Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen!
Lasst uns noch einmal beten. Herr, wir bitten dich, du bist Gott aller Wahrheit. Heilige uns in der Wahrheit, denn dein Wort ist die Wahrheit. Amen!
Liebe Gemeinde hier vor Ort in Hannover und alle, die uns jetzt an anderen Orten verfolgen und innerlich ebenfalls dabei sind,
Sie fühlten sich sicher und geborgen in der Concorde, die damals als schnellstes und teuerstes Passagierflugzeug der Welt galt. Hundert Reisende, zumeist aus Deutschland, sahen dem Start des Charterflugs Air France 4590 erwartungsvoll entgegen. Sie waren längst angegurtet in den bequemen Sitzen der Luxusmaschine. Ihr Ziel war New York, von wo aus sie eine Kreuzfahrt in die Karibik unternehmen wollten. Es war der 25. Juli im Jahr 2000.
Um 6:42 Uhr gab der Tower am Pariser Flughafen Charles de Gaulle die Startfreigabe. Hundertdreiunddreißig Sekunden nach dem Anrollen zerschellte die Maschine nur sechs Kilometer vom Flughafen entfernt über einem Hotel im Pariser Vorort Gonesse. Alle Menschen an Bord kamen ums Leben, außerdem vier Angestellte des Hotels.
Bei der Ursachenforschung entdeckte man später unter anderem ein Titanstück, etwa 43 Zentimeter lang, das die Maschine verloren hatte, die vor der Concorde gestartet war. Dieses Teil verfing sich in einem Reifen der Concorde, ließ diesen explosionsartig platzen und löste eine fatale Kettenreaktion aus.
Die Passagiere hatten sich auf einen Luxusflug nach New York gefreut und ahnten nicht, dass es für sie der Flug in den Tod sein würde. Sie hatten ihre Sicherheitslage falsch eingeschätzt. Aber hatten sie überhaupt eine Chance, zu einer anderen Einschätzung zu kommen?
Oftmals enden Situationen, die man falsch eingeschätzt hat, viel undramatischer. Wenn der Meister in der Autowerkstatt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und dann ausruft: „Schauen Sie sich diese Bremsen an! Ein hartes Bremsmanöver – und das hätte ganz schön schiefgehen können.“ Da hatten Sie noch mal einen Schutzengel.
Wir hatten uns so sicher gefühlt. Wie oft mögen wir uns in Sicherheit wiegen, obwohl wir eigentlich gar keinen Grund dazu haben? Wir meinen, wir hätten alles im Griff und ahnen doch nicht, dass es auf einer Selbsttäuschung beruhen könnte.
Darum geht es heute in unserem Predigttext, mit dem wir den ersten Johannesbrief fortsetzen: Vorsicht, Selbsttäuschung! Das ist das Thema.
Nicht jede Selbsttäuschung ist gleich lebensbedrohlich. Aber der Apostel steuert hier unvermittelt auf einen speziellen Irrtum zu, den wir uns nicht leisten können. Deshalb packt Johannes hier gleich den Stier bei den Hörnern. Man wundert sich, dass er seinen Brief nicht etwas vorsichtiger beginnt, sondern sehr schnell und sehr kritisch zur Sache kommt.
Dieser Ton zieht sich durch die ganze Bibel. Die Bibel ist ein Wachmacher. Sie geht an unser Leben heran. Das Letzte, was die Bibel will, ist, uns einzulullen und irgendwie religiös zu beruhigen. Wenn jemand religiöse Beruhigung sucht, sollte er lieber nicht zum Gottesdienst kommen. Denn Gottes Wort konfrontiert uns. Das geschieht aber immer mit einer liebevollen Absicht.
Wenn die Bibel ein Problem oder eine Gefahr aufdeckt, lässt sie uns damit nicht allein. Sie zeigt immer einen Weg auf, wie wir damit umgehen können. Das wäre auch ein schlechter Arzt, der dem Patienten nur die Diagnose um die Ohren haut und ihn dann damit allein lässt. So macht es die Bibel nicht.
Das Beste daran hat Johannes gleich in den ersten vier Versen klargemacht. Seine Diagnose, seine Botschaft kommt direkt von Jesus, dem Sohn Gottes. Was wir hier lesen, ist also nicht nur der gute Ratschlag eines erfahrenen Seelsorgers. Es ist auch nicht die Altersweisheit eines gereiften Apostels. In diesen Versen kommen wir an Gott selbst heran beziehungsweise kommt Gott an uns heran.
Darum lohnt sich jede Minute, die wir diesen Text studieren.
Nochmal zur Erinnerung: der Anfang des Briefes vom letzten Sonntag. Sie erinnern sich, wo Johannes die Quelle seiner Autorität darlegt und deutlich macht, dass er ein Augenzeuge ist und zum inneren Kreis von Jesus Christus gehörte.
Nur noch einmal zur Erinnerung: Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren eigenen Augen gesehen haben, was wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben – vom Wort des Lebens. Und das Leben ist erschienen. Wir haben gesehen, bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist. Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt. Unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.
Wir kennen das Original, sagt Johannes. Wir sind Augenzeugen. Wir waren dabei, als Jesus die Kranken heilte und die Toten zum Leben erweckte. Als er predigte, haben wir aus seinem eigenen Munde das Wort des Lebens gehört. Die Botschaft davon, wie Menschen auf ewig gerettet werden können und wie sie einen Weg finden dürfen mitten durch dieses Leben hindurch.
Wir haben es selbst gehört. Und, liebe Leute, deswegen ist das, was wir euch jetzt schreiben – was ich, Johannes, euch in diesem ersten Johannesbrief schreibe – von höchster Stelle gedeckt. Wir drängen es euch nicht auf, dazu ist es viel zu wertvoll. Aber wir wollen es euch so gern nahebringen, weil ihr diese Information genauso dringend braucht wie wir.
Und da beginnt dann unser Text, Vers 5. Ich lese ihn noch einmal:
„Was meinen Sie, wie oft ich diesen Text in den letzten Tagen gelesen habe? Sie hören ihn jetzt zum zweiten Mal. Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.
Wenn wir sagen, wir haben Gemeinschaft mit ihm und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander. Und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.
Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.
Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“
Achtung, Selbsttäuschung, Selbsttäuschung! Johannes beschreibt hier drei Irrtümer, die die Gemeinde angreifen und alle unser persönliches Verhältnis zu Gott betreffen. Er leitet jeden dieser Irrtümer mit derselben Formel ein: „Wenn wir sagen“ (Vers 6, Vers 8, Vers 10). An keinem anderen Punkt ist Selbsttäuschung so gefährlich und folgenreich wie bei unserem Verhältnis zu Gott. Das müssen wir uns klar machen.
Wenn ich mich zum Beispiel über mein Verhältnis zu meinem Briefträger täusche, kann man das vernachlässigen. Vielleicht denke ich, er findet mich ganz nett, während der Briefträger in Wirklichkeit denkt: „Was ist das für ein Idiot, dieser Nestvogel? Am liebsten würde ich seine Post in den Mülleimer werfen.“ Okay, dann habe ich mich über mein Verhältnis zu meinem Briefträger geirrt – das ist nicht so schlimm.
Wenn ich mich jedoch über mein Verhältnis zu meinen Mitarbeitern täusche, wird es schon schwieriger. Noch tragischer wäre es, wenn ich mich über mein Verhältnis zu meinen Kindern täusche. Und wenn ich mich über mein Verhältnis zu meiner Ehefrau täusche, dann wäre das der absolute GAU.
Johannes sagt, noch schlimmer als das alles ist, wenn du dich über dein Verhältnis zu Gott täuschst. Umgekehrt gilt: Wenn dein Verhältnis zu Gott in Ordnung und im Frieden ist, wird sich das auch positiv auf dein Verhältnis zu deiner Frau, deinen Kindern und deinen Mitarbeitern auswirken – und wahrscheinlich sogar auf dein Verhältnis zu deinem Briefträger.
Darum ist dies die entscheidende Testfrage, die wir gewissermaßen mit durch diese Predigt nehmen müssen: Habe ich eine realistische Einschätzung meines Verhältnisses zu Gott? Habe ich eine realistische Einschätzung meines Verhältnisses zu Gott?
Das war der Auslöser der Reformation: Luther wurde von dieser Frage umgetrieben. Im Nachhinein hat er einmal beschrieben, was ihn so sehr beschäftigte. Er sagte: „Wenn ich glauben könnte, dass Gott mir nicht zürnt, so würde ich vor Freude auf dem Kopf gehen.“
Also, wenn ich wirklich glauben könnte, dass mit meinem Verhältnis zu Gott alles in Ordnung ist, dann würde ich vor Freude einen Kopfstand machen. Doch er wusste es nicht. Er suchte nach Sicherheit.
Dieser Frage geht Johannes nun systematisch auf den Grund. In unseren Versen beginnt er mit einer Basisinformation über Gott, die wir brauchen, um unser Verhältnis zu Gott realistisch einschätzen zu können. Damit geht es los, in Vers 5:
„Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben, nämlich von Jesus. Das ist das Wort des Lebens, das die Basis des Evangeliums ist, könnte man auch sagen, das wir euch verkündigen.“
Jetzt kommt es: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“
Da steht eine sehr starke Verneinung im Griechischen. Deshalb könnte man auch übersetzen: „In ihm ist überhaupt keine Finsternis“, „nicht ein Hauch von Finsternis“.
Wenn du dein Verhältnis zu Gott realistisch einschätzen willst, dann musst du erst einmal wissen, mit wem du es zu tun hast, sagt Johannes. Deshalb stellt er seinem ganzen Argument eine zentrale Aussage über das Wesen Gottes voran, über den Charakter seiner Person.
Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Was sagt das Licht über Gottes Charakter aus?
Das Licht steht zunächst für die Klarheit, mit der Gott sich und seine Wahrheit offenbart. Es symbolisiert außerdem die Heiligkeit und Reinheit Gottes. Zum einen steht es also für die Klarheit, mit der Gott sich selbst und seine Wahrheit offenbart – nämlich durch seinen Sohn und durch sein Wort. Licht bedeutet Klarheit. Er bringt das Licht durch seinen Sohn.
In Jesaja 49,6 sagt der Vater zum Sohn: „Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, dass du mein Heil seist bis an das Ende der Erde.“ Der Herr Jesus nimmt das auf und sagt in Johannes 8: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird das Licht des Lebens haben.“ So haben Gläubige Gottes Licht.
Zu dieser Wahrheit über Gott gehört auch seine Herrlichkeit. Johannes schreibt in Johannes 1,14: „Wir sahen seine Herrlichkeit, die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Sie müssen wissen, dass das griechische Wort für Herrlichkeit, Doxa, in seiner Bedeutung eng mit Licht verwandt ist. Herrlichkeit bedeutet Glanz, Pracht, Erhabenheit, Ehre – also sein Licht, seine Herrlichkeit.
Gott macht uns das zugänglich. Er ist Licht und will uns das zeigen. Er will uns Zugang verschaffen, damit wir in dieses Licht hineinkommen können. Deshalb sagt Jesus: „Wer mir nachfolgt, wird das Licht des Lebens haben.“ Er wird an göttliches Licht herankommen.
Psalm 36,10 sagt: „Bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Licht sehen wir das Licht.“ Paulus hat das großartig ausgedrückt in 2. Korinther 4,6: „Denn Gott, der da sprach: ‚Es werde Licht!‘, der hat auch in unseren Herzen das Licht aufgehen lassen, zur Erleuchtung der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi.“ Das heißt, Gott hat das Licht in unseren Herzen aufstrahlen lassen, damit wir erleuchtet werden mit der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes. Wir sollen die Herrlichkeit, das Licht, die Größe, den wunderbaren Charakter und die Macht Gottes erkennen.
Wo sehen wir das? Im Angesicht Jesu Christi. Gott will, dass wir dieses Licht über seine Herrlichkeit erkennen. Du kannst Gottes Licht und Herrlichkeit am besten erkennen, wenn du Jesus anschaust. Wir können Jesus deutlich erkennen, das wissen wir aus den Versen 1 bis 4, indem wir die Zeugnisse der Augenzeugen studieren. Die Augenzeugen haben ihr ganzes Herzblut dafür eingesetzt, dass du Jesus sehen kannst und mit hineingezogen wirst in die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn.
Damit haben wir eine zweite Quelle, durch die uns Gott sein Licht und seine Wahrheit offenbart: durch seinen Sohn und durch sein Wort. Psalm 119,105 sagt: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ Und Petrus schreibt in 2. Petrus 1,19: „Wir haben das prophetische Wort, das ist gewiss; ihr tut gut daran, darauf zu achten wie auf ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint.“
Gottes Wort ist ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort. Gott ist Licht – das heißt, Gott offenbart sich uns in großer Klarheit. Er offenbart uns seine Wahrheit in großer Klarheit durch seinen Sohn und durch sein Wort.
Das Licht gibt uns einen zweiten Hinweis auf Gottes Charakter: Er ist nicht nur Klarheit und Wahrheit, sondern das Licht steht auch für Gottes Reinheit und für Gottes absolute Heiligkeit – im Gegensatz zum Dunkel der Völker, die zum Beispiel Jesaja beschreibt. In Jesaja 60,2 heißt es: „Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker.“ Das muss man nicht groß auslegen; das erschließt sich von selbst.
Dann geht es weiter: „Aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir; und die Heiden werden zu deinem Licht ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.“ Überall Finsternis, aber bei Gott ist Licht.
Deshalb betont unser Vers 5, Johannes 1,5, auch am Ende: „In ihm ist keine Finsternis.“ In ihm ist nichts Böses, nicht ein Hauch, nicht ein Schatten von Schuld, von Mangel, von Bösem.
Deswegen schreibt der Jakobusbrief in Jakobus 1,17: „Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab, von dem Vater der Lichter, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.“ Ein wunderbarer Titel für Gott! Er ist der Schöpfer der Gestirne, der Vater von Sonne, Mond und Sternen. Aber bei Gott selbst gibt es keine Veränderung, keinen Schatten infolge von Wechsel. Die Gestirne wechseln und variieren, es gibt Tag und Nacht, verschiedene Schattenspiele der Gestirne. Aber Gott ist immer gleich. Er ist immer heilig, immer vollkommen und ewig.
Deshalb betont das Neue Testament auch die Sündlosigkeit unseres Herrn Jesus. Weil Jesus Gott ist, weil Jesus Gottes Sohn ist, heißt es an verschiedenen Stellen, auch hier im 1. Johannesbrief. In 1. Johannes 3,5 sagt Johannes über den Herrn Jesus: „In ihm ist keine Sünde.“ In ihm gibt es keine Veränderung oder Schatten infolge von Wechsel – völlige, hundertprozentige, vollkommene Klarheit, Wahrheit, Heiligkeit und Reinheit. Das ist Gott.
Das ist die Voraussetzung für alles, was folgt. Das meint Johannes hiermit in unserem Vers 5: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Das heißt, Gott ist durch und durch Licht. Er ist vollkommen in seiner Wahrheit, in seiner Herrlichkeit und Erhabenheit. Er offenbart sich und seine Wahrheit in Jesus und in seinem irrtumslosen Wort, das ebenfalls durch und durch wahr ist.
Gott ist vollkommen in seiner Heiligkeit und völligen Reinheit, die nicht den kleinsten Schatten oder Makel kennt. Gott ist unbestechlich, wahr und klar – und das gilt sowohl für den Vater als auch für den Sohn, den er in die Welt gesandt hat.
Das ist die Voraussetzung. Und das hat dramatische Folgen für unser persönliches Verhältnis zu Gott.
Das musste zum Beispiel Mose erfahren. In 2. Mose 33,18 spricht Mose zu Gott: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen.“ Doch Gott antwortet ihm, dass er gar nicht wisse, was Mose da wolle.
Weiter heißt es in 2. Mose 33,20: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Niemand kann eine direkte Begegnung mit dem heiligen Gott überleben, wenn er schutzlos und in seinem jetzigen Zustand vor ihm steht. Gott ist so heilig, so wahr und so vollkommen.
Auch Johannes hat dies in seinem Evangelium benannt. Er sagt, viele Menschen spüren, dass ihr Leben nicht zu Gott passt. In Johannes 3,19 steht: „Das ist aber das Gericht, dass das Licht, also Jesus, in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“ Viele ahnen, dass etwas zerbrochen ist, dass ihr Leben nicht zu Gott passt und dass es ungemütlich würde, wenn sie zu nah an Gott herankämen.
So dreht sich das ganze Evangelium um die Frage: Wie kann das persönliche Verhältnis zwischen Gott und uns wieder geheilt werden? Wie kann das Gericht, das sich zwangsläufig aus dem Gegensatz zwischen Gottes Heiligkeit und unserer Sünde ergibt, abgewendet werden?
Luther hatte zutiefst verstanden, dass daran alles hängt. Er fragte sich: Wie kann der Graben, den unsere Schuld aufgerissen hat, überbrückt werden? Wie kann die Finsternis, in der wir uns befinden, durch Gottes Wort überwunden werden? Genau das muss geschehen, wenn jemand Christ werden soll.
Paulus beschreibt dies in Epheser 5,8: „Ihr wart früher Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn.“ Das ist der große Wechsel, denn Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.
Hier setzen nun die gefährlichen Behauptungen der Irrlehre an, gegen die Johannes mit seinem Brief vorging. Die Irrlehrer sagten: Die Finsternis ist doch gar nicht so schlimm, der Graben ist doch gar nicht so tief. Was redet ihr immer von Sünde, als ob das das große Problem wäre?
Die Sinnproblematik, dass der Mensch keinen Sinn mehr in seinem Leben erkennt, darüber müssen wir reden. Und dass er mit dem Leid nicht fertig wird, darüber müssen wir reden. Aber kommt den Menschen nicht immer mit Sünde. Macht ihnen kein schlechtes Gewissen. Gott sieht das viel lockerer als ihr. Gott ist die Liebe und wird auch wohl nicht so streng sein.
Mit dieser Verwirrstrategie setzt sich Johannes nun gründlich auseinander, indem er drei Parolen aufzeigt, die damals im Umlauf waren und die bis heute im Umlauf sind. Jede dieser Parolen leitet er ein mit der Formel „wenn wir sagen“.
In den Versen 6, 8 und 10 verwendet er ein hypothetisches „Wir“. Das bedeutet, es steht ein Konjunktiv. Johannes sagt nicht, dass die treuen Mitglieder der Gemeinde das gesagt haben, sondern nur die Irrlehrer. Aber er sagt: Wenn das bei uns einreißen würde, wenn wir das sagen würden, dann würden wir lügen (Vers 6), dann würden wir uns selbst betrügen (Vers 8), dann würden wir Gott zum Lügner machen (Vers 10).
Was war denn so schlimm an diesen Parolen? Sie hatten eines gemeinsam: Sie verharmlosten das lebensgefährliche Problem der Sünde. Sie verharmlosten die Auflehnung gegen Gott als Gott. Sie verharmlosten die Ablehnung seines Herrseins und die Selbstbehauptung des menschlichen Stolzes.
Das geschah in drei verschiedenen Varianten, die teilweise zusammenfielen und teilweise auch für sich stehen konnten.
Die erste Variante schildert Johannes in Vers: „Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ Das ist das Erste.
Sie leugnen die Relevanz der Sünde. Sie sagen, so wichtig sei das doch gar nicht. Sie behaupten, man könne gleichzeitig Gemeinschaft mit Gott haben, also Christ sein, und trotzdem in der Finsternis wandeln. Das ist die These: Ich kann Gemeinschaft mit Gott haben und trotzdem in der Finsternis wandeln. Wo ist das Problem?
Damit sagen sie nicht, dass sie noch mit Sünde im eigenen Leben kämpfen müssen. Das gilt ja für alle Christen und ist hier nicht gemeint. Das sagt Johannes selbst in Vers 8: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, dann betrügen wir uns.“ Das hat auch Paulus gesagt in Römer 7: Das Gute, das ich will, tue ich oft nicht, und das Böse, das ich nicht will, tue ich.
Also fordert Johannes hier nicht Sündlosigkeit – das muss man von Anfang an klären. „In der Finsternis wandeln“ meint einen Lebensstil, eine Grundhaltung. Jemand sagt: Es ist doch kein Problem, wenn ich sündige. Ich lasse mir doch von Gottes Wort nicht vorschreiben, wie ich zu leben habe. Aber ich bin trotzdem ein guter Christ. Na klar, ich lasse mir gern von Jesus ewiges Leben schenken, aber er darf keinesfalls mein Herr und mein König sein. Wo kämen wir da hin?
Und weil die Sache mit der Sünde auch nicht so dramatisch ist, sollte man auch die Wichtigkeit der Vergebung nicht so hochhängen. Da macht man den Leuten nur einen Schuldkomplex, verschafft ihnen damit Druck.
Dagegen markiert Johannes nun ein zwingendes Entweder-Oder. Er sagt: Entweder du wandelst im Licht oder du wandelst in der Finsternis. Beides gleichzeitig geht nicht. Du kannst nicht gleichzeitig auf dem schmalen und auf dem breiten Weg unterwegs sein. Du kannst nicht gleichzeitig nach München und nach Flensburg reisen. Es geht nicht.
Deshalb hat Jesus gesagt: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln“ (Johannes 8). Doch sie sagen, wir können ruhig in der Finsternis wandeln. Zugleich hat Jesus uns gelehrt, im Vaterunser regelmäßig um Vergebung zu bitten.
Jesus wusste: Im Licht zu wandeln bedeutet nicht, sündlos zu sein. Und wissen Sie: In der Finsternis wandeln heißt, dass ich das Licht des Evangeliums nicht an mein Leben heranlasse. In der Finsternis wandeln heißt, dass ich nicht reumütig Jesus um Vergebung bitten will.
In der Finsternis wandeln bedeutet das, was hier in Vers 19 und Johannes 3, Vers 19 steht: Ich liebe die Finsternis mehr als das Licht. Ich gehöre zum lichtscheuen Gesindel, weil ich nicht will, dass mein Leben auffliegt.
Luther hatte diese schroffe Alternative zwischen Licht und Finsternis mit einem ganz berühmten Bild verglichen. Er hat den Menschen mit einem Reittier verglichen und gesagt: Entweder wirst du von Gott geritten oder vom Teufel. Dazwischen gibt es keine dritte Möglichkeit. Du wirst entweder von Gott geritten oder vom Teufel, und dazwischen gibt es nichts.
Diesen Gegensatz, der so grundlegend für das biblische Menschenbild ist, versuchten die falschen Lehrer auszuhebeln. Sie sagten: Seid nicht so fixiert auf das Sündenthema, das ist nicht so relevant. Sie leugneten die Relevanz der Sünde.
Möglicherweise waren einige dabei auch von der aufkommenden Gnosis beeinflusst. Dort lehrte man einen Dualismus: Alles Geistige ist gut, alles Materielle ist schlecht. Die Bibel ist da ganz anders.
Aber die Gnostiker sagten: Wenn alles Materielle sowieso schlecht ist, dann ist es eigentlich egal, was du mit deinem Körper machst, was du mit deiner Sexualität machst, was du mit deiner Gesundheit machst. Der Körper ist sowieso schlecht. Das tangiert deinen Geist nicht.
In diesem Denksystem waren alle biblischen Gebote, die sich auf den Umgang mit dem Körper bezogen, von vornherein überflüssig. Daraus entwickelte sich dann das, was man Antinomismus nennt – ein Kampf gegen Gottes Gebote. Alles egal, du kannst machen, was du willst. Es ist Gott egal, es ist für deinen Geist egal, es ist für dein Herz egal.
Die Bibel sagt dagegen ganz klar: Der Mensch ist von Gott ganzheitlich geschaffen. Alle Bereiche unseres Menschseins – das Geistige genauso wie das Materielle, unser Körper, unser Denken, unsere Empfindung – sind von Gott geschaffen.
In allen Bereichen sollen wir Gott ehren, und in allen Bereichen sind wir noch von der Sünde gefährdet.
Johannes sagt: Wer das leugnet, Vers 6, der lügt. Wer also behauptet, wir können Gemeinschaft mit Gott haben und gleichzeitig in der Finsternis wandeln, der lügt und tut nicht die Wahrheit.
Warum lügt er? Weil er es besser erfahren hat. „Ihr wisst, was die Bibel sagt“, sagt Johannes. Und wenn ihr euch bewusst dagegen stellt, dann verabschiedet ihr euch von der Wahrheit – sowohl in eurem Reden als auch in eurem Handeln.
Sie tun nicht die Wahrheit. Sie reden nicht nur nicht die Wahrheit, sondern sie tun nicht die Wahrheit.
Die Verharmlosung der Sünde – das ist eure Lebenslüge.
Und dann hält Johannes im nächsten Vers das Gegenbild dagegen. Er zeigt nämlich, was es umgekehrt bedeutet, im Licht zu wandeln – das ist die Position der Christen.
Wenn wir im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander. Das Blut seines Sohnes, Jesu Christi, macht uns rein von aller Sünde – dieser berühmte Vers 7.
Es ist ganz logisch, wie Johannes hier argumentiert: Er sagt, Gott ist Licht, und wenn ich mit Gott lebe, bin ich auch im Licht. Nicht weil ich so moralisch bin, sondern weil ich bei Gott bin und Gottes Licht habe. Das ist die Logik hier.
Damit wird noch einmal deutlich: Im Licht zu wandeln ist nicht die moralische Forderung, ein einigermaßen ordentliches Leben zu führen und sich nicht zu viele Schnitzer zu leisten. Sondern im Licht zu wandeln bedeutet, bei Gott zu leben, mit Gott zu leben, in seiner Nähe, in Abhängigkeit von ihm.
Wenn wir im Licht wandeln, wie er im Licht ist, haben wir auch Gemeinschaft untereinander, weil diese Gemeinschaft der Christen von Gott gestiftet ist. In diese Gemeinschaft komme ich aber nur durch Gott, durch Jesus.
Vers 7 sagt am Ende auch, wodurch Gott uns die Tür zu seinem Vaterhaus und zu seiner Gemeinde geöffnet hat: Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Das ist der Türöffner.
Das Blut Jesu Christi ist der Ausdruck für seinen gewaltsamen Tod am Kreuz, wo Jesus damals die Strafe auf sich genommen hat – für meine Schuld, damit sie mich nicht treffen muss; für deine Schuld, damit sie dich nicht in die Hölle wirft. Er hat es auf sich genommen, er hat die Strafe getragen, ganz bewusst.
Hier liegt das entscheidende Geheimnis, warum Christen in Gottes Licht wandeln können, ohne von diesem Licht verbrannt und verzehrt zu werden. Hier liegt die Antwort, warum wir in Gemeinschaft mit Gott leben können, warum der heilige Gott keine Gefahr mehr für uns darstellt, sondern unser Vater geworden ist. Weil er uns in Jesus vergeben hat.
Das Blut seines Sohnes, Jesu Christi, macht uns rein von aller Sünde. Deswegen sagt Paulus in Römer 5,1: Wir haben Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. Und das heißt, im Licht zu wandeln.
Jemand, der das erfahren hat, kann nicht einfach sagen: Ich wandle dann immer in der Finsternis. Als wir zu Jesus kamen, zum ersten Mal, da hat Jesus uns grundsätzlich vergeben – alles vergeben, als wir Christen wurden. Das ist das, was wir Rechtfertigung nennen, Christ werden.
Seitdem leben wir jeden Tag aus seiner Vergebung. Wir dürfen jeden Tag im Vaterunser bitten: Vergib uns unsere Schuld. Wir bekommen Vergebung im Rahmen der Heiligung.
Deshalb ist es überhaupt kein Widerspruch, wenn Johannes in Vers 7 von denselben Leuten, von Christen, sagt, dass sie im Licht wandeln und durch Jesu Blut gereinigt werden. Gleichzeitig stehen diese beiden Verben „im Licht wandeln“ und „durch Jesu Blut gereinigt werden“ beide im Präsens. Sie beschreiben einen beständigen Prozess, der unser Glaubensleben begleitet: im Licht wandeln und von Christi Blut gereinigt werden.
Das heißt eben auch, im Licht zu wandeln, dass wir gar nicht erst versuchen, unsere Sünden vor Gott zu verstecken, sondern dass wir sie Gott hinhalten und getrost aus seiner Vergebung leben. Er durchschaut uns ja sowieso.
Genau dieses Geheimnis hatte Jesus vor sechzig Jahren dem Petrus im Rahmen der Fußwaschung erklärt. Johannes war dabei gewesen.
Kurz gesagt, Johannes hat es uns in Johannes 13 erklärt, diese Situation mit der Fußwaschung kurz vor der Kreuzigung. Als Jesus den Jüngern die Füße wäscht, will Petrus das ablehnen und sagt: „Nein, ich bin dessen nicht wert.“ Jesus antwortet dann in Johannes 13,8: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du keinen Anteil an mir.“
Petrus, wie wir ihn kennen, bittet nicht nur um das Waschen der Füße, sondern auch der Hände und des Hauptes. Er sagt: „Komm dann ganz rein in die Badewanne.“
Jesus sagt zu ihm: „Wer gewaschen ist, bedarf nichts, also wer einmal gewaschen ist, der bedarf nichts, als ihm künftig die Füße gewaschen werden. Denn er ist ganz rein. Und ihr seid rein, aber nicht alle.“ Das war der Judas.
Hier erklärt Jesus noch einmal: Das erste Waschen geschah bei der Bekehrung. Damals, als Petrus zu Jesus kam, als Petrus sich Jesus anvertraute, wurde er gewaschen von seiner Sünde. Da wurde ihm grundsätzlich in der Rechtfertigung alle Schuld vergeben, da wurde er Gottes Kind. Danach braucht es nur noch die tägliche Fußwaschung im Rahmen der Nachfolge.
Genau diese Fußwaschung ist es, die Jesus hier in unserem Text meint, erst Johannes 1, Vers 7 und Vers 9. Wir leben mit Jesus und wandeln im Licht. Wir dürfen uns täglich auf seine Vergebung verlassen.
Du darfst jeden Tag wieder ankommen, wenn der Herr dir etwas bewusst gemacht hat, und sagen: Herr, ich bringe es dir, bitte vergib. Ich habe schon wieder geschimpft, ich bin schon wieder der Versuchung erlegen, habe eine Notlüge gesagt, habe schon wieder schlimme Gedanken gehabt – vergib es mir.
Die Irrlehrer erklären das für übertrieben. Sie sagen: „Boah, wir brauchen diese beständige Vergebung nicht. Wir wandeln gern in der Finsternis und haben trotzdem Gemeinschaft mit Gott.“ Sie leben eine Lüge, denn sie leugnen die Relevanz der Sünde.
Johannes nimmt sich nun eine zweite Parole vor. Die ersten mussten wir besonders ausführlich behandeln, aber auch die zweite ist nicht ohne Bedeutung. Sie wurde damals ebenfalls von der Gemeinde verfolgt (Vers 8). Diese Parole lautet: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“
Das ist die zweite Parole. Hier leugnen die Menschen nicht nur die Relevanz der Sünde, sondern auch ihre Radikalität. Darum geht es hier. Sie leugnen, dass die Sünde bis an die Wurzeln unserer Existenz reicht, obwohl Gott bereits in 1. Mose 8 sagt, dass das Menschenherz von Jugend an böse ist – von der Sünde verdorben von Jugend an. Selbst der niedlichste Säugling ist in seinem Herzen verdorben von Jugend an.
Diese Menschen sagen: „Nö, die Radikalität der Sünde leugnen wir, wir haben keine Sünde.“ Das ist nur ein Satz. Deshalb muss man in der Auslegung vorsichtig sein, ihn nicht zu überinterpretieren. Trotzdem macht Johannes hier eine sehr grundsätzliche Aussage: „Wir haben keine Sünde.“ Dies kann sowohl schwärmerisch als auch humanistisch gemeint sein, so wie diese Leute hier es sagen: „Wir haben keine Sünde mehr.“
In der Pfingstbewegung gab und gibt es zum Teil auch eine solche Position. Sie ist verbunden mit der sogenannten Lehre vom reinen Herzen. Die Berliner Erklärung von 1909, die sich konstruktiv-kritisch mit der Pfingstbewegung auseinandersetzt, weist diese Lehre vom reinen Herzen ausdrücklich zurück. Dabei zitiert sie unseren Vers 8: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, dann betrügen wir uns selbst.“
Wenn also behauptet wird, man sei inzwischen darüber hinausgewachsen, dass die innewohnende Radikalität unseres sündigen Wesens noch vorhanden ist, dann zeigt die Berliner Erklärung sehr schön, wie leicht diese Lehre zur Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst und zur Heuchelei gegenüber anderen führen kann.
Wenn ich behaupte, ich habe keine Sünde mehr, glauben Sie denn, dass ich die Sünde in meinem Leben noch erkennen werde? Dann werde ich alles irgendwie vertuschen und hindrehen, damit das doch keine Sünde war. Oder wenn ich das anderen gegenüber gar sage: „Ich bin in dem Status, durch Gottes Gnade, dass ich keine Sünde mehr habe“, dann wäre ich ein Heuchler, weil ich alles, was noch irgendwie Sünde sein könnte, vertuschen und verdecken muss.
In jedem Fall hindert diese Lehre daran, dankbar aus der Vergebung durch Jesus zu leben. Sie hindert auch daran, sich selbst gegenüber kritisch genug zu sein. Diese falsche Lehre hindert daran, Gottes Wort mit der Bereitschaft zu lesen: „Herr, wenn in meinem Leben etwas korrigiert werden muss, wenn es nicht okay ist, dann lass es mich in deinem Wort wirklich erkennen.“ Wenn sie sagen, „wir haben keine Sünde mehr“, dann lesen sie so nicht.
Auch in der Gnosis gab es Leute, die sich anmaßen, ein so hohes Level an Erkenntnis erreicht zu haben, dass sie längst über die Sünde hinausgewachsen seien. Vers 8 sticht wie eine Nadel in diesen Ballon und entlarvt es als eine erbärmliche Selbsttäuschung: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Vorsicht vor Selbstbetrug!
Es gibt noch eine zweite Möglichkeit, die Radikalität der Sünde zu leugnen, und die ist unter uns wahrscheinlich verbreiteter – nicht nur die schwärmerische, sondern die humanistische Sicht.
Die humanistische Leugnung der Sünde bedeutet, der Mensch sei eigentlich von Grund auf gut. Er habe einen guten, edlen Kern. Ja, es gibt so viel Unrecht, Streit, Kriege, Scheidung, Betrug usw., aber das liege an den schlechten Umständen, an falscher Erziehung oder mangelnder Bildung.
Eine Variante dieser humanistischen Sicht des Menschen findet man auch in einer Seelsorge, die von Psychotherapie überfremdet ist. Dabei wird die Not der Sünde oft in den Hintergrund gedrängt. Stattdessen sucht man nach psychologischen Faktoren, die den Menschen eher als Opfer seiner Umstände darstellen. Man nennt das auch „Viktimisierung“. Der Mensch wird vom Täter gewissermaßen zum Opfer erklärt und alles psychologisch nachvollziehbar dargestellt.
Auch darin zeigen sich Denkmuster des klassischen Humanismus. Er glaubt an das Ideal eines edlen Menschen, den man durch Bildung und Kultur auf den rechten Weg führen könnte. Immanuel Kant erwartete im 18. Jahrhundert, dass Kriege abgeschafft würden, also dass die Menschen durch ihre Bildung so weit kommen würden, dass sie es einsehen müssten. Nun ja, wir sehen ja, wie sie es eingesehen haben.
Gotthold Ephraim Lessing träumte ebenfalls im 18. Jahrhundert von der Erziehung des Menschengeschlechts und wollte das zum Ziel führen. Alle diese Denker glaubten nicht, wie brutal und stark die Sünde ist. Das ist bis heute so.
Heute wird Sünde von denen, die sich das einfach nicht vorstellen können, gern als ein Machtinstrument der Kirche bezeichnet. Die Kirche hält die Leute noch unter Kontrolle – zumindest bei denen, die sich das nur erzählen lassen – mit dem Begriff Sünde. Dann sagt sie: „Ihr habt Sünde, und dann müsst ihr aufpassen, und wir helfen euch irgendwie, mit eurer Sünde klarzukommen.“
Goethe hat das so formuliert: „Der Theolog befreit dich von der Sünde, die er selbst erfunden.“ Also der Theologe erfindet eine Sünde, hängt sie dir an und sagt: „Aber komm zu mir, und ich sag dir dann, wie du davon wegkommst.“ Auch ein Geschäftsmodell.
An diesem Punkt gibt es eine breite Schnittmenge zwischen Humanismus und Marxismus, die sonst nicht so viel miteinander zu tun haben – zumindest in mancherlei Hinsicht. Ich erinnere noch mal an das zu DDR-Zeiten propagierte Glaubensbekenntnis, das die SED gerne verbreitet hat und das sich in Teilen so las: „Ich glaube an den Menschen“ – in Nachbildung gewissermaßen unseres apostolischen Glaubensbekenntnisses.
„Ich glaube an den Menschen, den da mächtigen Schöpfer aller Werke, und an die Technik, die alles beherrscht usw.“ Am Ende dieses Glaubensbekenntnisses heißt es: „Ich glaube an den guten Geist im Menschen, an die herrschende Klasse, die Gemeinschaft der Menschen, die guten Willens sind, an ein besseres Leben, eine herrliche Zukunft und den ewigen Bestand der Materie.“
Wir lachen darüber, auch weil es so lächerlich ist, aber es ist das Ergebnis dieses Denkansatzes. Und all diese Denkschulen trifft die apostolische Diagnose aus Vers 8: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“
Darum können auch all diese Denkschulen den Menschen weder erfassen noch ihm wirklich weiterhelfen. Wie Sprüche 28,13 ganz richtig sagt: „Wer seine Sünde leugnet, dem wird es nicht gelingen.“ Wer seine Sünde leugnet, der wird scheitern, der wird der Realität nicht wirklich sinnvoll begegnen können.
Genau das machen die Irrlehrer: Sie leugnen die Sünde, sie leugnen die Relevanz der Sünde und sie leugnen die Radikalität der Sünde.
Demgegenüber stellt Johannes wie befreiend – also gerade nicht niederdrückend, sondern befreiend – die Aufdeckung der Sünde dar. Und da ist dann der nächste Vers 9: „Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“
Jetzt kommt wieder frische Luft herein. Nicht niederdrückend, im Gegenteil. Es ist, als ob Johannes sagen würde: Leute, wo ist denn das Problem? Warum wollt ihr euch nicht helfen lassen?
Wenn wir unsere Sünden bekennen, dann ist er doch treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt. Johannes sagt, darauf zielt doch die ganze Befassung mit der Sünde ab: dass wir sie loswerden, dass wir frei werden, dass wir aus ihrem Klammergriff herauskommen und nicht, dass wir irgendwie niedergedrückt werden.
Wieder betont Johannes die Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit Gottes. Er sagt: So ist Gott treu und gerecht. Gottes Vergebung ist kein Akt der Willkür, bei dem mal der Daumen rauf und mal der Daumen runter geht, wie es gerade kommt. Sondern Gott ist treu und gerecht.
Warum ist Gott treu, wenn er dir vergibt? Weil er dir versprochen hat, dass er vergeben will. Darum hält Gott sich an sein Versprechen. Das zieht sich durch die ganze Bibel. Es gibt nur ganz wenige Beispiele, an denen das deutlich wird, dass Gott vergeben will.
Jeremia 33,8 sagt: „Und ich will sie reinigen von aller Missetat, womit sie gegen mich gesündigt haben, und ich will ihnen vergeben alle Missetaten, womit sie gegen mich gesündigt und gefrevelt haben.“ Das ist wie ein Refrain, der sich durch die ganze Bibel zieht.
Im Neuen Testament sagt der Herr in Matthäus 11,28: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.“ Dazu gehören eben auch die, die mühselig und beladen sind durch ihre Sünde, durch ihre Ignoranz Gott gegenüber, durch ihren Unglauben, durch ihr langes Leben ohne Gott. „Kommt her zu mir, ich will euch Frieden geben.“ Das heißt: Ich will euch retten, ich will euch vergeben.
In Johannes 6,37 sagt Jesus: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht wegschicken.“ Darum hat er doch das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt, damit wir wissen, dass Gott uns mit offenen Armen empfängt, wenn wir mit unserer Schuld ankommen und uns darunter beugen.
Er ist treu, wenn er uns vergibt, weil er es versprochen hat. Aber wenn Gott uns vergibt, wirkt sich darin nicht nur seine Treue aus, sondern auch seine Gerechtigkeit. Er ist treu und gerecht.
Jetzt fragen wir: Wie kann das gerecht sein? Wie kann das gerecht sein, wenn Gott einem Sünder die Schuld einseitig erlässt? Gnädig, ja, das können wir nachvollziehen. Es ist gnädig. Aber wie kann das gerecht sein?
Johannes wählt seine Worte ganz genau. Zwei Verse vorher hatte er gesagt, dass Jesus sein Blut für uns vergossen hat, dass Jesus stellvertretend für uns die Strafe bezahlt hat. Seitdem gilt: Wer Jesus als seinen Retter anruft und sich ihm anvertraut, für den gilt diese Amnestie, die Jesus durch seinen Sühnetod am Kreuz von Golgatha erwirkt hat.
Für den gilt diese Amnestie, und deshalb ist Gott nicht nur gnädig, wenn er uns vergibt, sondern auch gerecht, weil Jesus die Sache für uns klargemacht hat.
Wenn du dich auf Jesus berufst und Gott dir vergibt, dann vergibt er dir zu Recht – nicht weil deine Reue so ernst wäre, sondern weil Jesus alles für dich erledigt hat.
Paulus schreibt genau dasselbe in Römer. In der berühmten Stelle Römer 3,26 sagt Paulus, dass Gott am Kreuz seine Gerechtigkeit erwiesen hat, indem er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der an Jesus glaubt. Paulus sagt extra: Gott beweist am Kreuz seine Gerechtigkeit, indem er Sünder begnadigt, die eigentlich keine Begnadigung bekommen dürften. Aber am Kreuz beweist Gott seine Gerechtigkeit, weil Christus die Strafe für uns trägt.
So ist Gott treu seiner Verheißung und gerecht um Christi willen, dass er uns die Sünde vergibt.
Zinzendorf hat es mit seinem genialen Lied ausgedrückt:
„Christi Blut und Gerechtigkeit
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.
Damit werde ich vor Gott bestehen,
Wenn ich zum Himmel werde eingehen.“
Christi Blut und Gerechtigkeit – und nichts, was irgendwie an mir hinge oder mit mir zu tun hätte.
Und dann kommt mein letzter Vers, und dann sind wir durch. Eine dritte Parole, die Johannes aber unbedingt erwähnen will, weil sie möglicherweise manchen ins Schleudern gebracht hatte, steht in Vers zehn. Letzter Vers für heute:
„Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“
Hier verwendet Johannes jetzt das Verb „sündigen“. Vorher hat er gesagt, wir haben keine Sünde, und jetzt verwendet er das Verb „sündigen“ und verweist damit auf konkrete einzelne Sünden: Sünden in Gedanken, Sünden in Worten, Sünden in Taten.
Dieser Dritte muss gar nicht unbedingt die Relevanz der Sünde leugnen. Er kann sagen: Ja, Sünde ist schon nicht okay, in der Sünde zu leben. Dieser Dritte hier muss auch nicht unbedingt die grundsätzliche Radikalität der Sünde leugnen. Er kann sagen: Ja, diese Sündenverhaftung des Menschen stimmt schon. Aber er leugnet was? Er leugnet im Hinblick auf seine Person die Realität der Sünde, die konkrete Realität.
Und das ist das Dritte: Sie leugnen nicht nur die Relevanz, nicht nur die Radikalität, sondern die Realität der Sünde. Sie sagen: Ich habe nicht gesündigt, das kann nicht sein. Ich kann alles erklären, ich bin fast ein Fall für die Lehre vom reinen Herzen.
Adolf Schlatter schreibt zu diesem Vers 10: „Bei der Gerechtigkeit, die der Stolz zu haben meint, erhält der Mensch Recht und Gott Unrecht.“ Johannes zeigt hier in Vers 10 die zunehmende Verhärtung des Gewissens. Wir sagen: Wir haben überhaupt nicht gesündigt, was wir taten, war recht und vernünftig und sehr erklärlich, sodass es sich recht wohl verteidigen lässt. Sie leugnen die Realität der Sünde.
Gott will – das muss ich an dieser Stelle auch noch sagen, weil es sonst missverständlich wird – nicht, dass wir ständig in unserem Inneren herumgrübeln und ängstlich nach Sünden suchen. Also dass wir sagen: Wir wollen ja nicht gegen diesen Vers 10 hier verstoßen und kommen dann gar nicht mehr dazu, an irgendetwas anderes zu denken, weil wir ständig fürchten, wieder in irgendeine Sünde reingetappt zu sein. Das will Gott nicht.
Deswegen hat er uns Psalm 19 gegeben, wo es in Vers 13 heißt: „Wer kann merken, wie oft er fehlt? Verzeihe mir auch die verborgenen Sünden.“ (Psalm 19,13) Diesen Vers müssen Sie sich ganz dick anstreichen. Das ist so eine Hilfe, dass man sagt: Herr, mir ist nichts bewusst, aber danke, dass ich wissen darf, wenn irgendetwas sein sollte, was du mir nicht zeigst, aber was da ist, dass ich darauf vertrauen kann, dass du mir auch die verborgenen Sünden verzeihst.
Und dass ich nicht endlos, 24 Stunden am Tag, herumgrübeln muss, ob noch irgendwo eine Sünde möglicherweise übersehen worden sein könnte. Sondern dass ich sage: Herr, verzeih mir auch die verborgenen Sünden, wenn du es für nötig hältst, deck es mir bitte auf. Und so dürfen wir beten.
Gott wird uns möglicherweise manches nicht mehr bewusst machen, weil er ja unser Herz kennt, weil er weiß, wie wir es meinen und was wir brauchen. Aber wir müssen grundsätzlich bereit sein, uns vor Gottes Wort zu beugen und ihm Recht zu geben und uns immer wieder überführen zu lassen.
Und dazu waren diese Leute von Parole drei nicht mehr bereit. Sie leugneten die Realität ihrer Sünden. Sie waren nicht mehr bereit, sich von Gott überführen und überzeugen zu lassen. Sie haben alles abgestritten, und sie würden alles umdeuten, was ihnen irgendwie zu nahe kommen würde. Sie würden immer noch für alles eine Erklärung und eine Entschuldigung finden, wie Schlatter geschrieben hat.
Und das ist unheimlich ernst. Denn wenn so etwas geschieht, sagt Johannes am Ende unseres Textes: „Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn, also Gott, zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“ Wir machen Gott zum Lügner, weil wir seine Wahrheit nicht als Wahrheit annehmen.
Und wir machen Gott zum Lügner, weil ja Gott deutlich gesagt hat, dass alle Menschen lügen und alle Menschen Sünder sind und verdorben sind. Also wir auch. Und dass selbst, wenn wir gerettet werden und diese grundsätzliche Vergebung haben, wir trotzdem noch beten im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld.“
Das sagt Gott doch deutlich: Psalm 14, Vers 3: „Sie sind alle abgewichen, allesamt verdorben, dass keiner Gutes tut, auch nicht einer.“ Regel ohne Ausnahme. Jesaja 53,6: „Wir gingen alle in die Irre, ein jeder sah auf seinen Weg.“ Jesaja 64,5 sagt Jesaja: „Nun sind wir alle wie die Unreinen, und alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein besudeltes Kleid. Wir sind alle verwelkt wie die Blätter, und unsere Sünden tragen uns davon wie der Wind.“ Regel und Ausnahme.
Im Alten Testament gibt es ein berühmtes Beispiel, wo jemand die Realität seiner Sünde verleugnet hat: David. David nach seinem Ehebruch mit Bathseba, der zum Mord an ihrem Mann Uria führte. Der fromme König hat das lange ignoriert. Er hat lange damit gelebt, bis das Kind schon geboren war, das aus diesem Ehebruch hervorgegangen war.
Und dann hat Gott David konfrontiert durch das Wort des Propheten Nathan. Damals war die Bibel noch nicht abgeschlossen. Gott ist diesem König entgegengetreten durch seinen Propheten. Und Nathans Gleichnis von dem reichen Mann, der dem Armen sein einziges Schaf wegnahm, war wie ein Wink mit dem Zaunpfahl – nein, das war wie ein Wink mit dem Laternenpfahl.
Die meisten von Ihnen kennen den Text. Und sogar das hat David noch auf einen anderen bezogen und sich über einen anderen empört. So hat er die Realität geleugnet, bis Nathan ihm den letzten Ausweg versperrte und ihm sagte: „Du bist der Mann!“ Atta ha-Isch, du bist der Mann!
Und da hat es David umgehauen, und da hat er wirklich Buße getan. Das war wie ein Befreiungsschlag. Höchstwahrscheinlich ist auch Psalm 32 eine Frucht dieser harten Erfahrungen, ebenso Psalm 51 und Psalm 32, wo David dann schreibt:
„Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist, wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zurechnet, in dessen Geist kein Trug ist! Denn als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine, als ich die Realität meiner Sünde leugnete. Verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen, denn deine Hand lag Tag und Nacht schwer auf mir, dass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird. Darum bekannte ich dir meine Sünde, und meine Schuld verhehlte ich nicht. Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen! Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde.“
Und das genau ist der Grund, diese Erleichterung, die David hier erfahren darf, diese Befreiung. Das ist der Grund, warum Johannes in unserem Predigttext so dagegen ankämpft, wenn die Irrlehrer die Relevanz der Sünde verleugnen, wenn sie die Radikalität der Sünde verharmlosen und die Realität der Sünde verschleiern.
Aber es ist ein heller Ton, und ich hoffe, das ist deutlich geworden. Bitte lesen Sie es unbedingt noch einmal nach. Ich hoffe, es ist klar geworden: Es ist ein heller Ton, der sich durch diese Zeilen zieht.
Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, betrügen wir uns. Aber wenn wir unsere Sünde bekennen, dann ist er treu. Es ist ein heller Ton, kein düsterer.
Denn die Parole, die Luther zugeschrieben wird, stimmt vollkommen: Buße ist ein fröhliches Geschäft. Buße ist ein fröhliches Geschäft.
Zum Beweis schließe ich jetzt mit einer Geschichte von deinem alten Freund, der im Intercity nach Frankfurt dies erlebte. Er ist inzwischen schon in der Ewigkeit, aber er hat das oft erzählt.
Wie er dort im ICE nach Frankfurt unterwegs war – er fuhr oft zu Tagungen und Konferenzen mit dem Zug – beschreibt er es so: Im Bordrestaurant war nur noch ein Platz an einem Doppeltisch frei, an dem schon eine Dame saß. Ich fragte höflich, ob der zweite Platz noch frei sei, und setzte mich zu ihr.
Sie las, ich holte meine Bibel heraus, um mich auf eine Predigt vorzubereiten, und schlug den 51. Psalm auf. Die Dame blickte interessiert herüber und meinte, offensichtlich in der Annahme, dass es sich um die Bibel handelt: „Ach, Sie lesen ja so etwas Ähnliches wie ich.“
Da ich über ihrem Kopf den Autor nicht ausmachen konnte, fragte ich zurück: „Was lesen Sie denn?“ – „Sonette von Rilke.“ – „Na ja“, sagte ich etwas zögerlich, „so ähnlich ist es ja wohl doch nicht. Rilke hat doch eine sehr morbide Tendenz, also etwas sehr Düsteres. Die Bibel spricht vorwiegend vom Leben. Aber wenn Sie dahinter bei Rilke die verborgene Frage nach dem ewigen Leben sehen, dann könnte ich dem schon etwas abgewinnen. Können Sie mir mal das aufgeschlagene Sonett vorlesen?“
Und dann las sie es vor, dort im ICE-Bordrestaurant. Als sie fertig gelesen hatte, sagte ich vorsichtig: „Darf ich Ihnen jetzt auch vorlesen, was ich gerade gelesen habe?“ So begann ich, Verse aus dem 51. Psalm zu zitieren. Das ist der Parallelpsalm zu Psalm 32, auch bezogen auf den Ehebruch von David:
„Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit! Wasche mich rein von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir.“
Als ich nach dem Vorlesen meinen Kopf hob, sah ich in ihr überströmtes, tränenreiches Gesicht. Ich war so ergriffen, dass ich nicht wusste, was ich jetzt sagen sollte. Es musste ja alles sehr behutsam geschehen. Um uns herum wuselten die anderen Fahrgäste, die Kellner zwängten sich schwer beladen durch den Gang.
Nach einiger Zeit fragte ich vorsichtig: „Betrifft der Bibeltext Ihre Situation?“ Da brach es aus ihr hervor: Sie habe vor Jahren etwas getan, das sie Tag und Nacht verfolge und nicht mehr loslasse. Dann erzählte sie das.
Mein Freund schreibt, ich sagte ihr, dass ich ihr dann auch die Lösung ihres und aller Probleme vorlesen könne. Und dann las er:
„Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde! Wasche mich, dass ich schneeweiß werde! Lass mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast! Verbirg dein Antlitz von meinen Sünden und tilge alle meine Missetat! Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“
Dann erklärte er noch einmal: Das ist nicht einfach eine schöne poetische Rede, sondern das hat Gott viel gekostet. Er hat seinen Sohn Jesus Christus für ihre und meine und aller Weltsünden ans Kreuz schlagen lassen.
Und dann fragte er sie: „Können Sie das glauben?“ Sie bejahte es still. Er sprach ihr den Segen zu und sagte:
„Der Herr segne dich und behüte dich,
er lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,
er erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir seinen Frieden.“
Meine Sorge war, dass sie das vielleicht als eine therapeutische Beruhigung missverstehen könnte. Darum sagte ich ihr noch den wichtigsten Satz, der in der Bibel steht:
„Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzig geborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Dann war die nächste Station erreicht, und die Dame mir gegenüber machte sich zum Aussteigen bereit. Wir hatten nur eine halbe Stunde Zeit miteinander gehabt.
Fast schon im Weggehen drehte sie sich um und bat um meine Anschrift, die ich mangels eines Zettels schnell auf einen Bierdeckel schrieb.
Danach dachte ich im Gebet gelegentlich an dieses außergewöhnliche Zusammentreffen. Nach einigen Wochen bekam ich einen Brief, in dem die Dame die Fortsetzung nach unserem Gespräch schilderte.
Sie sei ausgestiegen und sofort in eine Buchhandlung geeilt, um sich eine Bibel zu besorgen. Eigentlich hätte sie wieder nach Hause fahren wollen, aber dann habe sie doch die Zusammenkunft aufgesucht, während sie unterwegs war.
Im Kreis ihrer Freunde haben sie dann von unserem Zusammentreffen berichtet, und alle seien sehr betroffen gewesen. Mit ihrer ebenfalls dort anwesenden Schwester habe sie später die Begegnung noch einmal in allen Einzelheiten besprochen und ihr dann auch von dieser Bibelstelle berichtet, die der Fremde in der Bahn ihr so nachdrücklich noch einmal ans Herz gelegt habe.
Sie wissen nur nicht mehr genau, wie die Stelle genau laute. Sie beginne etwa so: „So sehr hat Gott die Welt geliebt…“ Aber dann habe sie schon zu stocken begonnen. Ihre Schwester aber habe ganz ungehindert den Satz zu Ende geführt:
„… damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Buße ist ein fröhliches Geschäft.
Herr Jesus Christus, danke, dass du gestorben bist am Kreuz, um uns diese Vergebung zu ermöglichen, zu schenken und dieses Wunder wahrzumachen, dass wir vor dir, dem heiligen Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, bestehen dürfen und nicht vergehen müssen, weil wir gekleidet sind in dem Mantel deiner Gerechtigkeit.
Lieber Jesus, danke, dass das gilt und dass das, was Johannes damals schrieb, auch ewig wahr ist. Danke, Herr, für jeden von uns, den du gerufen hast. Hilf, hilf, dass noch viele Menschen erkennen, dass sie diese Befreiung brauchen von ihrer Schuld und dass es nichts Schöneres gibt, als deine Verheißung zu hören: „Dir sind deine Sünden vergeben.“
Wir brauchen dich, und wir beten dich an als unseren Herrn und Erlöser. Amen.