Der alte Mann und das Kind

Konrad Eißler

“Der alte Mann und das Meer” ist eine Geschichte der Enttäuschung. Gott sei Dank gibt es aber noch eine ganz andere Geschichte: “Der alte Mann und das Kind.” Simeon wartete, und er ging, und er sah den Trost Israels. - Predigt zum Altjahrsabend aus der Stiftskirche Stuttgart


Ernest Hemingway hat sie geschrieben, jene viel gelesene, oft zitierte und sogar verfilmte Geschichte: “Der alte Mann und das Meer.” Ein armer Fischer wartet auf das große Glück seines Lebens. Jeden Tag knotet er seinen Kahn los, treibt ihn mit harten Ruder­schlägen hinaus aufs offene Meer und schleudert seinen Angelhaken in die Fluten. Aber nach langen Stunden kehrt er müde, nur mit einem Eimer kleiner Fische zurück, die ihm kaum das Auskommen sichern. Der Mann setzt seine Hoffnung auf den nächsten Tag. Wieder rudert er hinaus und wieder dreht er unbefriedigt ab. Dieses zer­mürbende Pendeln zwischen Erwartung und Enttäuschung geht jahre­lang, bis er eines Tages den großen Fisch fängt. Ein Prachtstier geht ihm an die Leine. Damit hat er für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Ein Fang wie noch nie. Aber auf dem Weg zurück kommen die Haie. Er kämpft und schlägt und sticht und rudert, die Raub­tiere jedoch fressen den Fisch zu weißen Knochen. Als er schließ­lich sein Boot in den Hafen bugsiert, hat er nur noch ein Skelett an der Leine: “Leben heißt Hoffnung begraben.”

Damit ist ein Ge­fühl umschrieben, das uns am Ende eines Jahres keineswegs fremd ist. Wer wartet nicht auf das große Glück seines Lebens? Jedes Jahr knoten wir unseren Lebenskahn los, treiben ihn mit den besten Vorsätzen hinaus und fangen nach Geld und Ehre und Liebe. Aber nach langen Monaten kehren wir am Jahresende müde, nur mit dem Eingeständnis zurück: “Dieses Jahr hat es nicht gebracht.” So setzen wir unsere Hoffnung auf das nächste Jahr. Wieder fahren wir hinaus und wieder kehren wir unbefriedigt zurück. Unser Leben ist ein zermürbendes Pendeln zwischen Erwartung und Enttäuschung, auch dann, wenn wir meinen, der große Wurf sei uns gelungen.

Einer angelt sich ein Mädchen. Mit ihr meint er für den Rest seines Lebens ausgesorgt zu haben. Ein Fang wie noch nie. Aber kaum ist er im Ehehafen gelandet, da sieht er nur noch die Reste seines Glücks. Ehe als Skelett der Hoffnung, Beruf als Skelett der Hoff­nung, Vermögen als Skelett der Hoffnung, Eigenheim als Skelett der Hoffnung. Das ist es, was uns an Silvester bedrängt. Fontane hatte recht: “Leben heißt Hoffnung begraben.” Dante hatte recht: “Lasst alle Hoffnung fahren.” Der Prediger hatte recht: “Meine Augen sehen nur Haschen nach Wind.” Euripides hatte recht: “Dunkel sind alle Wege.”

“Der alte Mann und das Meer”, das ist unsere Geschichte.

Gott sei Dank gibt es aber noch eine ganz andere Geschichte. Der Evangelist Lukas hat sie geschrieben, jene vorhin gelesene, manch­mal zitierte und in der Kunst oft dargestellte Geschichte: “Der alte Mann und das Kind.” Ein armer Mann wartet auf das große Glück des Himmels. Jeden Tag geht er in den Tempel. Der große Pendel­schlag seines Lebens geht von der Erwartung zur Erfüllung. Eines Tages hat er ein Kind auf den Armen. Seine Augen werden ganz groß und strahlend. Ein Lobgesang erfüllt die Tempelhalle. Simeon begräbt seine Hoffnung nicht, sondern geht in großer Hoffnung dem Grab entgegen. Er lässt nicht alle Hoffnung fahren, sondern be­kennt: “Nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren.” Er sieht mit seinen Augen nicht nur Haschen nach Wind, sondern noch etwas ganz anderes: “Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.” Simeon tappt nicht mehr im Dunkeln, sondern erkennt “das Licht zu erleuchten die Heiden”. Hoffnung statt Hoffnungslosigkeit!

Erfüllung statt Ent­täuschung? Licht statt Dunkel? Wie kommt dieser Nachbar des Todes zu diesem Glauben?

Glauben ist immer Wunder und lässt sich nie be­schreiben, aber drei Verben umschreiben das Geheimnis: warten, gehen, sehen.

1. Simeon wartete auf den Trost Israels

Eigentlich war das nichts Besonderes. Viele warteten auf den Messias. Ganz Israel wartete auf ihn, denn er sollte ja die dunkle Welt wieder hell und schön machen und das Reich Gottes aufrichten. Aber das Warten wurde lang, sehr lang sogar. Aus Jahren wurde Jahrzehnte und aus Jahrzehnten wurden Jahrhunderte und aus Jahrhunderten wurde das erste Jahrtausend. Diese elend lange Wartezeit hatte es bewirkt, dass das Warten eigentlich gar kein wirkliches Warten mehr war, sondern nur so eine heilige, einschläfernde Tradition. Die Israeliten glichen den Soldaten, die nach Stunden Wache schieben müde wurden, sich ins Schildwachhaus zurückzogen und dann stehend freihändig einnickten. Sie waren richtige Wachtposten, sie hatten die richtige Uniform, sie standen am richtigen Platz, aber sie schliefen.

Isrealiten - und viele Christen auch -, sind schlafende Wachtposten. Das Warten ist noch eine heilige Tradition, so wie Christvesper am Heiligen Abend und Jahresschlussgottesdienst am Altjahrsabend zur Tradition gehören. Man ist auf dem Posten, man hat das richtige Gesangbuch, man sitzt in der Bankreihe, aber man schläft. Die Erwartung etwas ganz Neuen oder Großen passiert nur noch im Traum.

Simeon aber wartete auf den Trost Israels, auf den Tröster seines Volkes, auf den Tröstenden inmitten einer trostlosen Welt. Er musste dies nicht alleine tun. Die 84-jährige Witwe Hanna wartete mit ihm. Und Zacharias und Elisabeth, Maria und Josef, einige Hirten auf dem Feld, der Täufer Johannes und auch jener Josef von Arimathia, von dem es ausdrücklich heißt: “Einer, der auf das Reich Gottes wartete”, sie alle gehörten zur Wachmannschaft des Simeon. Er merkte, wie seine Kräfte abnahmen und seine Hände zitterten. Fragen stiegen in ihm auf: “Lässt Gott mich im Stich? Hält er seine Zusage? Hat Gott mich vielleicht vergessen?” Aber Simeon wartete trotz der Fragen. Er merkte, wie jeder Schritt ihn seinem Grab näher brachte. Zweifel regten sich in ihm: “Hat mich einer an der Nase herumgeführt? Ist Gott ein Hirngespinst? Ist Weihnachten nur eine Fata Morgana?” Aber Simeon wartete trotz der Zweifel.

Wie Rakower wartete. Das war ein Jude im Warschauer Ghetto, als die Deutschen es mit Flammenwerfern niederbrannten samt seinen vielen Menschen. Seine letzten Aufzeichnungen blieben erhalten. “Roter Schein fällt durchs Fenster und das Stück Himmel, das ich sehe, ist wie eine Blutkaskade. Gott von Israel, du hast alles getan, dass ich nicht an dich glaube. Solltest du meinen, mich von dem Wege abzubringen, so sage ich dir, mein Gott und Gott meiner Väter: Es wird dir nicht gelingen. Du kannst mich zu Tode peinigen, ich werde immer an dich glauben. Dir selbst zum Trotz! Gelobt sei in alle Ewigkeit der Gott der Wahrheit und des Gesetzes, der bald wieder sein Gesicht der Welt zeigen wird.”

Gegen Fragen und Zweifel, gegen Schrecken und Tod zu warten, das ist simeonitischer Glaube.

2. Simeon ging in den Tempel Jerusalems

Eigentlich war das auch nichts Besonderes. Viele gingen damals zum Tempel, so wie der Psalmist gesungen hat: “Ich wollte gern hingehen mit der Schar und mit ihnen gehen zum Haus Gottes mit Frohlocken und Dank in der Schar derer, die da feiern.” Aber Simeon hat sich dieses Gehen ganz besonders viel kosten lassen. Ein Ausleger bemerkt, dass er gar nicht von Jerusalem stammte. In seinem Heimatdorf habe er über Nacht den Hof verpachtet und sei in die Stadt ge­zogen. Vielleicht hat ihn eine Abordnung der Nachbarschaft von diesem Schritt abhalten wollen: “Guter Simeon, das ist ja alles recht und gut, aber man kann doch seine Arbeit nicht einfach liegen lassen, um in den Tempel zu gehen. Wir sind doch auch gläubig und geben unser Opfer. Aber was zu weit geht, geht zu weit. Man darf nichts übertreiben, auch in der Frömmigkeit nicht. Und woher weißt du eigentlich, dass es wirklich Gott war, der dir dieses Versprechen gegeben hat? Man kann doch nicht so auf blauen Dunst hin alles im Stich lassen!” “Gottes Wort ist kein blauer Dunst”, hatte Simeon geantwortet: “Was Gott verspricht, das bricht er nicht.” So waren sie kopfschüttelnd abgezogen und er nach Jerusalem gegangen. Jeden Tag nahm er das mühsame Treppen­steigen auf sich, um im Tempel dabei zu sein, wenn gelobt und ge­dankt wird. Kein Weg war ihm zu weit und keine Mühe zu groß. Simeon wusste: Nur in der Gemeinschaft der Heiligen bleibe ich wach für die Zukunft des Herrn.

Was lassen wir es uns kosten? Welchen Preis bezahlen wir? Unsere Gottesdienste im Lande bluten immer mehr aus. Regelmäßige Gottesdienstbesucher werden als über triebene Kirchenspringer verdächtigt. Fromme sein ohne Kirche ist chic. Man hat viele Gründe gegen den Gottesdienst: Der Pfarrer ist zu konservativ oder zu liberal, die Predigt ist zu lang oder zu kurz, der Gottesdienst ist zu spät oder zu früh, die Kirchgänger sind zu engherzig oder zu weitherzig. Es gibt 1000 Gründe dagegen, aber den einen Grund dafür gibt Jesus: “Wo zwei oder drei zusammen sind und nicht einer alleine Trübsal bläst, da bin ich mitten unter ihnen.”

Vor einiger Zeit stand der Satz Bonhoeffers in unserem Gemeindebrief, den ich noch einmal unterstreichen will: “Wer bis zur Stunde ein gemeinsames christliches Leben mit andern Christen führen darf, der preise Gott aus tiefstem Herzen, der danke Gott auf den Knien und erkenne: Es ist Gnade, nichts als Gnade, dass wir heute noch in der Gemeinschaft leben dürfen.”

Simeon hielt sich an diesen Grund und ging in den Tempel. Dort ereignete sich das Dritte:

3. Simeon sah den Heiland der Welt

Zuerst war das gar nichts Besonderes. Da kam ein junges Ehepaar zum Tempeltor herein, ein Kleinkind auf dem Arm. Dasselbe Bild hatte Simeon schon tausend­mal gesehen, denn jedes Ehepaar brachte seinen Erstgeborenen in den Tempel. Nach dem mosaischen Gesetz war nämlich alle männliche Erstgeburt in besonderer Weise Gottes Eigentum. Jeder erstge­borene Isrealit musste im Grunde ein Gottesdiener, ein Priester werden. Darum konnte und musste man ihn durch ein Opfer von Gott herauslösen. Diese sogenannte Darstellung wurde hier für Jesus geleistet, also eine kirchliche Routineangelegenheit, ein normaler Kasualfall.

Aber diesmal war alles ganz anders. Diesmal brannte das Herz Simeons. Diesmal kam die Gewissheit mit Gewalt über ihn: Dieses Wickelkind ist der Heiland der Welt. Wieder mögen in ihm Zweifel wach geworden sein. Wieder kämpfte er gegen sich selbst. Wieder rang Vernunft gegen den Geist: Ein Kind, ein Kind wie alle andern auch. Aber dann gab er nach. Nein, Gottes Wort ist kein blauer Dunst. Und er humpelte hin, nahm der er­staunten Mutter das Kind aus den Armen und betete: “Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du be­reitest hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.”

Liebe Freunde, wer in diesem Kind seinen Heiland entdeckt, der wird dieses Gebet am Abend eines jeden Tages nachsprechen: “Herr, nun lässt du deinen Diener nach all dem Trubel und unerledigten Dingen im Frieden ruhen, denn meine Augen haben den gesehen, der Verworrenes wieder entflechten und Verknotetes wieder lösen und Verletztes wieder heilen kann.” Wer in diesem Kind das Licht der Welt ent­deckt, der wird dies Gebet am Abend des Jahres nachsprechen: “Herr nun lässt du deinen Diener nach so viel Unfrieden und Dunklem im Frieden ins neue Jahr gehen, denn meine Augen haben den geseh­en, der alle Dunkelheit überstrahlt.” Wer in diesem Kind den Herrn über Leben und Tod entdeckt, der wird dies Gebet am Abend seines Lebens nachsprechen: “Herr, nun lässt du deinen Diener nach so viel Schmerz und Krankheit im Frieden scheiden, denn meine Augen haben den gesehen, der stärker ist als der Tod.”

Simeon gab der Mutter ihr Kind zurück. Dann ging er davon.

Nein, Gottes Wort ist kein blauer Dunst. Es geht nicht von der Erwartung zur Enttäuschung, sondern von der Erwartung zur Erfüllung.

Amen.