Zeichen
Sie verehrte ihn. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn überhaupt nicht vorstellen. Ich rede, liebe Gemeinde, von Therese und Dag, jenen beiden Hauptfiguren in Gulbrannsens altem, aber keineswegs veraltetem Roman "Und ewig singen die Wälder". Nach ihrer Heirat war sie auf Björntal aufgezogen, einem ehrwürdigen und begüterten Familiensitz in der Einsamkeit nordischer Berge. Anfangs bereitete ihr die Umstellung vom städtischen Handelshaus des Vaters zum ländlichen Erbhof des Ehegatten einige Mühen. Aber bald wuchs sie in die Rolle der Herrin hinein, die überall auftauchte und an jeder Ecke nach dem Rechten sah. Therese wurde zum Herz des ganzen Hauses. Und dort mitten drin "bei all ihrer Geschäftigkeit und Strenge trug sie ständig an der einen großen Schwäche, ihrer Liebe zu Dag." Tagelang war Dag überhaupt nicht zu sehen und jagte in den Wäldern. Nur blieb er oft merkwürdig stumm. Kein überflüssiges Wort kam über seine verschlossenen Lippen. Deshalb fragte sie sich, in quälenden Nachtstunden am offenen Kaminfeuer: Kennt er mich noch? Sieht er mich noch? Ist seine Liebe zu mir nicht längst erloschen? Mit solch schwerer Gedankenfracht durchlitt sie die nächsten Wochen. Dann aber entdeckte sie, wie er das Holz für ihr Feuer schichtete, wie er einen Raum nach ihrem Geschmack einrichtete, wie er den Garten mit ihren Lieblingsblumen bepflanzte, wie er den beiden Buben durchs Haar strich. Therese ging eine neue Welt auf: Liebe ist nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar. Liebe ist nicht nur fühlbar, sondern auch greifbar.
Dags Liebe war an seinen Zeichen abzulesen - und das ist bei Gottes Liebe nicht anders. Viele verehren ihn. Viele fühlen sich zu ihm hingezogen. Viele können sich das Leben ohne ihn überhaupt nicht vorstellen, ja, viele tragen ständig an der einen großen Schwäche, ihrer Liebe zu Gott. Aber sie tragen oft auch an der einen großen Last, ihrem Zweifel an Gott. Oft bleibt er merkwürdig stumm. Kein Sterbenswörtlein kommt von der andern Seite. Monatelang ist man von ihm wie abgeschnitten. Deshalb fragen sie sich, in quälenden Nachtstunde: Kennt er mich? Sieht er mich noch? Ist seine Liebe zu mir nicht längst erloschen? Mit solch schwerer Gedankenlast leben sie am Rande der Depression.
Und wenn Sie auch dort angesiedelt sind, dann müssen Sie auf diese Entdeckung zugehen. Und wenn Sie auch dort zu leiden haben, dann muss Ihnen diese neue Welt aufgehen. Und wenn Sie auch dort leben, dann darf Ihnen diese Wahrheit nicht entgehen: Gottes Liebe ist an seinen Zeichen abzulesen, genau das aber ist aus diesem Bibeltext herauszulesen.
Vieles andere wäre da auch noch zu entdecken, aber weil uns nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, beschränken wir uns auf diesen begrenzten Blickwinkel. Dabei fallen drei Zeichen auf, die Gott nach der Austreibung aus dem Paradies setzt: ein Lebenszeichen, ein Warnzeichen und ein Rettungszeichen.
1. Gott setzt ein Lebenszeichen
Im Hause Adam kehrt das Glück ein, Eva kommt nieder. Ein Sohn wird geboren, ein gesunder, kräftiger Junge. Der Vater kennt sich nicht wieder. Die Mutter ist im siebten Himmel. Der Elternstolz ist auf Hochglanz. Mit dem Herrn haben wir ein Kind bekommen, sagen sie. Nicht: mit dem Mann, mit der Frau, mit der Potenz, mit der Gesundheit, nein: mit dem Herrn. Sie wissen anscheinend noch davon: "Mit dem Herrn fang alles an. Kindlich musst du ihm vertrauen. Darfst auf eigene Kraft nicht bauen. Demut schützt vor falschem Wahn. Mit dem Herrn fang alles an." Den Stammhalter heißen sie Kain, zu deutsch: Bogenpfeil, Lanzenspitze. Also schnell und stark und kräftig soll er sein. Der Sprössling war einfach Spitze. Und übers Jahr liegt Eva wieder im Wochenbett. Wieder wird ein Kind geboren. Wieder ist es ein Bub. Aber diesmal ist es merkwürdig still. Kein Ton dringt aus der Hütte. Betretenes Schweigen über dem Säugling, einem schwachen, kränklichen, hinfälligen Kind. Wird es lebensfähig sein? Wird es aufwachsen können? Wird es jemals zum Mann werden? Abel sagen sie, zu deutsch: Hauch, Vergänglichkeit. Bei Adams lebt Kain, das Musterkind, und Abel, das Sorgenkind.
Dabei ist es geblieben. Gott untersteht keiner Diktatur der Gleichheit. Der Schöpfer alles Lebens ist frei, dem Bruder mehr zu geben als dem andern. Nicht Gleichheit, sondern Verschiedenheit ist die gute Voraussetzung aller Bruderschaft. Deshalb lebt der Hochbegabte und der Minderbemittelte. Deshalb lebt der Rennsportler und der Rollstuhlfahrer. Deshalb lebt der Kerngesunde und der Dauerkranke. Beide jedoch weisen über sich hinaus. Kain und Abel zeigen an, dass Gott kein Schlusszeichen setzt. Musterkinder und Sorgenkinder sind Lebenszeichen des Herrn.
Vor 30 Jahren sprach man von der vaterlosen Gesellschaft, weil zu viele Männer auf dem Feld geblieben waren. Vor 15 Jahren brachte Alexander Mitscherlich das Wort von der mutterlosen Gesellschaft auf, weil zu viele Frauen Verantwortung außerhalb der Familie übernahmen. Vor 10 Jahren tauchte der Begriff von der geschwisterlosen Gesellschaft auf, weil die Einkindfamilie zum Wunschtraum vieler Eheleute wurde. Und heute geht das schreckliche Reden von der kinderlosen Gesellschaft um. Vaterlos, mutterlos, geschwisterlos und jetzt sogar kinderlos. Was ist da eigentlich los?
Manchmal frage ich mich, ob denn der Teufel los sei, jener Versucher, der auch aus dem Paradies flog und uns weismachen will: Kinder sind die Gefahr für die Erde. Mit 6,5 Milliarden Menschen im Jahr 2000 platzt sie aus allen Nähten. Kinder sind eine Gefahr für das Volk. Die Bildungseinrichtungen haben nur eine begrenzte Kapazität. Kinder sind eine Gefahr für die Familie. Sie muss dann auf viele Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten verzichten. Kinder sind eine Gefahr für die Frauen. Sie stehen ihrer Selbstverwirklichung im Wege.
Und die Bibel sagt: Kinder sind mit dem Herrn gewonnen. Kinder sind eine Gabe Gottes. Kinder sind Lebenszeichen des Schöpfers. Wer nicht nur in die Zeitung oder den Fernseher schaut, sondern wieder einmal in das offene Gesicht eines Kindes, der entdeckt diese Lebensfreude, die ansteckend wirkt, diesen Lebensmut, der ungebrochen vorwärtsgeht, eben dieses Lebenszeichen, das Gottes große Ja markiert.
2. Gott setzt ein Warnzeichen
Im Hause Adams kehrt das Unglück ein. Kain, der Landwirt, schaut nicht mehr hinauf. Er senkt den Blick. Seine Augen gehen erdwärts. Dann sieht er seinen Acker, diesen elenden Steinriegel, diesen dornenreichen Arbeitsplatz. Bei Wind und Wetter muss ich hinaus. Die Hacke springt von der harten Krume zurück. Der Same wird von den Krähen herausgepickt. Das Unkraut wuchert aus allen Löchern. Und die Sonne brennt gnadenlos vom Himmel herab. Warum bin ich nur Bauer geworden? Hätte ich doch einen andern Job gewählt! Wäre ich doch beispielsweise Hirte, so wie mein Bruder! Nun lenkt er den Blick. Seine Augen gehen seitwärts. Dann sieht er dessen Weide, diese saftigen Wiesen, dieses wunderschöne Hügelland. Der kann bei Nässe und Kälte zuhause bleiben. Die Schafe bringen die Wolle. Die Lämmer liefern das Fleisch. Der Hütehund sorgt für die notwendige Ordnung. Und bei der Hitze schläft er am Waldrand. Abel hat es schöner. Abel hat es leichter. Abel hat es besser. Die Lage des andern sticht ihn. Der Vorteil des andern wurmt ihn. Kain wird vom blassen Neid geplagt.
So wie wir. Unsere Augen gehen hinunter und bleiben am eigenen Schreibtisch hängen. Jahraus, jahrein muss ich hier sitzen. Der Aktenberg wird nicht kleiner. Das Telefon klingelt pausenlos. Der Chef ist immer unzufrieden. Und das Gehalt ist ein einziger Hungerlohn. Warum bin ich nur Angestellter? Hätte ich doch einen andern Beruf! Wäre ich doch beispielsweise selbstständig, freiberuflich, ungebunden! Dann schauen wir hinüber auf dessen Büro, dieses gute Geschäft, diese einzige Goldgrube. Der muss nicht an die Stechuhr. Der braucht keinen Laufzettel ausfüllen. Der kann sich Zeit einteilen. Immer hat es der andere schöner. Immer hat es der andere leichter. Immer hat es Abel besser. "Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück", sagt schon das Sprichwort. Und das sticht, und das wurmt, und das macht den Neid. Der Neid aber ist die Wurzel allen Streites. An dieser Stelle ist der Herd allen Übels. Dort ist die Konfliktgefahr Nr. 1.
Deshalb setzt Gott sein Warnzeichen: Pass auf! Schließ ab! Die Sünde lauert vor der Tür! Er hat noch niemand ungewarnt ins eigene Unglück rennen lassen. Durch seine Gebote sind wir gewarnt, aber auch geleitet. Gottes Warnzeichen sind nie nur Stoppschilder, sondern immer auch Wegschilder, die die Richtung weisen. Schau nicht abwärts auf das Feld, das du zu beackern hast! Schau nicht seitwärts auf den andern, der es angeblich so viel besser hat! Schau aufwärts auf den Herrn, der die Platzverteilung des Lebens vornimmt! Er weiß, warum Kain der Bauer und Abel der Hirte ist. Er weiß, warum Kain die Früchte zieht und Abel die Herde hütet. Er weiß auch, warum Kain vor Kraft strotzt und Abel an Schwäche leidet. Er weiß das alles, und dieses Wissen soll mir genügen. Ich kann ein neues Ja finden zur Platzanweisung meines Lebens, die mich nicht überfordert und die mir nicht mehr zumutet, als ich tragen kann.
3. Gott setzt ein Rettungszeichen
Im Hause Adams kehrt nach dem Glück und dem Unglück sogar der Tod ein. Ausgerechnet am Sonntag passiert das Schreckliche. Die beiden Söhne strecken nicht alle Viere von sich. Sie gehen zum Opfer. Junge Männer beim Gottesdienst, ein großartiges Bild. Kain bringt Früchte und Abel schleppt ein Tier an. Feuer flackert auf - und Neid, der elende Neid, der tödliche Neid. Hinter der Rauchfahne verschwindet sogar das Warnzeichen Gottes. Kain greift zu einem Stein und schlägt dem Bruder den Schädel ein. Damit wird er zum ersten Weltbrandstifter. Aus einer Faust entsteht die Keule, dann das Schwert, dann das Gewehr, dann die Trägerrakete. Denken wir daran, wenn wir heute Weltfriedensstifter werden wollen. Kains Problem ist nicht seine Waffe, sondern sein Neid. Er wird nicht dadurch friedlich, dass er den Stein wegwirft, er wird ja mit seiner Faust weiterdreschen. Erst wenn er hinaufschaut, kann er seine Aggressivität lassen. Friedensbewegung muss immer zuerst Augen- und Herzensbewegung zu Gott sein, sonst bewegt sie nichts. Dort nämlich gibt es für Kain die größte Entdeckung und Überraschung. Der, der das Warnzeichen Gottes sträflich überfuhr und selbst das Todeszeichen gesetzt hat, erhält das Rettungszeichen. "Der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände." Gnade geschieht vor Recht. Barmherzigkeit waltet vor Gerechtigkeit. Der Mörder bekommt eine neue Chance.
Und wer sich über dieses geheimnisvolle Rettungszeichen wundert, wer über dieses rätselhafte Malzeichen rätselt, wer über dieses fremdartige Handzeichen nachsinnt, der schaue auch hinauf. Oben auf einem Hügel ist es für alle Augen sichtbar geworden. Es ist ein Querbalken, dazu ein Längsbalken, und am Kreuz, das so entsteht, hängt einer wie ein Mörder, aber es ist kein Mörder. Jesus Christus am Kreuz von Golgatha ist das Rettungszeichen schlechthin. Unter ihm können Kains weiterleben. Wegen ihm müssen Übertreter nicht sterben. Durch ihn gibt es die neue Chance. Über dem Friedhof Erde, den wir mit unseren Kreuzen ständig vergrößern, ragt das Kreuz Jesu als unübersehbares Zeichen der Rettung Gottes. Es ist nicht wahr, dass Neid und Hass und Tod das letzte Wort behalten. "Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht."
Liebe Freunde, wegen diesen Liebes-, Warn- und Rettungszeichen sind wir auch außerhalb des Paradieses nicht orientierungs- und nicht heimatlos. Amen.
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]