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Angst gehört zum Leben. Aber weil sie überwunden werden kann, schreibt Paulus einen seelsorgerlichen Brief an seinen jungen Mitarbeiter Timotheus: Gute Post gegen die Berufsangst, gegen die Menschen­angst und gegen die Todesangst. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Heute würde man ihn Tim nennen, liebe Gemeinde, vielleicht auch Timo oder gar Timofei. Damals hieß er Timotheus, zu deutsch: Gottesverehrer. Nun kann man ja Gottlieb heißen und diesen Gott nicht mehr lieben, sondern sogar hassen. Nun kann man ja Gottlob heiß­en und diesen Gott nicht mehr loben, sondern sogar beleidigen. Nun kann man ja Gottfried heißen und der übelste Streitvogel und Krachmacher sein. Leider gilt Fausts Bemerkung nicht immer: “Bei euch, ihr Herren, kann man das Wesen gewöhnlich aus dem Namen les­en.”

Aber Timotheus machte seinem Namen alle Ehre: Gottesverehr­er.

Er war fromm, wirklich fromm. Dieser junge Mann trug nicht nur ein frommes Mäntelchen, das schon seine Großmutter Lois und seine Mutter Eunike abgetragen hatte. Manche machen das so, be­erben ihre gottseligen Omas, stopfen ein paar Löcher, setzen ein­en neuen Kragen darauf und färben das Ganze fröhlich ein: einmal braun, dann rot, dann grün, dann schwarz. Modisch muss der Glaube sein, möglichst bunt und kunterbunt. Von Timotheus wird ausdrück­lich berichtet, dass er einen ungefärbten Glauben hatte, also kein Erbstück, das ihn herausputzte, sondern ein Herzstück, das ihn zutiefst gestaltete.

Er war fromm, und er war frei, wirklich frei. Dieser junge Mann trat in den hauptamtlichen Reisedienst. Als Paulus ihn anfragte, ob er mit ihm kommen wolle, antwortete er nicht: “Ich bin in meiner Familie verwurzelt; ohne verwandtschaftliche Beziehungen kann ich mir mein Leben überhaupt nicht vor­stellen. Ich bin an meinen Beruf gebunden; ich kann doch nicht von heut auf morgen den Bettel hinwerfen und den Hut nehmen. Ich bin unserer Gemeinde verpflichtet; bei dem Mitarbeitermangel darf sich keiner davonstehlen. Ich bin meiner Gesundheit etwas schuld­ig; das Herz falliert bei jeder Strapaze.” Es ist immer wieder be­merkenswert, welche Bindungen und Verpflichtungen und Schuldig­keiten dann herhalten müssen, wenn es um den Dienst des Herren geht. Timotheus löste alle Seile und zog mit dem Völkerapostel los.

Er war frei, und er war treu, wirklich treu. Dieser junge Mann stand auch dann zu seinem väterlichen Freund, als der per Schub nach Rom gebracht und in die Zelle gebracht wurde. Urlaub von der Treue gibt es nicht und Entlassung aus der Treue gibt es erst recht nicht. “Sei getreu bis in den Tod” muss jedem ins Stammbuch geschrieben sein.

Timotheus war fromm, frei und treu, aber eines auch, nämlich ängstlich. Niemand sage, dass er dies nicht kenne. Keiner behaupte, dass ihm dies gänzlich fremd wäre. Jeder hat es mit seinen speziellen Ängsten zu tun. Der Bub ängstigt sich vor der Zange, mit der der Zahn gezogen werden soll. Das Mädchen ängstigt sich vor dem Hund, der hinter dem Gartenzaun bellt. Der Schüler ängstigt sich vor dem Test, der seine Faulheit ans Licht bringt. Der Student ängstigt sich vor dem Examen, das über die Berufsaussichten entscheidet. Der Erwachsene ängstigt sich vor der Krankheit, die ihn aus dem Geleise werfen kann. Der Alte ängstigt sich vor der Stille, die von keinem Menschen mehr unterbrochen wird. So ängstigt sich Timotheus vor dem Beruf, den er ausfüllen soll, vor den Menschen, die ihm begegnen werden, vor dem Tod, der auf ihn lauert.

Angst ist kein Armutszeugnis, Angst ist auch keine Charakterschwäche, Angst ist erst recht kein Unglaube. “In der Welt habt ihr Angst” hat Jesus seinen Nachfolgern gesagt. Aber weil diese Angst überwunden werden kann, deshalb greift Paulus nach einem Papier. Ein seelsorgerlicher Brief fließt aus der Feder. Trotz römischen Zensuren erreicht er den jungen Mitarbeiter. Gute Post gegen die Berufsangst, gegen die Menschen­angst und gegen die Todesangst. Und weil sie im Gegensatz zu andern Paulusbriefen im Lauf der Jahrhunderte nicht verschütt ge­gangen ist, können wir sie heute nachlesen und überdenken.

1. Gute Post gegen die Berufsangst

Mit der Festnahme des Apostel war gleichsam das “winning team”, das siegende Missionsteam mit Paulus, Timotheus, Silas und Lukas gesprengt. Der Vormann und Vordenker, der Kopf dieser evangelistischen Pressure-Group saß hint­er Schloss und Riegel. Die ganze Verantwortung fiel auf den jung­en Timotheus. In Jerusalem und Antiochia war der theologische Streit über die Heidenmission noch keineswegs ausgestanden. In Ephesus und Lystra standen die ersten Christengemeinden noch auf wackligen Füßen. In Korinth und Thessalonich brachten aufge­plusterte Schwärmer die christliche Sache zum Kippen. Die vor ihm liegenden Aufgaben türmten sich wie ein unüberwindbares Ge­birge. “Pack ich das?”, fragte er sich ängstlich. “Hab ich das Zeug dafür? Bin ich nicht total überfordert bei diesem Dienst?”

Nun haben wir zwar keinen Paulus zu ersetzen und unser Dienstplan bewegt sich in kleineren Karos. Aber oft genug beschleicht auch uns die Angst, wenn wir an unsere Werkbank denken, an unseren Schreibtisch, an unseren Computer, an unseren speziellen Platz, den wir ausfüllen sollen. Die Anforderungen werden immer größer und die Belastungen immer stärker. Wie eine unüberwindbare Gebirgswand türmt sich der Beruf vor uns auf. Schaff ich das? Hab ich die Kraft dazu? Bin ich nicht körperlich und geistig total unterqualifiziert für diese Aufgabe?

Paulus schreibt: “Er hat uns berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sond­ern nach seinem Ratschluss.” Beruf hat etwas mit Berufung zu tun. Es gibt demnach neben einer göttlichen Weltpolitik und einer göttlichen Machtpolitik auch eine göttliche Personalpolitik. Und die füllt den Stellenplan nicht nach unserer Klugheit, sondern nach seinem Rat. So steht der auf der Kanzel und der andere auf dem Bau, so sitzt der hinter dem Schreibtisch und der andere hinter dem Steuerrad, so läuft der durch die Wohnung und der andere durchs Büro. Und wenn die Fragen kommen, oh ich denn am richtig­en Platz hin, dann hör ich: “Er hat mich berufen.” Und wenn mir die Zweifel kommen, oh ich denn dem allem gewachsen hin, dann hör ich: “Er hat mich berufen.” Und wenn die Ängste kommen, ob ich denn diese Last auch in Zukunft schultern kann, dann höre ich: “Er hat mich berufen.”

Denn wen er beruft, den rüstet er auch aus. Dieser Arbeitgeber gibt über den Arbeitsplatz und die Arbeitskleidung und die Arbeitsvergütung hinaus auch die Arbeitskraft dazu. Was kein anderer Chef austeilen kann, das verteilt er mit offenen Händen: Kraft, Spannung, Durchhaltevermögen. Das ist die Kern­energie, die wir brauchen und in deren Verstrahlung wir gesund­en können. Paulus weiß das von Jesus Christus, dem er persönlich begegnet ist: “Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft.”

Gute Post gegen die Berufsangst.

2. Gute Post gegen die Menschenangst

Timotheus erinnerte sich ge­nau. Die zwei Missionsreisen waren keineswegs vergessen. Paulus stand vor seinem inneren Auge. Wie der in Philippi den Stadtrichtern unter die Augen trat und die Meinung sagte; wie der in Athen mit den Philosophen diskutierte und von Buße redete; wie der in Caesarea mit dem Statthalter umsprang und eine Lippe ris­kierte; wie der sogar vor dem König stand und das Evangelium nicht unter den berühmten Teppich kehrte. “Ich schäme mich des Evangeliums nicht” hatte er gesagt. Ja, er ist geradezu zum unverschämten Herold dieses Herrn geworden, der den Mund nicht halten konnte über der weltbewegenden Nachricht dieses Christus. “Aber kann ich das?”, fragte er sich ängstlich. “Habe ich den Mut dazu? Werde ich nicht belächelt und sogar bemitleidet?”

Es muss ja gar kein Philosoph oder Statthalter oder König sein, dem wir Rede und Antwort stehen müssen. Da genügt der heranwachsende Sohn am Mittagstisch oder der betuchte Nachbar von nebenan oder der quirlige Kamerad im Verein, um uns zu stummen Hunden zu machen: “Was wird der sagen? Was wird die von mir denken? Wie werden die über mich schwätzen?” Menschenangst steckt uns in den Knochen.

Und Paulus sagt: “Schäme dich nicht.” Seine Argumentation ist nämlich folgende: Wenn ein Hausbewohner von Flammen eingeschlossen ist, wird sich dann der Feuerwehrmann schämen, von Rettung zu reden und in seinem Auto sitzenbleiben? Oder wenn ein Kletterer in eine Gletscherspalte abgestürzt ist, wird sich dann der Bergwachtmann schämen, von Hilfe zu reden und in seinem Hubschrauber weiterfliegen? Oder wenn ein Verunglückter aus allen Wunden blutet, wird sich dann der Notarzt schämen, von Einsatz zu reden und in seinem Krankenhaus weiterarbeiten? So sieht Paulus den Statthalter, den Philosophen, den König, so sieht er auch den Sohn und den Nachbarn und den Kameraden, so sieht er jeden Menschen in höchster Gefahr, von den Flammen der Sünde eingeschlossen, in die Gletscherspalte der Schuld gestürzt, aus allen Wunden blutend nach Liebe und Geborgenheit.

Wir alle sind nicht nur lebenshungrig und liebessüchtig, sondern rettungsbedürftig. Keiner kann ohne die Rettung durch Jesus leben. Jeder ist auf die Hilfe des Christus angewiesen. Wir alle brauchen den Einsatz Gottes selbst. Dies aber geschieht mit dem Wort des Lebens und mit der Tat der Liebe. Warum geben wir bei den eigenen Kindern klein bei und stecken sogar das Tischgebet? Warum befürchten wir den Spott der Kollegen und wagen kein Sterbenswörtlein mehr? Warum zittern wir vor Doktoren und Professoren und verstummen in höchster Ehrfurcht? “Schäme dich nicht des Zeugnisses von dem Herrn”, sagt Paulus, denn “Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Liebe.”

Gute Post gegen die Menschenangst.

3. Gute Post gegen die Todesangst

Paulus sitzt in der Todeszelle. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Henker ihn abholt. Das Ende steht fest. Timotheus will das Grauen überkommen. Die Macht der Hohepriester ist schon groß, wenn sie einen Frommen der Gotteslästerung bezichtigen. Und die Macht der Könige ist noch größer, wenn sie einen Unschuldigen hinter Schloss und Riegel setz­en. Und die Macht der Kaiser ist riesengroß, wenn sie einen Ge­rechten zum Tod verurteilen.

Aber die Macht des Todes ist am größten, wenn sie jedes Leben brutal liquidiert. Jedes Wohn­zimmer, jede noch so noble Villa, jeder faszinierende Platz dies­er Erde ist bei Lichte besehen nur eine Todeszelle, in der wir einsitzen. Es ist einzig und allein eine Frage der Zeit, bis der Tod uns einholt und herausholt. Die Tatsache Tod ist eine todsichere Sache.

Wir wollen nicht daran denken. Wir überspielen die grausame Wahrheit mit Rennen und Jagen, mit Kaufen und Verkaufen, selbst am Sonntag.

“Wir reden, weil es tödlich uns umschweigt.
Wir jagen die aus Angst zur Tat Verfluchten,
die immer nur die eigene Fratze zeigt.
Wir hören schon das Schreiten des Gerichts.
Wir tun, als ob wir eifrig etwas suchten
und wissen schon, wir finden nur das Nichts.”

Und Paulus findet etwas anderes. Selbst im finstersten Loch trifft er auf den Heiland Jesus Christus, dessen Macht die Macht der Hohepriester, die Macht der Könige, die Macht der Kaiser, ja die Macht des Todes weit überragt. Seit er am Karfreitag wohl ans Kreuz geschlagen wurde, in Wirklich­keit aber genau dort den Tod aufs Kreuz gelegt hat, seither hat Jesus in jedem Fall die Übermacht.

Ob ich schon als Junger be­fürchte, dass diese Welt in selbstzerstörerischem Wahnsinn einem schlimmen Ende entgegengeht, oder ob ich erst als Alter davor zittere, dass diese unheimliche Krankheit meine Kräfte auffressen, als Christ weiß ich: Es geht nie vom Leben in den Tod, sondern immer nur durch den Tod zum Leben.

Ernst Jünger hatte recht, wenn er schreibt: “Wir werden sehend, wenn das Licht erlischt.” Gerade angesichts des Herbstes, der uns an die Vergänglichkeit erinnert, ist es gesagt: “Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Besonnenheit.”, der also nicht von Sinnen kommt, sondern in den Sinn kommt, wenn der Herr heimruft:

“Ich hang und bleib auch hangen
an Christo als sein Glied.
Wo mein Haupt durch ist gangen,
da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
durch Welt, durch Sünd, durch Not.
Er reißet durch die Höll,
ich bin stets sein Gesell.”

Keine Todesangst mehr, keine Menschenangst und keine Berufsangst mehr?! Wenn das keine gute Post für Sie ist!

Amen.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]