0:00:00
0:19:50

Von der Schwäche der Stärke und von der Stärke der Schwäche. Apostel Paulus hat beides erlebt. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Früher hieß das “toll”, wenn man etwas ausgezeichnet oder fabelhaft fand. Dann tauchten Begriffe wie “klasse” oder “spitze” auf. Heute heißt das “stark”.

Ich kann zum Beispiel im sportlichen Bereich stark sein. Wenn ich mit meinen Skiern die Planai bei Schladming herunterflitze, jede Kurve und Bodenwelle mit Bravour nehme, im unteren, schwierigeren Teil noch den Stock verliere und trotzdem unter einer Minute und 56 Sekunden bleibe, gehöre ich zu den Starken im Sport. Wenn ich schnell bin, dann bin ich stark.

Oder ich kann im schulischen Bereich stark sein. Wenn ich Cicero und Caesar wie die Zeitung lese, jede mathematische Aufgabe zum Zeitvertreib löse, Geschichtsbücher wie Krimis verschlinge und mir jedes Jahr einen Preis abhole, gehöre ich zu den Starken in der Schule. Wenn ich klug bin, dann bin ich stark.

Oder ich kann auch im musikalischen Bereich stark sein. Wenn ich das absolute Gehör habe, mühelos das hohe C erreiche, auf dem Klavier nur Liszt und Chopin spiele und im Orchester hinterm ersten Pult sitze, gehöre ich zu den Starken in der Musik. Wenn ich groß bin, dann bin ich stark.

Und hier sagt einer: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. Er gibt es sogar schriftlich: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. Paulus formuliert es als Spitzensatz seiner ganzen Theologie: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Man hört sofort die verschiedenen Einwände. Der eine erklärt kurz und bündig: Das ist doch Unsinn! Wer noch mit Stemmbogen und Pflug die Planai hinunterfährt, ist nicht weltmeisterschaftsverdächtig. Wer schon beim kleinen Einmaleins ins Stolpern gerät, ist ein Schwachmathikus. Wer Dur mit Moll und Presto mit Largo verwechselt, ist musikalisch unterm Strich. Wer schwach ist, ist nicht stark, und wenn einer stark ist, dann ist er nicht schwach. Auf Ungereimtheiten lässt sich kein Reim machen.

Aber Paulus kennt diesen Ein­wand. Schon in seinem ersten Brief an die Korinther schlägt er sich damit herum. Auf die Frage nach Sinn oder Unsinn kontert er mit dem Hinweis, dass der breite Querbalken, an dem Jesu hing, der breite Querstrich durch unsere ganze Logik sei. So wenig der Ozean in eine Waschschüssel zu fassen ist, so wenig ist das Evangelium in eine Gehirnschale zu packen. Der Satz ist nicht unüberlegt hingehauen: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Der andere wendet ein: Das ist doch Schwachsinn! Wer als 25. durchs Ziel fahrt, steht nicht auf dem Treppchen. Wer vier mal vier mit dem Taschenrechner löst, holt keinen Preis. Wer Franz Schubert mit Franz Lehár verwechselt, sollte nicht Musik studieren. Die paulinische Formel ist nicht zu begreifen. Aber der Apostel hat auch an andern Stellen anstößig und unverständlich geschrieben. Joachim von Floris, der mittelalterliche Mystiker, sagte mit Recht, dass dort, wo Paulus rätselhaft bleibe, die größten Weisheiten verborgen lägen. Der Satz ist demnach eine Fundgrube: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Ein Dritter mag noch den Einwand erheben: Das ist doch eine Masche! Ein Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen, erklärt, dass sie ihm zu sauer sind. Einer, der groß herauskommen will, aber nur ein Stippich ist, erklärt die Verlierer als Sieger. Eine Fünf ist jetzt sehr gut und eine Eins ist mangelhaft. Aber dieser Fuchs kommt an die Trauben heran. Einer, der Kleinasien und Griechenland im Fußmarsch durchmessen hat, einer, der mit den blitzgescheiten Köpfen auf dem Areopag disputieren konnte, einer, der im Kyrie, Gloria, Sanctus, Benedictus und Agnus dei daheim war, der musste sich mit seinen sportlichen, schulischen und musikalischen Fähigkeiten nicht verstecken. Paulus war spitze, und trotzdem kam er nach seinen Erfahrungen im Glaub­en zur Überzeugung: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Der Apostel spricht also von der Schwäche der Stärke und von der Stärke der Schwäche. Beides hat er erlebt. Beides hat er durchlitten. Beidem sollten wir jetzt nachdenken.

1. Die Schwäche der Stärke ist, dass sie auf menschliche Kraft baut

Das war die Erfahrung seiner ersten Lebenshälfte. Von Tarsus bis Damaskus ging es kräftemäßig bergauf. In der Mitte seines Lebens saß er hoch zu Ross. Mit der Kraft der Familie hat es angefangen. Der Stolz von Juden, die gleichzeitig das römische Bürgerrecht besaßen, wurde ihm in die Wiege gelegt. Der Name “Saul” sollte auf den großen Stammvater des Benjamingeschlechts hinweisen, von dem man wusste, dass er “eines Hauptes länger war als alles Volk”. Also kein Mr. Nobody wuchs in der Provinz heran, sondern ein selbstbewusster junger Mann reifte in der Stadt. Dann kam die Kraft des Geistes hinzu. In Tarsus, dieser Drehscheibe von Kunst, Wissenschaft und Religion im Vorderen Orient, atmete er jüdische und heidnische Kultur. Neben der Schule blieb ihm noch Zeit, das Zeltmacherhandwerk zu erlernen. Auf der Universität in Jerusalem studierte er bei Starprofessor Gamaliel, der die studentische Jugend in seinen Bann schlug. Über ihn stieß Saulus auf die Kraft der Religion. Sie ermittle exklusive Glaubenserfahrungen, die paradiesisch schön seien. Erst vier Rabbinen hätten den dritten Himmel erreicht. Er wollte der Fünfte sein - und er schaffte es. Ohne Joint, ohne Schuss, ohne Stoff war er high. Für kurze Zeit sonnte er sich in der himmlischen Farbenwelt des erweiterten Bewusstseins. Saulus ein seltener Ekstatiker.

Wo aber so viel Kräfte zusammenkamen, da war der religiöse Kraftmaier, der fromme Supermann, der bewundernswerte Überflieger - und gleichzeitig der stolze und hochmütige und eifersüchtige Zeitgenosse. Er wollte noch stärker werden. Er konnte keinen Starken neben sich dulden. Er musste das Recht des Starken durchsetzen. Deshalb stand Saulus dabei, als Stephanus vom Jerusalemer Pöbel fertiggemacht wurde. Er nahm selbst die Verfolgung der Christensekte in die Hand. Der Starke wurde zum Bluthund bei der Christenhatz.

So weit ufert unsere Kraft aus, wenn wir auf sie bauen. Sie liebt das Ich und verachtet das Du. Sie jubelt die eigene Person hoch und hackt auf dem Nächsten herum. Menschliche Kraft baut immer am Denkmal der eigenen Persönlichkeit und am Grabe des Andern. Das ist ihre Schwäche.

Damit ist nichts gegen die Familie gesagt. Wir brauchen Eltern, die Wert auf eine rechte Erziehung legen. Die gute Kinderstube ist nicht überflüssig geworden. Damit ist auch nichts gegen die Kraft des Geistes gesagt. Wir brauchen Schulen und Universitäten, die Wert auf rechte Bildung legen. Ohne Lernen geht es nun einmal nicht. Und damit ist auch nichts gegen die Kraft der Religion gesagt. Wir brauchen Maßstäbe und Normen und Orientierungspunkte.

Aber alle familiäre, geistige und religiöse Kraft ist letztlich menschliche Kraft, die gefährliche Tendenzen entwickelt. Sie will stärker werden. Wenige sind mit dem zufrieden, was sie haben. Sie kann keinen Starken neben sich dulden. Die Eifersucht ist ein böses Krebsgeschwür. Sie muss das Recht des Starken durchsetzen. Ohne Ellenbogen und Fäuste geht das nicht. Nur Topleute sind ge­fragt, Virtuosen, Favoriten, Idole. Deshalb muss mein Stern aufgehen. Deshalb muss der andere weg vom Fenster. Deshalb muss ich stark sein. Wenn ich kein Star werde, habe ich das Leben verfehlt.

Genau das aber ist der Punkt: Die Schwäche der Stärke ist, dass sie auf menschliche Kraft baut. Anders das Zweite:

2. Die Stärke der Schwäche ist, dass sie der göttlichen Kraft traut

Das war die Erfahrung seines zweiten Lebensabschnitts. Von Damaskus bis Rom ging es kräftemäßig bergab. Am Schluss seines Lebens saß Paulus tief im Kerker. Mit dem Zerbruch seiner Überzeugung hat es angefangen. Mitten auf einer Dienstreise traf ihn das Wort wie ein Hammer: “Saul, Saul, warum verfolgst du mich?” Er taumelte, stürzte vom hohen Ross und blieb im Staub liegen. Vor den Toren der Stadt lag ein Wrack, ein Trümmerhaufen, ein Totalschaden des alten Menschen.

Dann kam der Verlust des Selbstbewusstseins hinzu. Als er in Korinth zu predigen anfing, rümpften die Leute die Nase und bemerkten: Da haben wir schon bessere Redner gehört. Bei Apollos wird man mitgerissen und hört mal was Vernünftiges. Aber der Paulus wirkt wie eine Schlaftablette. Seine Rede ist ohne Gewicht. Mit Briefen machten sie ihn zur Schnecke.

Schließlich verlor er sogar seine Gesundheit. Ein Pfahl im Fleisch quälte ihn Tag und Nacht. Ob es eine chronische Krankheit körperlicher, seelischer oder psychosomatischer Art war, weiß niemand. Wer will schon einem längst verstorbenen Patienten die Diagnose stellen? Jedenfalls lag eine schwere Last auf seinem Leben. Oft genug meinte er darunter zusammenzubrechen. Dreimal ging er auf die Knie und flehte: Lieber Gott, ich kann nicht mehr. Das hindert doch deinen Dienst. Nimm es weg! Und Gott hat es nicht weggenommen. Nichts war’s mit Kraft und Stärke und Selbstbewusstsein. Paulus litt an Schwäche.

So wie ein Martin Luther, der seit seinem 44. Lebensjahr ein kranker Mann war. So wie ein Theodor Fliedner, der sich jahrelang mit einem Brustleiden herumquälte. So wie ein Heinrich Wiechern, der sein Kopfweh überhaupt nie losbekam. So wie Charles Haddon Spurgeon, der nur noch mit zwei Stöcken auf die Kanzel kam. So wie ein Ludwig Hofacker, der von Kindheit an fix und fertig war und mit 30 Jahren starb.

Schwachheit ist die Berufskrankheit in Jesu Dienst und gleichzeitig ihre Kraftzentrale. Denn Gottes Kraft hat die Eigenschaft, dass sie in den Schwachen mächtig ist. Erst in den Schwachen kommt sie zum Zuge, weil sie durch keine menschliche Gegenkraft geschmälert wird. In menschlicher Schwach­heit erreicht sie den höchsten Effekt und zeigt ein Maximum an Wirkung. Also erst wenn wir selber nicht mehr stark sein wollen, erst wenn wir leer und ausgepumpt am Boden sind, erst wenn wir schwach sind, dann sind wir stark.

Das gilt für Jesus selbst. Ein Dorn wurde ihm durchs Fleisch getrieben. Am Pfahl hing er wie ein Verbrecher. Der Pfahl im Fleisch war bei ihm blutige Wirklichkeit. In Jesaja 53 lesen wir: “Er war voller Schmerzen und Krankheit. Er war der Allerverachteste und Unwerteste, so dass man sein Ange­sicht vor ihm verbarg.” Und gerade so war Gottes Kraft und Gottes Gegenwart in ihm.

Das gilt für Jesu Leute bis heute. Ein Theologe zog als Resümee einer Kirchengeschichte: “Unser Gott hat seine größten Taten quer durch die Jahrhunderte durch Menschen getan, die körperlich ein Wrack waren.”

Die Stärke der Schwäche ist die göttliche Kraft. Sie ist eine Tragkraft, die auch bei größten Belastungen durchhält. Sie ist eine Stoßkraft, die nach vorne geht, auch wenn der Widerstand groß ist. Sie ist eine Lebenskraft, die auch dann nicht bricht, wenn unsere letzten Kräfte brechen.

Wie man zu solcher Kraft kommt? Welche Schritte dafür getan werden müssen? Schauen wir noch einmal auf diesen Mann. Er hat schon Schritte getan, aber Schritte, die er besser nicht getan hätte. Es waren nicht Schritte auf Christus hin, sondern von Christus weg, ja nicht nur von Christus weg, sondern noch schlimmer, gegen Christ­us hat er Schritte unternommen. Als Geheimdienstler gegen die Christen reiste er durchs Land. Aber obwohl er gegen Christus war, ist er Christ geworden. Das ist Gnade. Eine Hand hat nach ihm gegriffen und ihn nicht wieder losgelassen. Das ist Gnade. Gott selbst hat den Kaputten mit seiner Kraft ausgerüstet. Das ist Gnade. Dafür kann man nichts tun. Dafür kann man nichts unternehmen. Dafür kann man nichts bezahlen. Gnade ist umsonst, Gnade ist Basis, Grund und Halt, Gnade ist er selbst im Verbund mit uns. “Lass dir an meiner Gnade genügen.”

Liebe Freunde, wer von uns kann sich hier nicht unterbringen? Wer hat nicht seinen Pfahl im Fleisch? Wer leidet nicht an einer spezifischen Hemmung oder Behinderung? Vielleicht ist es eine körperliche Krankheit, Galle, Magen oder Herz. Vielleicht ist es eine psychische Störung, ein Knacks, eine Neurose, ein Komplex. Vielleicht ist es die Veranlagung zur Migräne, zur Schwermut, zur Depression. Mehr als dreimal haben Sie zu Gott geschrien: “Herr, dir ist doch alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben. Nimm mir meine Blockierung weg. Du kannst es!”

Hören Sie heute diese Antwort: “Lass dir an meiner Gnade genügen.” Gnade ist genug. Gnade rüstet die Schwachen mit Kraft aus. Mehr als die Gnade brauchen wir nicht.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]