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Kein Gebet geht ohne die Bitte: “Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.” Aber was will er? Was will Gott? - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Ich will, sagt das Kind, ich will mehr Playmobil. Nun kann man dem Kind klarzumachen versuchen, dass es fast alles hat, was der Frühjahrskatalog zu bieten hat, von der Cowboy-Ranch über die Safari-Expedition bis zur Ambulanzstation, aber alles Reden ist für die Katz. Ich will, ich will mehr, ich will mehr Playmobil, sagt das Kind und quengelt an einer Tour. Quengeln ist das Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Ich will, sagt der Sohn, ich will mehr Freiheit. Nun kann man dem Sohnemann deutlich zu machen versuchen, dass er fast all das hat, was ein Siebzehnjähriger verlangen kann, vom Einzelzimmer über Hausschlüssel bis zum Fernseher mit Kabel, aber alles Reden ist verlorene Liebesmüh. Ich will, ich will mehr, ich will mehr Freiheit, sagt der Sohn und droht mit dem Auszug. Drohen ist das Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Ich will, sagt der Angestellte, ich will mehr Lohn. Nun kann man dem Angestellten zu erklären versuchen, dass er fast all das hat, was sich Menschen erträumen können, vom Auto über Wohnung bis zur ausgedehnten Urlaubsreise, aber alles Reden ist vertane Zeit. Ich will, ich will mehr, ich will mehr Lohn, sagt der Angestellte und tritt in den Streik. Streik ist das Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Und genauso sagt ein Zeitgenosse, ich will mehr Kraft und Freude und Gesundheit. Nun kann man dem lieben Mann auch den Star zu stechen versuchen, dass er sich im Vergleich mit Behinderten und Angeschlagenen und Kranken nun wirklich nicht beklagen könne, aber alles Reden bringt nichts. Ich will, ich will mehr, ich will mehr Kraft und Freude und Gesundheit und betet dafür. Gebet ist das Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Gebet ist das Mittel, um seinen Kopf durchzudrücken. Mit dem Gebet durch die Wand. Aber das ist doch ein verheerendes Missverständnis, wenn das Gebet, so wie das Quengeln oder Drohen oder Streiken zum Triebwerk unseres Willens gemacht wird. Gott wird dabei zum Handlanger unserer Wünsche und zum Vollzugsbeamten unseres Willens degradiert. Zu unserem Ja soll er sein Amen sagen. Aber gar nie und auf gar keinen Fall kann es zuerst darum gehen, was wir wollen, sondern um das, was er will. Wo er zum Zuge kommt und nicht wir unseren Dickkopf durchziehen, da liegen wir richtig. Wo er das Sagen hat und nicht wir das große Wort führen, da stimmt die Richtung. Wo er den Ton angibt und nicht wir die erste Geige spielen, da klingt’s gut. “Dein Wille geschehe”, darum muss es bei unseren Plänen gehen. “Dein Wille geschehe”, darum muss es bei unseren Wünschen gehen. “Dein Wille geschehe”, darum muss es bei unseren Entscheidungen gehen. Und deshalb geht auch kein Gebet ohne diese Bitte: “Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.”

Aber was will er? Was will Gott? Was ist Gottes Wille? Darüber informiert dieser Text.

1. Gott will alles schenken

Ein Liebender schenkt, wenn er seiner Geliebten einen duftenden Rosenstrauß mitbringt. Ein Liebender schenkt viel, wenn er seiner Geliebten eine Rosenquarzkette um den Hals hängt. Ein Liebender schenkt sehr viel, wenn er seiner Geliebten einen Goldring an den Finger steckt. Aber wenn der Liebende zur Geliebten sagt: “Ich will dir ganz gehören”, dann schenkt er alles. Gott ist ein Liebender. Eifersüchtig ist er hinter seinen Geschöpfen her. Jeder, der Menschenantlitz trägt, ist sein Geliebter. Er schenkt, wenn er seinen Geliebten einen Wonnemonat Mai mit Blumen und Blüten erleben lässt. Er schenkt viel, wenn er seinen Geliebten jeden Tag den Tisch mit herrlichen Speisen deckt. Er schenkt sehr viel, wenn er seinen Geliebten einen Sonntag zum Feiern zur Verfügung stellt. Aber wenn der liebende Gott zu seinen geliebten Kindern sagt: “Ich will dir ganz gehören”, dann schenkt er alles. Um dies zu ermöglich­en, fand er eine Lösung, die für uns zur Erlösung wurde. Er schlug eine Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit über den Abgrund der Sünde. Weihnachten ist der Brückenschlag. Karfreitag ist das Brückenholz. Ostern ist das Brückengeländer. Jesus Christus ist die Brücke aller Brücken. Und so wie wir über die Neckarbrücke nach Cannstatt oder über die Donaubrücke nach Neu-Ulm oder über die Rheinbrücke nach Straßburg kommen, so kommen wir über die Jesusbrücke zu Gott. Gebet ist kein vermessener Wahn, Gott dreinzureden, wie Immanuel Kant meinte. Gebet ist keine Telefoniererei, bei der sich niemand auf der andern Seite meldet, wie Rainer Maria Rilke meinte. Gebet ist kein infantiles Durchgangsstadium, das sich beim Erwachsenen legt, wie Johann Gottlieb Fichte meinte. Gebet ist, und so wusste es Friedrich von Bodelschwingh, sich aus der Welt der Angst aufmachen und zum liebenden Vater gehen, denn, und so sagt Paulus: “Es ist ein Mittler, eine Brücke zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus.” Es gibt keine Ecke mehr, wo diese Jesusbrücke nicht gebaut ist. Aus der Ferne kann ich kommen, wo mich der Zweifel beutelt und keinen guten Faden an einem Gott lässt. Aus der Tiefe kann ich kommen, wo mich die Schwermut packt und kein Sonnenstrahl erreicht. Aus dem Loch kann ich kommen, wo mich die Einsamkeit quält und kein gutes Wort mehr fällt. Aus der Hölle kann ich kommen, wo mich die schiere Verzweiflung ankommt und der Abgrund sich immer weiter auftut. Im Gebet gehe ich über die Jesusbrücke zu Gott, der mir nicht nur ein Trostpflästerchen aufzieht, nicht nur über die Stirn streichelt, nicht nur ein “heile heile Segen” trällert, sondern alles schenkt, seine Nähe, seine Liebe, seine Gegenwart, einfach sich selbst. “Du bei mir und ich bei dir, also sind wir ungeschieden und ich schlaf im Frieden.” Gott will alles schenken.

2. Gott will alles allen schenken

Droben auf der Burg Hohenzollern entdeckte ich eine kleine Brücke. Sie verbindet zwei Gebäudeteile über einen Abgrund hinweg. Als ich sie betreten wollte, sah ich die Tafel mit der Aufschrift: “Privat. Nur für Familienglieder des Hauses Hohenzollern.” Weil ich keinen so edlen Stammbaum habe, blieb die Schranke zu. Weil ich kein so blaues Blut in den Adern habe, wurde mir die Benutzung verwehrt. Weil ich kein “von und zu” habe, sondern nur “high” und “down” bin, deshalb konnte ich nicht hinüber. An der Jesusbrücke steht keine Tafel mit der Aufschrift: “Privat”. An der Jesusbrücke gibt es kein Schild mit dem Hinweis: “Privat. Nur für Gemeindeglieder.” An der Jesusbrücke verbietet kein Plakat den Zutritt: “Privat. Nur für Glieder des Hauses Gottes.” Auch wenn ich keinen edlen Stammbaum habe und mich meiner Abstammung schämen muss, ist die Schranke für mich offen. Auch wenn ich kein blaues Blut in den Adern habe und mich schwer tue mit meiner Erblast, ist mir die Benutzung nicht verwehrt. Auch wenn ich keinen Adel habe und nur ein Durchschnittsbürger oder gar Spießbürger bin, kann ich hinüber. Die Jesusbrücke ist offen und öffentlich. Jedermann ist benutzungsberechtigt. Alle Menschen können zu Gott kommen. Nicht nur Landeskirchler oder Freikirchler oder Gemeinschafts­leute, sondern alle Menschen. Nicht nur Schwaben oder Franken oder Hessen, sondern alle Menschen. Nicht nur Deutsche oder Franzosen oder Polen, sondern alle Menschen. Nicht nur Schwarze oder Weiße oder Gelbe, sondern alle Menschen. Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Gott will, dass alle Menschen sich aufmachen. Gott will, dass alle Menschen den Weg über die Brücke finden.

Das hat jener alte Lehrer kapiert, der sehr unter Schlaflosigkeit zu leiden hatte. Als ihn ein Freund am Morgen fragte: “Hast du gut geschlafen?” antwortete er: “Ich habe gut gewacht.” Und auf die Rückfrage, was er damit meine, erklärte er, dass er in solchen Nächten fürbittend durch das ganze Städt­chen gehe und durchbesuche. Kein Haus lasse er aus, auch nicht das Rathaus oder Schulhaus oder Zuchthaus. Und wenn er dann immer noch nicht schlafen könne, dann durchwandere er ferne Kriegsgebiete, Regierungssitze und Machtzentralen, die diese Fürbitten bitter nötig hätten. Auch wenn wir keine Schlafprobleme haben, außer denen während einer Predigt, sollten wir andere Stunden für diesen Besuchsdienst freimachen. Gut gewacht für Kinder und Enkel, die ohne Gott vor die Hunde gehen. Gut gewacht für Väter und Mütter, die ohne Gott an ihren Aufgaben verzweifeln. Gut gewacht für Könige und Kaiser und Obrigkeiten, das heißt für Machtpolitiker, die ohne Gott selbstherrlich regieren, für Wirtschaftsbosse, die ohne Gott den Planeten zugrunde richten, für Medienmacher, die ohne Gott ein geistiges Ozonloch schaffen, das Leben ertötet. “So ermahne ich nun, dass man tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen”. Gott will alles allen schenken.

3. Gott will alles allen allezeit schenken

Sprechstunde gibt es beim Zahnarzt. Besuchszeit gibt es im Krankenhaus. Öffnungszeit gibt es im Museum. Ferienzeit gibt es in der Schule. Bei Gott gibt es dies alles nicht. Rund um die Uhr ist die Brücke begehbar. Tagaus, tagein steht seine Tür sperrangelweit offen. Allezeit ist dieser Gott schenkbereit. Allerdings ist ein kleiner Hinweis, eine oft übersehene Zwischenbemerkung, ein heißer Tipp für Leser und Hörer: “vor allen Dingen”. “Vor allem” sollen wir uns aufmachen. Vor allem andern sollen wir die Brücke benützen. Vor allen andern Dingen soll dies sein Geschenk den ersten Rang einnehmen. Gott muss Nr. 1 sein. Er will doch nicht nur nachher billigen. Er will doch nicht nur im Nachhinein sein “o.k.” geben. Er will doch nicht nur hinterher den Karren aus dem Dreck ziehen, den wir hineinmanövriert haben. Allein das Gebet vor allen Dingen lässt Gott Gott sein und ist der Sache angemessen. Das heißt ganz praktisch: Gehen wir zu ihm, bevor der Tag beginnt und wir das Radio anstellen und die Zeitung aus dem Kasten ziehen. Gehen wir zu ihm, bevor die Woche beginnt und wir den Terminkalender aufschlagen und die anstehenden Dinge erledigen. Gehen wir zu ihm, bevor die Freundschaft beginnt und uns die Liebe blind macht. Gehen wir zu ihm, bevor das Alter beginnt und wir keine Entscheidung mehr fällen können. Gehen wir zu ihm, bevor das Sterben kommt und wir in Schmerzen versinken. Vielleicht so, wie Blaise Pascal, der vor allen andern Dingen betete: “Herr, ich bitte dich nicht um Gesundheit, auch nicht um Krankheit, nicht um Leben und nicht um Tod. Sondern darum bitte ich dich, dass du verfügen mögest über mein Leben und über meinen Tod. Du allein weißt, was mir dienlich ist. Du bist der unumschränkte Herr. Tue mit mir nach deinem Willen! Gib mir oder nimm von mir! Nur mache meinen Willen übereinstimmend mit deinem.”

Herr, du willst alles allen allezeit schenken.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidenisch mit der Aufnahme]