Glauben lernen
Nun reisen sie wieder, liebe Gemeinde. 18 Millionen Bundesbürger waren es im Jahre 1970. 27 Millionen im Jahre 1980. Fast 30 Millionen werden es in diesem Jahr sein. Die Faszination des Urlaubs ist ungebrochen, trotz hochgekletterten Benzin- und Pensionspreisen. Schon im Mai beginnt die säkularisierte Adventszeit. Die Sonntage haben zwar keinen bestimmten Namen mehr, aber sie zielen hin auf das große "Gehe aus”, auf den ersehnten Urlaub, auf das schönste "Fest des Jahres". Doch, es steckt schon eine gewaltige Kraft in diesem Hinausgehen, die Massen zu einer bestimmten Zeit in ein Fieber versetzt, sie stundenlang in den Staus überfüllter Autobahnen aushalten lässt und zu gewaltigen Fahrleistungen in heißen Blechkarossen antreibt. Reisen ist heute die populärste Form des Glücks. Dabei ist auffallend, und so belehren uns die Freizeitpsychologen, dass eine immer größere Zahl nicht irgendeinen Urlaub, sondern richtig Urlaub machen möchte. Das heißt, der Aktivurlaub sei im Kommen. Die einen wollen das Klettern erlernen. Sie möchten mit Seil und Hacke in schwindelnder Hohe einen Viertausender machen. Wer also klettern will, geht in die Alpen. Die andern wollen das Segeln erlernen. Sie möchten mit Pinne und Takelwerk auf hoher See den Winden trotzen. Wer also Segeln lernen will, geht an die Nordseeküste. Die Dritten wollen das Tauchen erlernen. Sie möchten mit Gummizeug und Sauerstoffflasche in großer Tiefe Korallenbänke knipsen. Wer also tauchen lernen will, geht ans Mittelmeer. Aktivurlaub ist in.
Wenn dem aber so ist, dann könnten wir ihn auch für etwas ganz anderes nützen. Manche wollen nämlich den Glauben erlernen. Sie möchten mit Kraft und Halt durch Ängste hindurch ihren Weg gehen. Sie möchten mit Zuversicht und Stärke durch Nöte hindurch ihre Tage erleben. Sie möchten mit Hoffnung und Gewissheit durchs Sterben hindurch ihrem Herrn folgen. Auch dafür gibt es ein Angebot. Wer glauben lernen will, geht an den Persischen Golf. Doch, Sie haben richtig gehört: an den Persischen Golf. Dort war das Land Chaldäa. Dort stand die Stadt Ur. Dort lebte der alte Abraham, von dem Paulus bemerkte, dass er der Vater all derer sei, die da glauben. Und wenn Sie auch zu diesen Lernbegierigen gehören, dann lade ich Sie dorthin ein, gleichsam als Entschädigung dafür, dass Sie an diesem Julisonntag nicht in Berchtesgaden oder Travemünde, sondern in Stuttgart sitzen und mit mir vorlieb nehmen müssen. Wer nämlich bei Abraham glauben lernt, der lernt nicht mehr nach oben, nicht mehr nach links oder rechts, nicht mehr nach unten, sondern der lernt nur noch nach vorne zu schauen.
Also, fliegen Sie mit mir in Gedanken über die Alpen, den Balkan und die Türkei. Im Irak, hart an der Grenze zum Iran, landen wir unweit der bekannten Ölemirate am Fluss Euphrat. Im heutigen Mugajjar werden uns die umfangreichen Ausgrabungen der chaldäischen Stadt Ur gezeigt.
1. Hier lernte Abraham, nicht mehr nach oben zu schauen
Im Mittelpunkt der ovalen Stadtanlage, deren größter Durchmesser 1500 m beträgt, entdecken wir nämlich einen künstlich aufgeschütteten Terrassenberg. Grünpflanzen, bewässert durch ein sinnvolles System von Pumpwerken, geben ihm ein eigenartiges Aussehen. Auf dem abgeflachten Gipfel steht ein rechteckiges Hallengebäude. Das ist das Heiligtum des Mondgottes Nanna-Sin und seiner Gemahlin Ningal, erklärt der Fremdenführer. Chaldäer waren Mondanbeter. Urbewohner waren Gestirnsgläubige. Abrahamsleute waren Sterngucker. Wenn also die mörderisch sengende Sonne hinter dem weiten Horizont verschwand und sich Millionen Lichter um den kühlen und milden Mond herum entzündeten, dann zogen ganze Menschenschlangen hinauf auf die Terrassen und blickten ängstlich nach den ehernen Mächten über ihren Häuptern. Was sagt der Mond über meine Entscheidung? Was sagen die Planeten über meine Pläne? Was sagen die Konstellationen über meine Absichten? Habe ich unter einem guten oder schlechten Stern zu leben?
Das ist 5000 Jahre her, aber hinaufgucken tun sie immer noch. Die Brasilianer zum Beispiel: Als sie am vergangenen Dienstag ihr wichtiges Fußballspiel gegen Italien verloren, herrschte in Rio eine totale Mondfinsternis. Dazu schrieb die Zeitung: "Der Mond, das weiß jeder, beeinflusst den Menschen. Deshalb haben sie Fehler gemacht, diese Zauberer vom Zuckerhut. Welch andere Erklärungen sollte es geben? Also hat sie der Mond gelähmt, wer sonst?" Auch viele Deutsche gucken hinauf. In der Bundesrepublik glauben 25% an einen Zusammenhang von Himmelskonstellation und Menschenschicksal. Jeder Vierte liest sein Horoskop und fragt: Was sagt der Astrologe? Was sagt der Sterndeuter? Was sagt mein Sternbild?
Und Abraham merkt: Der Mond sagt gar nichts. Die Sterne schweigen. Im Weltall ist eine eisige Stille. Von oben ist kein Ton zu hören, aber von vorne. Der Herr sprach! Der Vater sagte! Der lebendige Gott nahm das Wort, obwohl gerade er hätte schweigen müssen. Im Paradies vergriffen sich Adam und Eva am Lebensbaum. Auf dem Feld erschlug Kain den Abel. Unter einer wachsenden Bevölkerung ging es immer böser zu. In Babel trieben sie es mit dem Turmbau auf die Spitze. Dennoch zog sich dieser Gott nicht in den Schmollwinkel zurück. Dennoch schwieg dieser Gott seine Schöpfung nicht tot. Dennoch hatte er nicht ein für allemal genug. Er sprach zu Abraham. Er sprach zu David. Er sprach zu Mose. Er sprach zu Jesaja, zu Jeremia, zu Amos.
Durch Jesus spricht er überdeutlich zu uns: Was sind das für kleine Marschierer, die euch so mächtigen Eindruck machen? Was sind das da oben für bescheidene Geschöpfe, die nur deshalb funkeln, weil sie angestrahlt sind? Was sind das da oben für armselige Götter, vor denen ihr wie die Sterntaler steht und euch Gold erhofft? Gott hat sie geschaffen und deshalb habt nichts mit ihnen zu schaffen. Eure Zukunft liegt nicht in den Sternen. Wer hinaufschaut, guckt in den Mond. Von vorne sind wir angesprochen, denn "unser Gott kommt und schweigt nicht". Von vorne sind wir angeredet, denn "der Herr redet". Von vorne sind wir gerufen, denn, und so sagt Gott selbst: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.
2. Hier lernte Abraham, nicht mehr nach links oder rechts zu schauen
Die wunderschön gelegene Stadt Ur hat außer dem Mondheiligtum noch andere Sehenswürdigkeiten. Breit angelegte Handelsstraßen führen aus allen Himmelsrichtungen durch 7 Tore mitten hinein in die Stadt. Auf ihnen kam Reichtum und Wohlstand zu den Leuten. Kein Wunder, dass sie stattliche Häuser besaßen, zum Teil mit 10 oder 20 Wohnräumen, ausgestattet mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten: Polsterstühle, Teppiche, Schnitzwerk und Mosaiken. In Ur ließ sich leben, gut leben, herrlich leben. Und Gott sprach zu Abraham: Geh aus deinem Land! Der schaute hinaus auf das tiefblaue Wasser, den weiten Horizont, die malerische Golfregion. Durch tiefe Wurzeln war er mit dieser Heimat verbunden. Und Gott sprach zu Abraham: Geh aus deiner Verwandtschaft! Der schaute hinüber zu seiner Mutter, zu seinen Brüdern, zu seinen Vettern und Basen. Durch gleiches Blut war er mit diesen Menschen verbunden. Und Gott sprach zu Abraham: Geh aus deinem Haus! Der schaut herum in seiner Wohnung, in der Stätte seiner Kindheit, in den Räumen seines Glücks. Durch 1000 Seile war er mit diesem Platz verbunden.
Das ist 3000 Jahre her, aber herumgucken tun wir immer noch. Die Heimat ist ein unverzichtbarer Boden für unsere Lebenswurzeln, denn, und so hat Nietzsche gesagt, weh dem, der keine Heimat hat. Die Blutsverwandtschaft stellt eine Gemeinschaft her, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Das eigene Heim ist die Stätte des Glücks. Könnte man nicht beides verbinden? Gott und die Heimat? Gott und die Verwandtschaft? Gott und das Haus? Aber Abraham überlegt nicht. Abraham schaut nicht nach links oder rechts. Abraham blickt nach vorne und geht. Er vertraut diesem Gott, der nicht in die Wüste, sondern in ein Land schickt, das er zeigen wird. Dort liegt eine schönere Heimat als in Chaldäa. Dort entsteht eine engere Gemeinschaft als am Golf. Dort wird er noch ein ganz anderes Dach über den Kopf bekommen als in Ur. Wer Gott folgt, macht keinen schlechten Tausch.
Sicher ist das nicht von jedem verlangt, alles zu verlassen. Aber verlangt ist auf jeden Fall, dass wir alles hinter Gott rangieren lassen, dass wir allem den richtigen Stellenwert einräumen, dass wir unser Lehen allein auf ihn hin ausrichten. Wenn uns unser Vaterland wichtiger wird als sein Heimatland, dann hören wir: Geh! Wenn uns unsere Verwandtschaft bedeutender wird als seine Gemeinschaft, dann hören wir: Geh! Wenn uns unser Kinderhaus lieber wird als sein Vaterhaus, dann hören wir: Geh! Denn nichts, nichts, "nichts soll mir werden lieber auf Erden, als du der liebste Jesus mein". Schon Abraham machte diese Erfahrung. Gott lässt sich nicht lumpen. Das Geschenkte übersteigt das Aufgegebene. Bei ihm ist man auf jeden Fall fein heraus. Wer nach links oder rechts schaut, verguckt sich. Nach vorne müssen wir blicken. Nach vorne müssen wir gehen. Nach vorne ist der Weg offen.
3. Hier lernte Abraham nicht mehr nach unten zu schauen
Bevor wir die uralte Stadt Ur wieder verlassen, zeigt uns der Fremdenführer noch einen schattigen Hain mit schönen Ölbäumen. Eine leichte Brise vom Meer her macht dieses geruhsame Plätzchen einladend und angenehm. Vielleicht saß hier zuweilen Abraham und träumte von vergangenen Zeiten. Vor 70 Jahren kletterte ich noch auf diese Bäume und pflückte Oliven. Dann kamen lange Jahre der Arbeit, der Mühe und der Last. Jetzt ist der Lebensabend eingekehrt mit den immer länger werdenden Schatten des Alters. Und mitten in diese Gedanken hinein sprach Gott: Geh, du sollst ein Segen sein! Abraham schaute hinunter auf seine Füße, die gar nicht mehr ausholen und nur noch kleine Schritte machen konnten: Herr, ich bin doch 75! Und Gott sprach: Geh, du sollst ein Segen sein! Abraham schaute hinunter und sah den Stock auf der Erde, den er zum Gehen benötigte: Herr, ich bin doch Rentner! Und Gott sprach: Geh, du sollst ein Segen sein!
Dieses Hinunterschauen kennen wir auch noch. An unseren Füßen sehen wir viel Schwachheit. An unseren Händen entdecken wir viel Zittern. An unserer ganzen Person ist so viel Unvermögen: "Herr, ich bin zu alt! Ich bin zu verbraucht! Ich bin zu ungeschickt! Herr, ich bin zu nichts mehr nütze". Und Gott spricht: Geh, du sollst ein Segen sein! Du kannst ein Segen sein. Du darfst ein Segen sein, weil dich Jesus gesegnet hat mit himmlischen Gütern. Gott kennt keine Pensionsgrenze. Auch Spätberufene mit 80 sind tauglich für seinen Dienst. Gott kennt keine Volljährigkeitsgrenze. Auch Frühberufene mit 13 will er brauchen. Gott kennt überhaupt kein Lebensalter, das nicht das beste Alter für ihn wäre. Ob wir jung oder alt, blutjung oder steinalt, kindlich oder hochbetagt sind, für seine Segensverheißung ist es nie zu spät. Und wenn einem die Lehrer nur einen schwachen Intelligenzquotient bescheinigen: Du sollst ein Segen sein. Und wenn einem der Arbeitgeber die Entlassungspapiere aushändigt: Du sollst ein Segen sein! Und wenn einem die Ärzte den Altersbrand diagnostizieren: Du sollst ein Segen sein! Keiner ist unnütz. Niemand ist abgeschoben. Jeder ist gerufen und gebraucht!
Ob wir es nicht doch neu lernen sollten beim alten Abraham, nicht mehr nach oben, nicht mehr nach links oder rechts, nicht mehr nach unten, nein, jetzt einfach nach vorne zu schauen, denn: "Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil, wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil."
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]