Israeliten werden keinen Frieden erleben.
Jesaja macht eine sehr klare Unterscheidung: Es wird keine Allversöhnung Israels geben. Gott ist heilig, Gott wird genannt der Heilige, Gott wohnt im Heiligtum.
Der Ruf zur Heiligung und Absonderung
Gehen wir ein Stück zurück zu Jesaja 52, einer Stelle, die ich ausgelassen habe, aber sehr interessant ist. Jesaja 52, Vers 11 enthält einen besonderen Aufruf Gottes zur Heiligkeit für diejenigen, die zurückkommen wollten. Zu jener Zeit lebten viele noch in Babylon oder einer der babylonischen Städte, als dieser Ruf erging: zurückzukehren nach Jerusalem, nach Juda, nach Israel.
Gott sagt in Jesaja 52, Vers 11: „Weicht, weicht, geht von dort hinaus, rührt nichts Unreines an, geht aus ihrer Mitte, reinigt euch, die ihr die Geräte des Herrn tragt! Denn nicht den Hass sollt ihr ausziehen und nicht die Furcht weggehen, denn der Herr zieht vor euch her, und euer Nachhut ist der Gott Israels.“
Im Gegensatz zum Auszug aus Ägypten müsst ihr euch diesmal nicht beeilen. Euer Auszug ist genehmigt, und diese Genehmigung des Königs wird nicht zurückgezogen werden – nicht wie damals bei Pharao. Kyrus handelt anders. Euch steht eine besondere Zukunft bevor: Ihr sollt den Tempel wiederaufbauen. Ihr sollt die Geräte, die zum Tempel gehören, zurücktragen. Ihr werdet sie tragen, wenn ihr Leviten seid, oder ihr werdet sehr eng damit verbunden sein, wenn ihr mit ihnen in euer Land zurückkehrt.
Bereitet euch darauf vor, heiligt euch! Wenn ihr euch mit dieser heidnischen Stadt vermischt habt oder mit unreinen Dingen in Berührung gekommen seid, von denen ihr wisst, dass sie Gott nicht gefallen, dann distanziert euch frühzeitig. Denn ihr seid Menschen, die die Geräte des Heiligtums Gottes tragen und zurückgehen, um den Tempel Gottes, den Tempel des heiligen Gottes, zu bauen. Weicht, weicht!
Jesaja hatte das gesehen, denn in Jesaja Kapitel 6 war er im Thronsaal Gottes und im Heiligtum Gottes. Dort hatte er gesehen, wie sogar die Engel Gottes die Heiligkeit Gottes vor Augen haben und ihr Angesicht und ihre Füße bedecken, wenn sie diesem heiligen Gott nahen. Geprägt von diesem Bild seiner eigenen Berufung gibt er diese Aufforderung Gottes weiter: „Weicht, weicht, geht von dann hinaus, rührt nichts Unreines an!“
Er musste sagen: „Ich habe unreine Lippen, ich gehöre zu einem Volk von unreinen Lippen.“ Und jetzt sagt er: „Rührt nichts Unreines an, heiligt euch für diesen Gott, der euch zurückhaben will in seinem Land! Geht aus ihrer Mitte hinaus!“
Dieser Satz wird von Paulus in 2. Korinther 6,17 aufgegriffen: „Seid nicht in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen, denn welche Gemeinschaft haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft hat Licht mit Finsternis? Welche Übereinstimmung besteht zwischen Christus und Belial? Oder welches gemeinsame Teil hat ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? Welchen Zusammenhang hat der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes.“
Paulus zitiert zunächst 3. Mose 26: „Ich will unter ihnen wohnen und umhergehen, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.“ Paulus sagt genau das, was damals der Aufruf Jesajas an die Israeliten war, die zurückkommen sollten. Heute ergeht dieser Aufruf an euch, an die Gemeinde in Korinth, an die Gemeinde des Neuen Testaments: Seid vorsichtig! Ihr gehört zu einem heiligen Gott. Gott hat gesagt: „Ich will unter ihnen leben, ich will mich in ihrer Mitte bewegen.“
Gott ist ein heiliger Gott, und das gilt nicht nur zur Zeit Jesajas, nicht nur zur Zeit Moses und auch nicht nur zur Zeit der Korinther. Gott hat sich nicht geändert. Er will sich in unserer Mitte bewegen und gegenwärtig sein. Das bedeutet, dass wir uns von manchem distanzieren müssen.
In 2. Korinther 6 geht es weiter: „Darum geht aus ihrer Mitte hinaus“, zitiert Paulus Jesaja, „sondert euch ab“, spricht der Herr, „und rührt Unreines nicht an.“ Jesaja hatte gesagt: „Ihr werdet die Geräte des Tempels tragen.“ Paulus sagt: „Ihr seid der Tempel, ihr seid der Tempel Gottes. Rührt Unreines nicht an. Geht aus ihrer Mitte hinaus!“
Das ist eine große Herausforderung. Ich meine, wir sollen nicht ins Kloster gehen oder eigene christliche Siedlungen bilden. Wie sollen wir das machen? Wir können nicht einfach den Kontakt zu Menschen abbrechen. Paulus sagt, wenn man den Kontakt zu Huren, Räubern usw. abbrechen wollte, müsse man aus der Welt herausgehen. Aber Paulus sagt auch: Ihr müsst euch distanzieren, ihr müsst euch innerlich distanzieren. Ihr dürft vieles nicht mitmachen, weil ihr zu dem heiligen Gott gehört.
Das ist das Thema von Jesaja 49 bis 57 und auch von 2. Korinther 6. Die große Herausforderung lautet: Was bedeutet es, aus ihrer Mitte hinauszugehen, wenn ich das nicht geographisch tue? Wie kann ich nach anderen Werten und einer anderen Moral leben als die Menschen um mich herum? Wie geht das?
Diese Herausforderung bestand damals, auch zur Zeit der Korinther. Du gehörst vielleicht zu einer Handwerkergilde, die sich in einem Götzentempel trifft, wenn sie ihre Versammlung haben. Du gehörst zu einer Familie, aus der du dich herausbegeben hast, und sie feiern ihre großen Familienfeste in einem Tempel des Junos. Du stehst vor der Situation, mit jemandem eine Firma zu gründen, und es ist verlockend, weil ein ehemaliger Kollege dich eingeladen hat. Doch Gott sagt: „Du sollst nicht in einem ungleichen Joch sein mit Ungläubigen.“
Das ist schwierig. Viele haben mich rausgeschmissen und wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Und da ist endlich jemand, der mit mir zusammenarbeiten will. Aber Gott sagt: „Nein, das geht nicht auf dieser Basis.“ Man hat den Eindruck, als Gläubiger einsam zu sein. Man hat finanzielle Nachteile. Wie soll ich meine Familie durchbringen?
Deshalb fügt Paulus einen Satz hinzu: „Rührt Unreines nicht an, tut nicht nach ihren Taten, nicht mit Blicken, Gedanken, Plänen oder Fantasien.“ Wenn Gott euch wirklich heiligt, dann sagt er: „Ich werde euch aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein“, spricht der Herr, der Allmächtige.
Es ist manchmal angsteinflößend, sich abzusondern und dadurch noch mehr ausgeschlossen zu sein. Aber Gott sagt: Wenn du bereit bist, es zu tun, werde ich dich aufnehmen. Du gehörst zu meiner Familie. Das ist die Botschaft von Jesaja und die Botschaft von Paulus.
