Einführung in die Betrachtung der Verleugnung Petrus’
Wollen wir uns heute Morgen Gedanken über die Verleugnung des Petrus machen? Nicht, dass ich meine, jemand unter uns würde das zum ersten Mal hören. Aber es ist in der Schrift geschrieben, damit wir uns immer wieder mit den Personen der Passionsgeschichte beschäftigen. Auch damit wir uns in ihnen wiederfinden, ihre Stärken sehen, aber auch ihre Schwächen. So empfangen wir Trost und auch Ermahnung aus der Schrift.
Wir wollen Matthäus Kapitel 26 aufschlagen. In unserer ausgelegten Lutherbibel ist das im Neuen Testament auf Seite 40, am Ende des Kapitels. Dort lesen wir die Verse 69 bis 75.
Dort schreibt Matthäus: Petrus aber saß draußen im Hof. Da trat eine Magd zu ihm und sprach: „Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa.“ Er verleugnete aber vor ihnen allen und sprach: „Ich weiß nicht, was du sagst.“ Als er aber hinausging in die Torhalle, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth.“ Und er leugnete abermals und schwor dazu: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Nach einer kleinen Weile traten hinzu die Dazustehenden und sprachen zu Petrus: „Wahrhaftig, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich.“ Da fing er an, sich zu verfluchen und zu schwören: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Und alsbald krähte der Hahn.
Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und er ging hinaus und weinte bitterlich.
Ihr lieben Schwestern und Brüder, liebe Freunde, dass diese Geschichte überhaupt in der Bibel steht, ist ein Beweis für die Wahrhaftigkeit und Echtheit der Heiligen Schrift. In den germanischen Heldensagen finden wir nicht die tiefen Stunden von Siegfried, Hagen und wie sie alle heißen. Dort werden sie nur idealisiert.
In den heiligen Legenden der römisch-katholischen Kirche finden wir keine schwachen Stunden der Heiligen. Dort wird nicht von ihrem Versagen geschrieben, sondern sie werden idealisiert.
Aber in der Bibel finden wir die Menschen, wie sie wirklich waren: mit ihren Stärken, ihren Tugenden, ihren Leistungen und ihrer Größe – aber auch mit ihrer Schwäche, mit ihrem Versagen, mit den dunklen Stunden, mit ihren Gemeinheiten und Niedertrachten, mit allen Abgründen in ihrem Herzen. Das ergibt ein ganzes Bild vom Menschen.
So ist die Schrift. Und das ist auch der Grund, warum wir von den Großen im Reich Gottes – von Noah, Abraham, David, Elija, Johannes dem Täufer, Paulus, Barnabas und auch von Petrus – nicht nur die Licht-, sondern auch die Schattenseiten in der Schrift finden.
Ich habe einmal den Satz gehört von jemandem: „Uns trösten die Schwächen der Heiligen oft mehr als ihre Stärken.“ Wenn wir in der Bibel nur diese Stärken, Tugenden und das Großartige finden würden, könnten wir uns nicht mit den Menschen der Bibel identifizieren. Sie wären weit weg von uns, sie würden auf einem hohen Sockel stehen, und wir Armen, Würmlein, könnten nur zu ihnen hochschauen.
Aber so sehen wir: Der Petrus – das bin doch ich. Der Elija unter dem Ginsterstrauch – das bin doch ich. Der David, der Ehebruch begeht und später noch mehr – das bin doch ich, das steckt doch in mir.
So finden wir uns in ihnen wieder. Und darum ist das für mich schon der erste Trost, bevor ich überhaupt die Geschichte beginne zu erläutern: dass sie überhaupt in der Bibel steht. Schon das ist ein gewaltiger Trost für uns alle, die wir jetzt hier sind.
Die Vorgeschichte der Verleugnung: Stolz, Selbstsicherheit und Distanz
Ich möchte heute Morgen über drei Hauptgedanken sprechen. Der erste Hauptgedanke ist die Vorgeschichte dieser Verleugnung. Eine solche massive Verleugnung kommt nicht aus heiterem Himmel. Sie kommt nicht plötzlich angeflogen, sondern hat eine Vorgeschichte. Das finden wir hier im Zusammenhang der Bibel ganz klar zum Ausdruck gebracht. Die Verleugnung des Petrus hatte eine Vorgeschichte.
Zum einen können wir die Faktoren aufzählen, die zur Verleugnung führten: der Hochmut des Petrus und seine Selbstsicherheit. Schon in den Sprüchen finden wir den Satz: Hochmut kommt vor dem Fall. Petrus ist gefallen, und darum war Hochmut vor seinem Fall. Das ist eindeutig. Petrus war stolz und selbstsicher, und deshalb stolperte er.
Wollen wir einmal in das Lukas-Evangelium gehen, um das etwas näher zu betrachten und zu belegen? Lukas Kapitel 22, das ist Seite 105 im Neuen Testament, Vers 24. Dort sehen wir, was unmittelbar vorangegangen war, vor der Verleugnung. Lukas 22, Vers 24: „Es erhob sich auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten sollte.“ Noch im Saal des Brotbrechens hatten sie diese Gedanken in ihrem Herzen: Wer ist wohl der Größte von den Jüngern?
Dann spricht Jesus daraufhin Simon direkt an, Vers 31, ein paar Verse später: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen.“ Jesus sagt: Diese Gedanken, die jetzt in euren Herzen sind, dass ihr groß sein wollt, dass ihr der Höchste sein wollt, die sind sehr gefährlich. Ihr seid hochmütig.
Und er spricht Petrus an: Simon, Simon – mit Doppelnamen. Das kommt nur siebenmal in der Bibel vor, dass Menschen mit Doppelnamen angesprochen werden: Mose Mose, Samuel Samuel und hier Simon Simon. Das ist eine außergewöhnlich wichtige Stunde in seinem Leben. „Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen.“ Ihr seid jetzt in großer Gefahr, der Teufel will euch zu Fall bringen, ihr seid hochmütig.
Dann sagt Jesus weiter: „Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“ Wenn wir darüber nachdenken, warum Petrus nicht so endete wie Judas, dann ist hier wohl der Hauptgrund: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, dann stärke deine Brüder.“
Petrus antwortet: „Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.“ Selbstvermessenheit, Hochmut. Jesus aber spricht zu Petrus: „Ich sage dir, der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal verleugnet hast, dass du mich kennst.“
Hier sehen wir die Vorgeschichte eindeutig: Hochmut, Stolz, Vermessenheit im Herzen des Petrus. Er wollte der Erste sein im Jüngerkreis, der Frömmste, der Treueste. Kennt ihr das nicht auch in euren Herzen, wie manchmal der Gedanke kommt: Ich will der Treueste sein, ich will der Tapferste sein im Bekennen vor den Menschen, ich will der Fremdeste sein? Hier war noch etwas Ungebrochenes in Petrus, das ungebrochene, stolze, selbstsichere Ich. Und das musste der Herzer brechen, das musste er demütigen.
Wisst ihr, Hochmut ist etwas sehr Gefährliches. Hochmut macht blind für die Stärken der anderen, aber auch für meine eigenen Schwächen. Ich sehe meine Schwächen nicht mehr, ich bin in einem Wolkenkuckucksheim, ich bin verblendet, ich halte mich für stark und treu. Dann werde ich auch blind für das mahnende Wort Gottes. Die Bibel hat auch eine ermahnende Linie, wo wir vor Selbstsicherheit und Stolz gemahnt werden. Wir sehen es hier bei Petrus. Also war der Hauptfaktor für sein Verleugnen, seine Vorgeschichte, sein Stolz und Hochmut.
Aber dann kam dazu das mangelnde Gebet, die mangelnde Gebetsverbindung zu seinem Herrn. Wenn wir wieder zurückgehen in Matthäus 26, in unserem Ausgangsabschnitt – da könnt ihr immer euren Finger drinlassen oder ein Lesezeichen setzen, denn da gehen wir immer wieder hin zurück – Matthäus 26, Vers 40. Dort sehen wir die Situation im Garten Gethsemane.
Matthäus 26, Vers 40: „Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“
Petrus hatte geschlafen in der Stunde der Versuchung. Er hatte nicht gewacht und nicht gebetet, er war einfach zu schwach. Er hat versagt. Aber Petrus wollte diese Wahrheit nicht annehmen. Er wähnte sich stark, er betete nicht in dieser Gefahrenzeit.
Wie ist das bei mir? Wie ist das bei uns mit unserem Gebetsleben? Immer dann, wenn wir stark werden in uns selber, vernachlässigen wir das Gebet. Und wenn wir das Gebet vernachlässigen, wenn unsere Gebetsbeziehung zum Herrn nachlässt, dann sind wir besonders gefährdet. Unsere Väter haben gesagt: Aller Abfall beginnt im Gebetskämmerlein, da, wo ich einfach die Beziehung mit dem Herrn, das Gespräch mit ihm, die Bitte um Kraft, die Bitte um seine Bewahrung und Leitung versäume. Da wird es gefährlich, da kann es zum Verleugnen führen in meinem Leben.
Petrus hat diese Lektion gelernt. Viele Jahre später, als er an die damalige Christenheit seine Briefe schrieb, erwähnt er auch das Gebet in seinem ersten Brief. Er schreibt in Kapitel 4, Vers 7: „Es ist nahe gekommen das Ende aller Dinge, so seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.“
Er hat das gelernt. Er wusste, dass das Gebetsleben etwas ganz Entscheidendes ist.
Wenn wir noch weiter überlegen, welche Faktoren zur Verleugnung führten – immer noch unter dem Hauptgedanken Vorgeschichte – dann müssen wir sagen: Der Abstand zu Jesus trägt mit dazu bei. Wenn wir Matthäus 26, Vers 58 lesen, heißt es: „Petrus aber folgte ihm von ferne bis zum Palast des Hohen Priesters und ging hinein und setzte sich zu den Knechten, um zu sehen, worauf es hinaus wollte.“
Er folgte von ferne. Wir sehen auch das Motiv, warum Petrus in den Garten des Hohen Priesters ging. Die anderen Jünger flohen in alle Himmelsrichtungen, aber Petrus ging aus Neugier. Er wollte sehen, worauf es hinauslief, wie das jetzt ausgeht. Neugier war sein Motiv, nicht in letzter Linie Treue zum Herrn, sondern Neugier: Wie wird das jetzt wohl alles weitergehen?
Aber da steht der gewichtige Satz: „Petrus aber folgte ihm von ferne.“ Natürlich ist hier zunächst eine räumliche Distanz gemeint, dass er so einen Sicherheitsabstand hielt, dass er ein paar hundert Meter hinterherging, hinter dieser Schar, die Jesus wegführten. Aber ich glaube, dass hier auch eine innere Distanz bereits vorhanden war.
Auch in unserem Leben, wenn wir Jesus nachfolgen, kann der Teufel kommen und sagen: Mensch, mach’s bloß nicht so doll mit Jesus, übertreib’s bloß nicht, werd bloß nicht so eng! Aber der Heilige Geist sagt uns etwas ganz anderes. Er sagt: Du kannst gar nicht nah genug bei Jesus sein, deine Gemeinschaft mit ihm soll so eng sein, wie es nur geht.
Es gibt ein Lied, da heißt es: Herr, lass mich immer Heimweh haben, wenn ich nicht nahe bei dir bin. Die Sehnsucht des Jüngers ist doch, so nah wie möglich mit dem Herrn verbunden zu sein, nicht von ferne zu folgen wie Petrus hier. Abstand zu Jesus – ein Faktor, der mit zur Verleugnung führte.
Noch ein Letztes will ich hier nennen: Petrus wagte sich an einen gefährlichen Ort. Er ging in den Garten des Hohen Priesters, und das war natürlich gefährlich. Da waren die Wachen, da war der Hohepriester, da waren viele Feinde Jesu und Feinde seiner Jünger. Dort saßen sie nun, es war kalt, sie hatten sich ein Kohlenfeuer gemacht, und da stand Petrus nach einiger Zeit und wärmte sich an dem Kohlenfeuer.
Das war ein gefährlicher Ort. Dort wurde er dann gestellt, dort kamen die Fragen: „Gehörst du nicht auch dazu?“ Und dann kam er ins Schleudern, ins Stolpern und ins Fallen.
Es war ein gefährlicher Ort. Wisst ihr, wir Christen können unter Umständen nicht an alle Orte gehen. Es gibt gefährliche Orte für uns. Das mag für jeden von uns etwas anderes sein, aber ich kenne Orte, die für mich brandgefährlich sind, um die ich einen großen Bogen machen muss.
Der Satz „Überall hingehen, alles mitmachen“ steht nicht in der Bibel. Es gibt Orte, die für Jünger Jesu gefährlich werden können. Es gibt auch Menschen, die für Jünger Jesu gefährlich werden können.
In der Bibel steht auch mehrmals der Satz: „Fliehet nicht vor dem Teufel.“ Vor dem sollen wir nicht fliehen, dem sollen wir widerstehen, dann flieht er von uns. Aber „Fliehet die Sünde“ steht in der Bibel. „Flieht die Lüste der Jugend“ steht in der Bibel. „Flieht den Götzendienst“ heißt es in der Bibel.
Es gibt Orte, da sollten wir fliehen, da sollten wir einen großen Bogen machen. Das hat Petrus nicht begriffen. Er wagte etwas, für das er noch gar nicht reif war.
Johannes war auch im Garten des Hohen Priesters. Er war auch hier im Hof, aber Johannes fiel nicht, Johannes verleugnete nicht. Er war reifer als Petrus.
Petrus verleugnete und fiel, weil er sich an einen gefährlichen Ort wagte.
So weit mal zur Vorgeschichte. Mir ist es wichtig, dass wir das sehen: Diese Verleugnung kam nicht aus heiterem Himmel. Auch in unserem Leben, wenn wir straucheln, wenn wir fallen, wenn wir den Herrn verleugnen, es kommt meistens nicht spontan. Es hat eine Vorgeschichte.
Die Verleugnung selbst: Ein dramatischer und schmerzlicher Akt
Lasst mich einen zweiten Gedanken anfügen, und zwar zur Verleugnung. Wir wollen für ein paar Minuten genau hinschauen, was bei der Verleugnung passiert ist und was uns dabei auffällt. Wir befinden uns in Matthäus 26, Verse 69 bis 75.
Zuerst ist mir aufgefallen, dass Petrus wegen einer Magd verleugnet – einer kleinen, namenlosen Magd. Das war sein Stolperstein. Wenn der Hohepriester selbst gekommen wäre und gefragt hätte: „Bist du auch einer von denen?“, hätte Petrus wahrscheinlich gesagt: „Jawohl!“ und das Schwert wiedergezogen, so wie im Garten. Vor dem Hohenpriester hätte er wohl nicht verleugnet, da hätte er wieder den Helden gespielt.
Aber jetzt stolpert er vor einer kleinen, unscheinbaren, namenlosen Magd – einem Nobody. Auch die anderen, die ihn fragen, sind unbekannte, namenlose Personen. Petrus, der sich so gern einen Namen machen wollte, stolpert über drei namenlose Unbekannte.
Ich musste daran denken: Wenn wir hoch hinaus wollen, wie Hans Kuck in die Luft, wenn wir große Ziele haben, dann stolpern wir oft über ganz kleine Steine, die direkt vor unseren Füßen liegen. Wir müssen auf den Weg achten, auf dem wir gehen, und nicht nur auf irgendwelche visionären Ziele. Wer hoch hinaus will, stolpert oft über kleine Steine – über namenlose Personen.
Dann fiel mir auf, dass sich Petrus’ Verleugnung in einem dramatischen Akt steigert. Zuerst heißt es in Vers 70, dass er lügt: „Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagst.“ Es beginnt mit einer Lüge.
Im Vers 72 heißt es: „Und er leugnete abermals und schwor dazu.“ Das ist dramatisch. Zur selben Stunde, in der Jesus vor dem Hohenpriester den Eid ablegt, dass er der Sohn Gottes ist, leistet Petrus nur wenige Meter entfernt einen Meineid, indem er schwört, Jesus nicht zu kennen – seinen geliebten Herrn. Das ist seine ganz tiefe Tragik in dieser Situation.
Dann folgt noch eine Steigerung in Vers 74: „Da fing er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht.“ Eine Selbstverfluchung – Lüge, Schwur und Selbstverfluchung. Hier sehen wir, wie Schiller zu Recht sagte: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortlaufend Böses muss erzeugen.“ Es ist eine Kettenreaktion der Sünde. Es gibt eine Sogkraft der Hölle, die nach unten reißt. Der Teufel gibt sich nie mit unserem kleinen Finger zufrieden; er will immer die ganze Hand. Er ist ein Verderber, der ins Verderben reißt.
Außerdem fiel mir noch etwas auf: Da, wo sich Petrus am besten vorkam, da fällt er. Vielleicht dachte er: „Oh, so weit haben sich die anderen nicht gewagt. Ich bin bis in den Palast des Hohenpriesters gefolgt.“ Doch dort kommt es zu seinem tiefen Versagen.
An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wo verleugnen wir? Wo geht es uns so? Wir werden nicht in irgendwelche Paläste geschleppt, aber wo verleugnen wir heute in unserem Leben als Christen, als Jünger Jesu? Ist es nicht oft so, dass wir schweigen, wo wir reden sollten? Ist es nicht oft so, dass wir aus Angst und Scham schweigen, wenn neben uns der Name Gottes oder der Name Jesu gelästert oder in den Schmutz gezogen wird? Dass wir es nicht über die Lippen bringen, für die Ehre Gottes einzutreten, für den Namen des Herrn?
Oder verleugnen wir durch Reden, wo wir schweigen sollten? Es gibt Situationen, in denen wir schweigen müssen, und doch reden wir. Oder durch Reden, wo wir handeln sollten – da reden wir nur, anstatt etwas zu tun.
Wichtig ist mir auch geworden, dass wir verleugnen, wenn wir aus eigener Kraft nachfolgen. Paulus schreibt im 2. Timotheusbrief: „Sie haben den Schein eines gottseligen Wesens, aber seine Kraft verleugnen sie.“ Damit sind Namenschristen gemeint, die fromm und religiös leben wollen, aus eigener Kraft. Sie mobilisieren ihre religiösen Kräfte von innen heraus, beten, fasten, tun Werke, strengen sich an und bemühen sich – aber alles aus eigener Kraft. Das ist die Verleugnung des Herrn: Sie verleugnen seine Kraft.
Auch Christen, die den Herrn kennen – also wir – können unter dieses Wort fallen, wenn wir trotz der Gegenwart Jesu in unserem Herzen aus eigener Kraft leben. Wenn wir nicht aus der Gemeinschaft mit ihm leben. Auch das muss ich in meinem Leben immer wieder feststellen: Es fällt mir oft leichter, aus der Kraft des alten Menschen zu leben als in der Selbstverleugnung aus der Kraft des neuen Menschen.
Aber das ist ein Wachstumsprozess: Dass ich nicht verleugne, dass ich nicht die Kraft des Herrn verleugne. Wie oft haben wir verleugnet, als wir ohne den Herrn Schritte in der Nachfolge getan haben? Und wie oft verleugnen wir, seitdem wir bewusst mit ihm leben?
Wäre die Vergebungsbereitschaft Gottes begrenzt, könnte keiner von uns selig werden. Aber weil Gott viel vergibt, weil er uns angenommen hat, uns liebt, uns trägt und jeden von uns zum Ziel bringen wird, mit dem er begonnen hat, können wir an dieser Stelle Hoffnung und Trost haben. Wir müssen nicht verzweifeln wie Judas.
Die Nachgeschichte der Verleugnung: Tränen, Blickkontakt und neue Berufung
Lasst mich zum Schluss noch einen letzten Gedanken zur Nachgeschichte der Verleugnung ausführen. Ich bin so froh, dass es hier nicht aufhört, dass es im Palast des Hohenpriesters mit den bitteren Tränen nicht endet. Männertränen sind ja eine seltene Ware, aber hier hört es nicht auf. Es gibt eine Nachgeschichte, und die beginnt schon mitten in dem ganzen Geschehen, in Vers 74. Am Schluss heißt es: „Und alsbald krähte der Hahn.“
Hier fängt die Nachgeschichte an. Petrus dachte an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Daraufhin ging er hinaus und weinte bitterlich.
Der Hahn kräht. Wilhelm Busch hat einmal gesagt, dieser Gockelhahn sei nicht gerade das Symbol eines vollmächtigen Evangelisten – so ein aufgeplusterter Gockelhahn da auf dem Hof. Doch wenn ein Gewissen sensibilisiert ist, reicht manchmal schon so ein Hahn, so ein Krähen, um uns wieder zurück auf den Weg zu holen.
Das kann ein Hahn sein, es kann aber auch ein namenloser Christ sein, der einen Satz sagt, den Gott gebraucht, um uns wieder zurechtzubringen. Es kann ein Bibelwort sein, ein Liedvers. Manchmal redet Gott sogar durch Nichtchristen zu uns. Das gibt es auch. Irgendetwas kann Gott gebrauchen, um uns wieder zurückzuholen.
Es begann mit dem Krähen des Hahns. Nun müssen wir noch zwei Stellen im Neuen Testament aufschlagen, um diese Nachgeschichte wirklich in ihrer Tiefe auszuloten.
Nochmal das Lukasevangelium, Kapitel 22, das ist wieder Seite 105. Wir müssen das einfach lesen; es wäre jammerschade, wenn wir das versäumen würden. In Lukas 22, Vers 61 wird die gleiche Verleugnung beschrieben wie zuvor, aber Lukas fügt noch einen anderen Aspekt hinzu, den Matthäus nicht erwähnt: „Und der Herr wandte sich und sah Petrus an.“
Offensichtlich steht Jesus in diesem Gebäude, sieht durch das offene Fenster in den Hof und nimmt Augenkontakt mit Petrus auf. Er sah Petrus an. Petrus dachte an das Wort des Herrn, wie er zu ihm gesagt hatte: „Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
Dieser Blickkontakt wird von Lukas erwähnt und ist sehr wichtig. Jesus schaut mit seinen sonnenklaren Augen, mit dem Blick der Ewigkeit, in die Augen des Petrus. Was muss das für ein Blick gewesen sein?
Kein vernichtender Blick, der Petrus an den Boden sinken lässt, um für immer zu verschwinden. Sondern ein Blick, in dem sowohl Gericht als auch Gnade liegen. Ein Blick voller Schmerz über das Verhalten Petrus’, aber zugleich voller Liebe und Treue. Ein Blick, der ihm Hoffnung und Mut gemacht hat – beides zugleich. So konnte nur Jesus ihn ansehen.
Ich weiß nicht, ob ihr auch schon einmal so in das Angesicht Jesu hineingeschaut habt, ob es Situationen in eurem Leben gab, in denen euch der Herr so angeschaut hat. Ich habe das für mich mehrmals erlebt. Dann kommen meistens die Tränen der Buße – auch Männertränen –, wenn man zerschlagen ist über den eigenen Fehlweg, wenn man sich so zu Schanden machen musste und dann diesen Blick Jesu sieht. Einen Blick, der nicht zerschmettert, nicht vernichtet, sondern sagt: „Du, ich habe dich dennoch lieb, und ich will dich wieder zurechtbringen.“
Dann berichtet das Markus-Evangelium, dass die Engel den Frauen sagen: „Sagt den Jüngern und Petrus.“ Die Engelbotschaft erwähnt ausdrücklich den Petrus. Jesus sagt durch die Engel zu den Frauen: „Grüßt mir den Petrus besonders.“
Das war alles Zurechtbringung. Markus 16, Vers 7 berichtet uns das allein in der Schrift. Dort heißt es: „Grüßt mir den Petrus.“ Also sagt es den Jüngern, und Petrus besonders. Warum? Weil er jetzt dieses „Besonders“ braucht. Weil er zerschmettert ist, weil er am Boden zerstört ist. Das ist alles Seelsorge und Zurechtbringung Jesu.
Die letzte Stelle, die wir betrachten wollen, ist Johannes 21, Verse 15 bis 17. Viele von euch kennen diese Begebenheit am See. Johannes 21, Seite 139, Vers 15:
„Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber als diese hier?“ Er spricht zu ihm: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Jesus spricht zu ihm: „Weide meine Lämmer.“
Er spricht zum zweiten Mal zu ihm: „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“ Er spricht zu ihm: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Jesus spricht zu ihm: „Weide meine Schafe.“
Zum dritten Mal spricht er zu ihm: „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“ Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal gefragt wurde, ob er Jesus lieb habe. Jetzt erkannte er, dass Jesus hier auf seine dreimalige Verleugnung anspielt – in ganz seelsorgerlicher Art.
Er wurde traurig und begriff: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Jesus sagt zu ihm: „Weide meine Schafe.“
Jesus hat ihm diese ganze Geschichte nicht erspart, sondern sie seelsorgerlich mit ihm aufgearbeitet. Er sagt zu Petrus: „Dein Verleugnen habe ich dir voll und ganz vergeben. Ich halte weiterhin fest zu dir. Und deine Berufung von damals, die ich hier an diesem See ausgesprochen habe, die bleibt bestehen. Weide meine Schafe.“
Das heißt, du sollst weiterhin Menschenfischer bleiben. Das ist der große Unterschied zu Judas. Judas hatte auch Reue, aber er ging nur zu den Menschen. Petrus kam zu Jesus zurück und wurde von ihm wieder zurechtgebracht.
Petrus war zurückgefallen, Judas war abgefallen. Das ist ein großer Unterschied.
Persönliche Anwendung und Einladung zum Gebet
Zum Schluss möchte ich sagen: Wenn wir die Geschichte des Petrus betrachten – mit ihrer Vorgeschichte, dem Geschehen selbst und auch der Nachgeschichte – muss ich einfach erkennen, dass Petrus auch ich bin.
Ich habe genauso verleugnet wie er. Doch wenn ich dadurch an mein eigenes Ende gekommen bin, wenn mir meine Selbstverliebtheit und mein Stolz zerbrochen sind, dann war das nicht umsonst. Auch nicht die Tränen der Zerknirschung. Wenn ich dadurch meinen inneren Bankrott erlebt habe, bin ich durch dieses Tor zum neuen Leben hindurchgegangen.
Denn der Heilige Geist verbindet sich nur mit Bankrotteuren, nur mit Menschen, die mit sich selbst am Ende sind – auch mit aller frommen, religiösen Ichkraft. Darum gilt der Satz: Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden. Und diese Gnade will auch in deinem Leben viel mächtiger werden.
Der Herr möchte an uns nicht nur das tausendfache Verleugnen sehen, sondern auch immer wieder die Tränen der Buße, wie bei Petrus, das Zurechtbringen und das neue Beauftragen für seinen Dienst.
Vielleicht können wir es so halten, dass wir heute Morgen eine kleine Gebetsgemeinschaft bilden. Das haben wir nicht immer, aber ich denke, heute sind viele unter uns, die im freien Gebet geübt sind. Darum möchte ich jetzt eine Gelegenheit geben, dass wir kurz über das, was wir gerade gehört haben, mit unserem Herrn reden.
Wir können ihm danken für seine große Treue, aber auch bekennen, wo wir verleugnet haben. Wollen wir das, was uns jetzt wichtig geworden ist, mit in eine kleine Gebetsgemeinschaft nehmen?