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Hiobsbotschaften

Mit Glücksbotschaften lässt sich leben. Aber wie lässt es sich mit Hiobsbotschaften weiterleben? Wenn Gott auf seinen Sohn blickt, hat er mich im Auge, wenn ich vom Unglück gebeutelt werde. Er lässt mich nicht aus den Augen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Glück hatte er. Glücklich wurde er. Ein Glückspilz der Sonderklasse, dieser Herr Hiob aus dem Lande Uz.

Eine Viehzählung war ange­sagt. Angestellte marschierten los und schrieben sorgfältig auf. Am Schluss wurde zusammengezählt und folgende Summe dem Chef gemeldet: 7000 Schafe, 3000 Kamele, 100 Rinder und 500 Eselinnen, das liebe Federvieh noch gar nicht mitgerechnet. Ein Riesen­ding. Hiob gewann ein Vermögen. Ein Riesenglück. Hiob erlebte ein Wirtschaftswunder.

Mit Glücksbotschaften lässt sich leben. Ein Kindbett stand bevor. Frauen eilten durch das Haus und beruhigten den Vater. Schließlich wurde ihm ein schreiendes Bündel auf den Arm gelegt, ein herziges Kindlein, ein erstgeborener Sohn. Und übers Jahr war es wieder ein Sohn, und dann noch ein Sohn, und dann noch ein Sohn. Am Schluss waren es sieben Söhne und drei Töchter. Ein Riesending. Hiob gewann eine Familie. Ein Riesenglück. Hiob erlebte Elternfreuden.

Mit Glücksbotschaften lässt sich leben. Eine Bürger­ehrung wurde angekündigt. Ratsherren erschienen auf dem Gutshof - so stelle ich mir das vor -, und hefteten ihm das Landesverdienst­kreuz ans Revers. In der Lederurkunde hieß es: Dem frommen, recht­schaffenen, gottesfürchtigen Mann, der das Böse meidet. Ein Riesending. Hiob gewann an Ansehen. Ein Riesenglück. Hiob erlebte Publicity.

Mit Glücksbotschaften lässt sich leben, auch heute. Wenn mir die Bank mitteilt, dass sie 1.000 Mille meinem Konto gutge­schrieben hätte, dann ist das ein Riesending. Und wenn mir meine sieben Kinder schreiben, dass ich jetzt 49 Enkel hätte, dann ist das ein Riesenglück. Und wenn mich der Ministerpräsident wissen lässt, dass ich als nächster Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande vorgesehen sei, dann bin ich ein Glückspilz der Sonder­klasse.

Mit Glücksbotschaften lässt sich leben.

Aber wie ist es denn, wenn einer Unglück hat, wenn einer unglücklich wird, ein Unglücksrabe der bedauernswerten Sorte, so wie dieser Herr Hiob aus dem Lande Uz?

Ein Krieg brach aus. Grenznachbarn fielen ein und verwüsteten das Land. Schließlich war der gesamte Viehbestand geraubt oder getötet. Hiob verlor ein Vermögen. Ein Riesenunglück. Hiob erlebte einen Bankrott.

Wie lässt sich mit Hiobsbotschaften weiterleben? Ein Unwetter brach herein. Der Hurrikan mähte Häuser nieder und zog einen Todesstreifen durch das Land. Alle Söhne und Töchter wurden tot aus den Trümmern geborgen. Hiob verlor seine Familie. Ein Riesenunglück. Hiob erlebte das Todesgrauen.

Wie lässt sich mit Hiobsbotschaften weiterleben? Eine Krankheit stellte sich ein. Böse Ekzeme traten auf und verwandelten den Körper in einen Eiterhaufen. Mit einer Scherbe bekämpfte er den schrecklichen Juckreiz. Hiob verlor seine Gesundheit. Ein Riesenunglück. Hiob erlebte die Krankheit.

Wie lässt sich mit Hiobsbotschaften weiterleben, auch heute? Wenn mir gesagt wird, dass meine Wohnung ausgebrannt ist, oder wenn mir mitgeteilt wird, dass mein Sohn mit dem Auto tödlich verunglückt ist, oder wenn mir eröffnet wird, dass meine Geschwüre unheilbare Karzinome sind, was dann? Wie gehe ich damit um? Wie werde ich damit fertig?

Wie lässt sich mit Hiobsbotschaften weiterleben?

Unser Text, nur ein Fetzen, ein Fragment, ein Bruchstück aus einer längeren Rede, enthält keine direkte Antwort, aber doch einen deutlichen Hinweis über das Alte Testament hinaus auf den, der die Antwort auf alle Fragen ist.

Die Christusbotschaft allein hilft Hiobsbotschaften zu überleben. Und hier lautet sie:

1. Gott blickt hin

Hiob sieht seine Herden. Auf den sattgrünen Wiesen und meilenweiten Koppeln werden sie gehütet. Schafe und Rinder, Kamele und Esel stehen in bestem Futter. Und auf einmal jagen Banditen über die Zäune, stechen und töten, stehlen und rauben. Dann sind die Weiden leer oder von Kadavern übersät. Und Hiob klagt: Gott sieht's doch nicht.

Er sieht seine Kinder. Im Haus des Ältesten sind sie zu einer Familienfete zusammengekommen. Gläser werden angestoßen und Lieder gesungen. Und auf einmal fegt ein Sturm unters Dach und macht alles platt. Dann ist das Kinderhaus zum Massengrab geworden. Und Hiob klagt: Gott sieht's doch nicht.

Er sieht sich selber. Im Spiegel begegnet ihm ein Kraftprotz und Energiebündel. Und auf einmal ist die Gesundheit weg. Dann leidet er entsetzlich. Hiob klagt: Gott sieh's doch nicht.

So wie Heinrich Heine:

"Es sehen mich an unheimlich blöde,
die Larven der Welt, der Himmel ist öde.
Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.
Ich gehe gebückt im Wald herum."

Heine klagt: Gott sieht's doch nicht.

So wie viele von uns auch klagen, wenn sie den Verlust einer Sache sehen, die ihnen so wichtig war, wenn sie den Verlust einer Person sehen, die ihnen ans Herz gewachsen ist, wenn sie den Verlust ihrer Gesundheit sehen: Ver­giss es! Gott sieht's doch nicht. Gott weiß es nicht. Gott blickt gar nicht hin.

Aber das ist die Botschaft des Satans, der im Hiobbuch eine Hauptrolle spielen will, nicht die des Christus. Denn die sagt uns: Gott tut seine Augen auf, das heißt, er lässt seine Leute nicht aus dem Auge, ja er hat ein Auge auf sie geworfen, weil er in seine Menschheit verliebt ist. Und damit er nicht nur aus der Ferne zuschauen muss, ist er in Jesus ganz nahegekommen, zu den Beladenen, die unter ihrem Packen zusammengebrochen sind, zu den Kranken, die unter ihrem Leiden stöhnten, zu den Trauerenden, die unter ihrem Verlust den aufrechten Gang verloren.

Es gibt nichts, was außerhalb des Gesichtsfeldes Jesu liegt. Ein Kind, das mit seiner Verwundung zur Mutter läuft, erfährt Erste Hilfe dadurch, dass sie es sieht. Werdet wie die Kinder! Glaubt es, was hier steht: "Du tust deine Augen auf." Begreift es, wie Jeremia es formuliert: "Deine Augen stehen offen über allen Wegen." Wisset es bei jedem Schmerz: Gott sieht es. Gott weiß es. Gott blickt hin.

Dann sagt die Christusbotschaft ein Zweites:

2. Gott blickt durch

Hiob ist mit der Auskunft, dass Gott es sieht, nicht überm Berg. Auch seine drei Freunde, die angereist kommen und mit ihm lange reden, sind leidige Tröster. Nach dem Klagen kommt das Fragen.

Hiob bekommt die Viehweiden nicht aus dem Kopf. Dort, wo prallvolles Leben war, das die Hirten kaum bändigen konnten, herrscht Totenstille. Dann fragt er: "Gott, warum?" Hiob bekommt die Kinderhäuser nicht aus dem Sinn. Dort wo Singen und Lachen aus den Fenstern drang, hört man keinen Ton mehr. Dann fragt er: "Gott, warum?" Hiob bekommt seine vorigen Tage nicht aus dem Gedächtnis. Dort wo Kraft und Gesundheit war, ist Schmerz und Krankheit. Dann fragt er: "Gott warum?"

So wie viele von uns auch fragen. Sie bekommen vielleicht den Arbeitsplatz nicht aus dem Kopf, den sie verloren und trotz vieler Bewerbungen nicht wieder erhalten haben. "Warum, Gott, warum?" Sie bekommen den Mann, die Frau, das Kind nicht aus dem Sinn, das sie hergeben mussten. "Warum, Gott, warum?" Sie bekommen die früheren Tage nicht aus dem Gedächtnis, die so sonnig und unbeschwert waren. "Warum, Gott, warum?"

Liebe Freunde, eine vordergründiges Darum ist uns nicht gegeben, aber der dunkle Hintergrund wird aufgehellt. Jesus weist darauf hin, dass wir nicht mehr im Paradies sind. Wegen unserer Sünde ist die Tür ins Schloss gefallen. Wir leben jenseits von Eden. Deshalb müssen wir mit den Dornen und Disteln fertig werden, die auf dem Acker unseres Lebens wuchern und uns blutig stechen. Wir leben jenseits von Eden. Deshalb müssen wir unter Schweiß und Tränen unser Brot verdienen, das uns nicht als ge­bratene Tauben in den Mund fliegt. Wir leben jenseits von Eden, deshalb müssen wir altern, deshalb brauchen wir die Altersbrille, das Hörgerät, den Stock, deshalb können wir trotz Kosmetik und Medikamenten den Verfallsprozess nicht aufhalten, deshalb fliehen wir wie ein Schatten und bleiben nicht.

Wir sterben nicht bloß an Altersschwäche oder am Herzinfarkt oder am Krebs. "Das macht dein Zorn, das wir so vergehen und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen", erklärt der Psalmist. Paulus fügt hinzu: "Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen." Solange wir auf dieser Erde leben, die von dem Fluch der Sünde, von den Folgen des Sündenfalles gezeichnet ist und die wir so zugerichtet haben, wird uns dies alles wie ein Schatten folgen.

Gott blickt nicht nur hin. Er blickt auch durch.

Aber müssen wir mit diesem Schatten immer leben? Müssen wir mit dieser Belastung selber fertig werden? Müssen wir mit dieser Schuld in die Ewigkeit?

Die Christusbotschaft erreicht ihren unüberbietbaren Höhepunkt, wo sie uns das Dritte sagt:

3. Gott blickt weg

Aber nicht so, wie es Alexis Sorbas sagt, eine griechische Romanfigur bei Nikos Kazantzakis:

"Ich stelle mir Gott als großen Gentleman vor. Er wird doch nicht in den Unvoll­kommenheiten der Menschen herumstochern. Diese ganze schmutzige Wäsche, damit befasst er sich nicht. Weg damit!, sagt er. Und wie die armen, kurzlebigen Menschen gegenüber moralischen Ansprüchen in der Kreide stehen, das interessiert ihn nicht. Er nimmt einen großen Schwamm und wischt das ganze Sündenregister weg. Es wäre ihm lästig, sich mit solchen Lappalien zu befassen."

Aber Hiob sagt es anders als Alexis Sorbas. Ihm ist ein anderer Gott begeg­net. Nur im Roman ist Gott der generöse Gentleman, der sich nicht mit Lappalien befasst und lässig mit großem Schwamm hantiert. Im Hiobbuch tritt ein rechter und gerechter Gott auf, der jeden vor sein Angesicht ruft: "Kommt wieder Menschenkinder." Dann wird es keinen geben, der vor ihm ausbüchsen kann. Dann wird es keinen geben, der sein Leben nicht vor ihm zu verantworten hat.

Und dann wird er auch meinen Namen rufen. Und dann werde ich aufsteh­en und erkennen, dass nicht alles Lug und Trug war, was ich bisher geglaubt. Dann werde ich vor ihn hintreten und davor zittern, wie er mein Leben bilanziert. Dann werde ich mit vielen schreien: "Wer wird mich erlösen von dem Leib dieses Todes?" Dann werde ich nur eine einzige Hoffnung haben, nämlich die, dass Gott weg­blickt und dafür Christus anblickt, der sagt: "Ich übernehme die Verantwortung für ihn, Vater. Dein unbestechliches Urteil fällt auf mich. Schau ihn so an, als wäre er rein. Nimm ihn für gerecht." Um Jesu willen lässt Gott Gnade vor Recht ergehen. Ein Freispruch trotz Beweisen.

Das ist die Erkenntnis der Refor­mation. Es wäre verrückt, von ihr abzurücken. Wenn Gott auf seinen Sohn blickt, hat der mich im Auge, wenn ich vom Unglück gebeutelt werde, dann behält er mich im Auge, wenn ich vom Leid getroffen werde, dann lässt er mich nicht aus den Augen, wenn ich krank werde und sterben muss. "Als ich das begriffen hatte", schrieb Martin Luther, "da tat sich mir der ganze Himmel auf."

Blicken Sie's doch auch, dass Gott hinblickt, durchblickt, dann aber auch wegblickt. Sie können unter einem offenen Himmel nach Hause gehen.

Amen