Abschiednehmen ist schwer. Wir wissen das, liebe Gemeinde. Abschied von einem netten Besuch. Auf dem Bahnhof schüttelt man noch einmal die Hände."Es war schön, dass Du da warst!" Die Zeit verging wie im Flug. Die gemeinsamen Stunden reichten bei langem nicht, um alles durchzuplaudern. Kein Hauch von Misstrauen und keine Spur von Missverständnis war dazwischen. Jetzt mahnt der Lautsprecher: Einsteigen und Türen schließen! Ein kurzer Händedruck durchs Fenster: "Lass Dich einmal wiedersehen!" Dann steht man winkend auf dem Bahnsteig, bis der Zug verschwunden ist. Abschiednehmen von einem netten Besuch ist schwer. Oder Abschied von einem guten Freund. Auf dem Pausenhof klopft man sich auf die Schulter. "Gratuliere zum Abi!" Dreizehn Jahre lang drückte man nebeneinander die Schulbank, erduldete beieinander die Lehrer, erlitt miteinander die Sechser und kam bei alledem nie hintereinander. Jetzt ist die Reifeprüfung geschafft. Der eine muss zum Bund, der andere geht auf die Uni. "Laß Dir’s gutgehen!" Jeder zieht seine eigene Straße. Abschiednehmen von einem guten Freund ist noch schwerer. Oder Abschied von einem lieben Nächsten. Auf dem Friedhof wischt man sich die Tränen aus den Augen. "Warum lässt Du mich zurück?" Eine Zeit ohne ihn ist gar nicht denkbar. Er hat die Jahre durchsonnt mit seiner Gegenwart. Geteiltes Leid ist halbes Leid und gemeinsames Glück ist doppeltes Glück. Jetzt gilt aber: Leben ist Einsamsein. "Vielen Dank für alles!" Der Sarg gleitet langsam an den Seilen hinunter ins offene Grab. Abschiednehmen von einem lieben Nächsten ist am schwersten.
Wir wissen das, aber wissen wir auch, dass die Jünger Jesu auf dem Lichthof eines Jerusalemer Hauses nicht nur einem netten Besuch nachwinkten, der auf einer Stippvisite auch bei ihnen hereinschaute und kurz Grüß Gott sagte, dass sie nicht nur einem guten Freund nachtrauerten, der mit ihnen ein Stück Wegs ging und den Beutel geteilt hat, dass sie nicht nur einem lieben Nächsten nachweinten, der ihr Leben durchsonnt und durchwärmt hat, sondern dass diese Jünger ihren Meister verabschiedeten, ohne den sie ein Nichts waren. Wegen ihm hatten sie ihren Beruf an den Nagel gehängt. Für ihn setzten sie ihre Existenz aufs Spiel. Auf ihn hielten sie große Stücke. Neben ihm kam Sinn in ihr Tagwerk. Zu ihm drängte ihr ganzes Denken, aber Jünger ohne Meister sind Waisenknaben. Christen ohne Christus sind Hinterbliebene. Gemeinde ohne Jesus sind Trauergesellschaften. Kirchen ohne den Herrn sind Museen. Kein Wunder, dass die Jünger schwiegen. Niemand brachte den Mund auf. Stummer Abschiedsschmerz bewegte ihr Herz. Pfingsten begann für sie nicht als lieblich Fest, wie Goethe meinte, sondern als traurig Fest. Pfingsten beginnt auch heute nicht als Ausflugstag, sondern als Abschiedstag. Wer also mit seinem Schmerz hergekommen ist, mit seinem Weh um einen Menschen, mit seiner Sehnsucht nach einem Freund, mit seiner Trauer um einen Angehörigen, der ist dem Geheimnis von Pfingsten besonders nahe. Denn Jesus sagt: Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen. Mein Weggehen ist kein Fortgehen, sondern ein Hingehen zum Vater. Er schickt euch jetzt den Heiligen Geist. Und der ist kein billiger Ersatz, kein seltsames Fluidum, kein unbekanntes Es, sondern ein Er, die dritte Person der Heiligen Dreieinigkeit, die mit dem Vater und dem Sohn von Ewigkeit her in der intertrinitarischen Gemeinschaft lebt. Pfingsten ist Ankunft dieses guten Geistes. Deshalb müssen wir Jesus nicht verabschieden, sondern können den Geist willkommen heißen. Deshalb müssen wir unsere Lage nicht beweinen, sondern können uns über sie freuen. Deshalb müssen wir nicht von allen guten Geistern verlassen, sondern können vom Heiligen Geist erfüllt sein. Wir brauchen nur darum zu bitten, herzlich und dringlich: Komm Heiliger Geist, Herre Gott. Er ist es nämlich, und das ist die Botschaft dieser Abschiedsworte Jesu, der den Zeitgeist vertreibt, den Schwarmgeist verdrängt und den Ungeist vernichtet.
1. Der Heilige Geist vertreibt den Zeitgeist, der von außen auf uns zukommt. Dieser will uns weismachen, dass unsere Lage keineswegs so übel sei und es genug Mittel und Wege gäbe, um uns aus der Misere zu helfen. "Ich glaube an den Menschen. Ich glaube an den Heiligen Geist des Fortschritts", so hat Ludwig Feuerbach diesen Zeitgeist umschrieben. In der misslichen Situation des verlorenen Sohnes etwa wäre er folgendermaßen aufgetreten. Dieser junge Mann war ja auch verlassen, von Nächsten verlassen, von Freunden verlassen, von Kumpels verlassen, einfach gottverlassen war er. Schließlich hatte er sich bei einem Bauern als Hilfskraft verdingt. So saß er todeinsam draußen bei den Schweinen. Ich stelle mir nun vor, wie einer zu ihm kommt und sagt: Freund, du brauchst nur eine gute Therapie. Du musst den Chef annehmen, du musst die Tiere annehmen, du musst dich selber annehmen. Wer sich selbst annimmt, verändert die Lage. Dann kommt der andere und sagt: Freund, du brauchst nur die richtige Ideologie. Du musst die ungerechten Herrschaftsstrukturen durchschauen, du musst dich mit allen Schweinehirten aller Länder vereinigen, du musst den Landbesitzer beseitigen. Wer endlich aufmuckt, verbessert die Lage. Schließlich kommt noch ein Dritter und sagt: Freund, du brauchst nur eine kluge Philosophie. Du musst nicht alles so tierisch ernst nehmen, du musst heiter bleiben, du musst an den Sieg des Guten glauben. Wer guten Muts bleibt, erträgt die Lage. Der verlorene Sohn aber merkt: Diese Zeitgeister sind leidige Tröster. Was nützt mir die Selbstannahme, wenn mein Vater mich nicht mehr annimmt? Was nützt mir eine Veränderung der Verhältnisse, wenn das Verhältnis zu meinem Vater nicht mehr stimmt? Was nützt mir der Glaube an das Gute, wenn mein Vater mir nicht mehr gut ist? Ich brauch' doch letztlich keine Therapie und keine Ideologie und keine Philosophie, sondern eine Theologie, die mir sagt: Freund, der Abstand zum Elternhaus ist nicht so groß, als dass er nicht überwunden werden könnte. Der Zustand in der Fremde ist nicht so schlimm, als dass er den Weg zurück verbauen könnte. Du darfst dich aufmachen und zu deinem Vater gehen! Und eben diese Theologie wird hier verkündigt. Unser Hauptproblem ist nicht das Verhältnis zu uns selbst, zu unseren Fragen, zu unseren Kompliziertheiten, zu unseren Neurosen und Depressionen. Unsere Hauptschwierigkeit ist nicht das Verhältnis zu den andern, zu der Frau, zu den Kindern, zu den Kollegen. Unsere Hauptfrustration ist nicht das Verhältnis zur Welt, zur Unterdrückung, zum Hunger, zum Krieg. Das will uns nur der Zeitgeist vorgaukeln, um uns von der Hauptnot unseres Lebens abzulenken. Die Hauptnot aber ist unser Verhältnis zu Gott. Wir sind von ihm abgekommen. In der Fremde haben wir uns schmutzig gemacht. Ich bin’s nicht wert, dass ich dein Sohn heiße! Der Heilige Geist aber öffnet die Augen über Sünde und Gerechtigkeit, das heisst er öffnet die Augen für Jesus, der die Tür offen hält. Nun gibt es keine Ferne mehr, aus der man nicht zurückkönnte. Nun gibt es keine Tiefe mehr, aus der man nicht heraus könnte. Nun gibt es nichts mehr, was mich von ihm trennen könnte. Der Heilige Geist als Tröster sagt es gegen jeden Zeitgeist: "Wie du bist, so darfst du kommen und wirst herrlich angenommen."
2. Der Heilige Geist verdrängt den Schwarmgeist, der von innen zu uns kommt. Dieser nämlich will uns weismachen, dass es den Rückweg und Heimweg ins Vaterhaus gar nicht brauche. Das sei ein Umweg, weil es den Schnellweg zur Wahrheit gebe. Jeder ist gottunmittelbar! so hat ein Zeitgenosse diesen Schwarmgeist umschrieben. Schwärmerei hat also nichts mit einer bestimmten Gefühlsseligkeit zu tun. Man darf nicht an ein junges Mädchen denken, das über beide Ohren verliebt ist und nur noch für ihren Liebsten schwärmt. Man darf auch nicht an einen jungen Mann denken, der in jeder freien Stunde zum See eilt und nur noch vom Surfen schwärmt. Man darf nicht an einen alten Mann denken, der als Kenner Württemberger trinkt und nur noch von einem guten Tropfen schwärmt. Für etwas schwärmen tun wir ja alle. Aber hier geht es um keine Gefühlsseligkeit, sondern um eine Lebenswirklichkeit. Vielleicht ist sie mit dem Bild vom Bienenschwarm am besten zu umschreiben. Wenn den Bienen eine zweite Königin geboren wird und es ihnen in ihrem Stock zu eng wird, dann halten sie es nicht mehr aus in ihrer Begrenzung und schwärmen hinaus mit lautem Getöse. Der Schwärmer hält es nicht aus in der Begrenzung, die jedem Geschöpf auferlegt ist. Er will nicht wahrhaben, dass es Umkehr und Heimkehr braucht. Er will nicht anerkennen, dass es Buße und Vergebung bedarf. Er will nicht glauben, dass es Wahrheit und Leben nur durch Christus gibt. Er will überhaupt nicht glauben, sondern schauen, spüren, schmecken. Schwärmer haben angeblich eine Direktleitung zu Gott. Über sie erfahren sie, was wahr und recht und richtig und zukünftig ist. Schwärmer wissen es ganz genau und sind sich ihrer Sache unheimlich sicher. Kein Wunder, dass dieser Geist immer mehr begeistert und das Pfingstfest mancherorts zu einem gefährlichen Jubelfest umfunktioniert. Jesus aber hat bei seinem Abschied keine Direktleitung zu Gott versprochen, sondern eine Oberleitung durch den Heiligen Geist installiert. Seit Pfingsten fahren Christen mit Oberleitung. Von dort erhalten wir die Kraft, die uns auf der Bahn hält, die unser Herr vorausgegangen ist und die trotz manchen Kreuzungen am Ziel ankommen wird. Von dort erhalten wir die Energie, die wir brauchen, um auch bei Steigungen nicht stecken zu bleiben und bei Gefällstrecken nicht ins Rutschen zu kommen. Von dort erhalten wir das Licht, das hell macht, auch wenn unsere Lichter verlöschen und die Finsternis über die Welt hereinbricht. Von dort erhalten wir den Strom, der auch dann wärmt, wenn die Eiszeit der Herzen fortschreitet und die menschlichen Beziehungen auf Minusgrade absinken. Mit dem Kommen des Heiligen Geistes hat Gott die Energiefrage ein für allemal gelöst. Mögen Ölquellen versiegen, Atomreaktoren geschlossen werden, Wasserturbinen versagen, Gottes Kraftwerk steht. Es ist an uns, die hautnahe Verbindung zum Heiligen Geist nicht abreißen zu lassen und dadurch dem Schwarmgeist keine Chance zu lassen. Wir haben doch die Zusage: Bittet, so wird euch gegeben.
3. Der Heilige Geist verdammt den Ungeist, der von unten zu uns kommt. Dieser will uns weismachen, dass wir wie Gott sein werden, wenn wir uns nur nach ihm richten wollten. Es ist ein satanischer Geist, ein teuflischer Geist, ein Geist des Fürsten dieser Welt, von dem der Schrifttheologe Albrecht Bengel mit Recht warnte: Der Teufel ist ein hoher Geist. Es gibt gegenwärtig Gefahren für unsere Natur, wenn der Ausbeutung der Schöpfung kein Einhalt geboten wird. Es gibt Gefahren für unser Geld, wenn die Finanzen unseres Volkes nicht saniert werden können. Es gibt Gefahren für den Frieden, wenn der Brandherd im Nahen Osten nicht unter Kontrolle gebracht wird. Die Gefahr aller Gefahren aber ist der altböse Feind. Wie ihm allein begegnet werden kann, illustriert eine Notiz aus dem Reisetagebuch des Alten Israel. Das Volk lagert in der Wüste. Die Sonne brennt. Die Füße schmerzen. Die Wasserflaschen sind leer. Jede Stimmung ist auf dem Nullpunkt. Aber dann kommt das Schlimmste. Die Wüste lebt. Der Sand bewegt sich. Schlangen kommen von unten und beißen zu. Eine tödliche Bedrohung für das Volk. Und was tut Mose? Er verharmlost die Gefahr nicht, so wie Volksführer die Gefahren herunterzuspielen pflegen. Er bläst auch nicht zum Generalangriff auf die Reptilien, die aus allen Löchern kriechen. Mose rammt eilig ein Holz in die Erde und ruft: Wer dieses Zeichen sieht, soll leben. Menschen fixieren nicht mehr die Gefahr. Sie werden sich ab und blicken hinauf. Am Holz sind sie gerettet.
Das gilt heute auch noch. Das Böse von unten ist unsere tödliche Bedrohung: "Die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan" sagt die Bibel. Und was tut Gott? Er verharmlost die Gefahr nicht, indem er uns bittet, den Teufel zum Teufel zu jagen. Er bläst auch nicht zur Hexenjagd gegen alles Satanische in der Welt. Gott rammt einen Balken in die Erde. Daran nagelt er seinen Sohn fest. Damit richtet er den Fürst dieser Welt. Dadurch verdammt er den Ungeist. Wer das Kreuz Jesu sieht, soll leben. Und der Heilige Geist öffnet uns die Augen, dass wir unsere Rettung immer erkennen können. In dieser Situation weiß ich zwar ebenso wenig wie irgendein anderer, was morgen sein wird. Ich weiß auch nicht, wie die satanischen Versuchungen der Zukunft aussehen werden. Mir ist verborgen, warum Gott dort eine Lücke riss und wie er den Abschiedsschmerz lindern will. Das alles weiß ich auch nicht, auch nicht als Christ. Und doch ist mir die Sorge und die Angst und die Verzweiflung geheimnisvoll genommen, weil ich durch seinen guten Geist wissen kann: "Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen." Gelingen also ein Leben, das von Ungeistern, Schwarmgeistern und Zeitgeistern gefährdet, aber vom Heiligen Geist bewahrt ist.
Amen