Einführung in das Bild des guten Hirten
Dieser Sonntag Misericordias Domini, der Sonntag der Barmherzigkeit des Herrn, ist auch der Sonntag des guten Hirten. Ich möchte aus Hesekiel 34, dem Hirtenkapitel, lesen.
Es ist ein großer Anspruch, wenn wir im hauptamtlichen Dienst für Gott uns Pastoren als Hirten bezeichnen lassen. Gleichzeitig ist das nur ein Hinweis darauf, dass jeder gläubige Christ für andere ein Hirte sein sollte.
Ich glaube, dass man dieses Bild des Hirten nicht in irgendein modernes Bild umwandeln kann. Es muss ein Bild bleiben, das Fürsorge ausdrückt. Jeder Prophet geht im Namen Gottes mit den Hirten des alten Gottesvolkes Israel hart ins Gericht.
So heißt es: „Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett, kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete. Die Schafe wollt ihr nicht weiden, das Schwache stärkt ihr nicht, das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, das Verlorene sucht ihr nicht. Das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt, und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.“
Wir wundern uns heute nicht mehr, wenn Menschen davonlaufen, aus der Kirche austreten und Ideologien anhängen, die wie wilde Tiere sind. Sie irren umher auf allen Bergen und hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut. Niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.
Darum hört ihr Hirten das Wort des Herrn: „So wahr ich lebe“, spricht der Herr, „weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nicht nach meiner Herde fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten und meine Schafe nicht weideten, darum ihr Hirten, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde aus ihren Händen fördern. Ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.“
(Hesekiel 34)Beginn der Predigt: Abraham als Beispiel für Gottes Wirken
Wir wollen heute durch diesen Gottesdienst mit dem Lied Terstegens „Gott ruft noch“ beginnen, Nr. 271, und zunächst die ersten vier Verse singen.
Heute starten wir mit einer Reihenpredigt über das Leben Abrahams. Ich lese aus 1. Mose 12,1: „Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.“
Herr, öffne uns dein Wort und erkläre es uns. Amen.
Gestern lag wieder ein dickes Stück der Samstagszeitung vor mir. Das ist inzwischen fast ein Paket mit 136 Seiten. Früher waren es 124 Seiten, das ging noch, aber heute passt das kaum noch in den Briefkasten und bald auch nicht mehr in den Mülleimer – diese Flut an Anzeigen. Wenn man sie sich anschaut, muss man sagen: Das ist eine Traumwelt, die dort versprochen wird. Das Blaue vom Himmel wird herunter versprochen: Spitzenverdienste, sodass man sich überlegt, ob man nicht doch noch einmal den Beruf wechseln sollte. In kürzester Zeit Aufstieg bis zur Konzernspitze, geräumige Wohnungen in bester Lage. Und wenn irgendwo jemand eine alte Scheune am Dorfrand verkaufen will, dann inseriert er groß als „ausbaufähiger Herrensitz in bester Lage im Schwarzwald“.
Das ist die Sprache, die die Menschen hören wollen, auf die sie ansprechen. Es wäre furchtbar, wenn wir das Evangelium Gottes auf diese Weise zerreden würden, wenn wir es mit großen Worten hinausposaunen würden.
Ich freue mich, dass in der Bibel nie über die Fehler meines Lebens hinweggegangen wird. Dort wird nicht von riesengroßen Taten frommer Leute gesprochen, sondern man liest von Schuld, von Zweifeln und von Ratlosigkeit.
Es ist eine Sorge, ob wir manchmal nicht versuchen, das Evangelium unseren Zeitgenossen zu süffig zu machen, es irgendwie so unterzujubeln, und dabei gar nicht merken, dass das nicht geht. Das Evangelium wird nur von Menschen verstanden, die sich diesem Wort aussetzen, es hören, darüber nachdenken und die Konsequenzen nüchtern und hart ziehen.
Gottes Reden und die Entwurzelung Abrahams
Da war eben noch die Rede in diesem biblischen Erzählen und Berichten davon, wie die Menschen eine große technische Leistung vollbringen. Es gelingt ihnen noch einmal, dass all die Völker zusammen ein Werk schaffen – die Einheit der Weltvölker, einen Namen machen. Doch das ganze Werk wird plötzlich uninteressant, weil etwas viel Größeres geschieht. Etwas, das wichtiger ist und aufregender, das über die Länge der Zeit viel mehr Bestand hat: dass Gott mit einem Menschen redet und dieser Mensch hört.
Mehr als diese aufregenden Tagesereignisse, mehr als der Turmbau zu Babel und all das, was Menschen Großes schaffen können – ein Mensch hört, ein Mensch wird von Gott angesprochen.
Ich weiß nicht, ob wir jetzt all die anderen Erwartungen beiseitelegen können. Wir haben keinen großen Prediger, keine andachtsvolle, kultische Stätte hier. Wir reden nicht von den Weltproblemen. Jetzt ist nur eins da: dass Gott mit Ihnen reden will. Und das ist ein Ereignis von ganz großer Auswirkung. Gott macht alles neu.
Ich will das an drei Stellen aufzeigen. Erstens: Man wird entwurzelt.
Ich hatte mir das eigentlich heute Morgen anders vorgestellt. Ich wollte über den Segen an Abraham predigen. Doch je mehr ich mich in den letzten Tagen vorbereitet habe, desto mehr habe ich entdeckt: Gott segnet Menschen nicht, wenn er sie nicht vorher entwurzelt hat. Heute kann ich nicht über den Segen predigen, aber nächsten Sonntag dann.
Zuerst muss ich dieses einfach mal wiederholen und darlegen, wie es mit Abraham war. Das war eine furchtbare Sache für sein Leben. Er ahnt nichts, er ist ein frommer Mensch, der ein Ohr für Gott hat. Ich stelle mir Abraham als einen Mann vor, der mal zur Kirche geht, der ganz aufmerksam sein will, der Gott kein Leid zufügen möchte – ein netter Mann unserer Tage.
Und auf einmal redet Gott mit Abraham. Das Erste, was Gott sagt, ist nicht: „Abraham, ich segne dich“, sondern: „Abraham, geh raus, lass los.“ Abraham will doch gar nichts loslassen. Er fragt: „Was soll ich auch?“ Das ist ein hartes Stück. „Geh aus deinem Vaterland, aus deines Vaters Hause!“ Wenn Menschen im Urlaub sind und zurückkehren, freuen sie sich immer wieder, endlich wieder in den vertrauten vier Wänden zu sein. Endlich wieder im eigenen Bett schlafen – das ist Heimat.
Oder wenn wir Schwaben nördlich der Mainlinie sind und die anderen immer grinsen, wenn wir so schwäbisch reden, dann sind wir froh, wenn wir wieder über die Mainlinie drüben sind und die Menschen uns wieder richtig verstehen und über uns lachen. Das ist Heimat, Vaterhaus, da gehören wir hin, da passen wir hin, da nimmt man uns an, wie wir sind.
Warum wird Abraham nun rausgerissen? Warum schneidet Gott da Fäden durch? Muss das sein?
Sie wissen vielleicht, dass ich mich oft mit einem Vorwurf auseinandersetzen muss bei meinen Predigten. Leute sagen mir meist nicht ins Gesicht, sondern hinten herum: „Der redet so unabgewogen, der macht so kurzschlüssige Dinge.“ Ich kann mir vorstellen, dass nach der Predigt jemand wegläuft und sagt: „Du überträgst das von Abraham auf uns, und das gilt so für uns nicht.“
Ich möchte unterstreichen, dass Jesus es genauso gesagt hat, und ich habe das nicht erfunden: „Wer mir nachfolgen will, der verleugnet sich selbst, nimmt sein Kreuz auf sich und folgt mir nach.“ Jesus hat nicht einfach Leute gerufen und gesagt: „Seid so nett, kommt mit mir.“ Er hat gesagt: „Rechnet es durch!“
Wer Christ sein will, kann das nicht halbherzig machen. Er muss alte Beziehungen abbrechen. Er muss sein ganzes bisheriges Leben vor Gott hergeben und fragen: „Herr, was willst du wegnehmen? Du kannst alles haben, was du willst. Schneide durch, was dir nicht gefällt.“
Warum eigentlich? Gerade darin liegt die Freude. Ja, Sie haben richtig gehört: Die Freude liegt darin.
Abraham war in Ur in Chaldäa ein Mann mit einem kleinen Hirtenleben. Gott ist nicht der, der die kleine Existenz Abrahams in Ur in Chaldäa fromm berieselt. Er klatscht nicht einfach noch einen Segen oben drauf, wie man Sahne auf den Kuchen tut – nicht nur oben drauf ein frommer Rest.
Wir sind so anspruchslos und sagen zu Gott: „Ich will doch gar nicht viel von dir. Ich will nur, dass du meine Krankheit wegnimmst. Ich will nur, dass du mir im Beruf ein bisschen hilfst. Ich will nur, dass du da bist, wenn ich in Not bin.“ Aber Gott macht da nicht mit. Wundern Sie sich nicht, wenn Gott Ihre Gebete nicht erhört. Das will er nicht.
Er ist nicht der Garant unserer schäbigen, kleinbürgerlichen Existenz. Das ist ihm zu wenig.
Der Gott des Himmels und der Erde ist nicht dafür da, dass er unsere Existenz so wie wir heute in dieser Welt leben – unsere sechzig, siebzig Jahre – ein bisschen netter und schöner macht. Die Lebensqualität zu heben, wie man heute sagt, ist zu wenig für den Gott des Himmels und der Erde.
Deshalb kann er so hart ansetzen. Und so tut er es bei Abraham: „Geh raus! Ich will ein neues Leben aus dir machen, ich will etwas Neues schaffen.“ Und dann entwurzelt er.
Wer sich da von Gott nicht in die Hand nehmen lässt, wer das beim Reden Gottes nicht versteht, beim Bibellesen, wenn Sie zu Hause Andacht machen oder in einer Predigt sitzen, wer nicht begreift, dass Gott entwurzelt, der ahnt nie, was Gott neu machen kann in einem Leben.
Im Schwarzwald war es lange Zeit eindrucksvoll, wenn Herbststürme in den Wald fuhren und große Fichten entwurzelten. Dann wurde der ganze Boden mit herausgerissen. Man merkte: Da hängt viel dran. Der umliegende Boden wurde mit herausgerissen.
Eine Entscheidung für Jesus heute, wenn junge Menschen sie treffen, ist immer eine Entscheidung, bei der viel mitgerissen wird. Manchmal erzittert die ganze Umgebung darüber.
Ich möchte an dem Bild der ausgerissenen Fichte noch einmal verdeutlichen: Gott haut eine Fichte nicht einfach um und legt Abraham um. Gott geht es um etwas viel Wichtigeres.
Ein Mann wie Abraham soll nicht nur im weichen Sandboden verwurzelt sein, wie dort im Schwarzwald, wo kein Tiefgang ist. Abraham wird neu eingepflanzt – in die Ewigkeit.
Er zieht durch diese Welt als Mensch, der isst und trinkt, der einen Beruf hat und arbeitet, seine Herden versorgt und alles vorzüglich macht – wie ein Mensch dieser Welt. Aber seine Befehle und Entscheidungen holt er letztlich aus einer ganz anderen Tiefe: aus der Gegenwart des lebendigen Gottes.
Er orientiert sich nicht nur an dem Lebensziel, was heute Mode ist, sondern ist ein Wanderer nach der Ewigkeit.
Heute sitzen Menschen im Gottesdienst, bei denen Gott entwurzelt hat – die Kinder aus der Hand genommen oder den Kindern weggenommen hat, die Heimat durch Kriegsereignisse verloren haben, die den Mann verloren haben. Aber immer tut Gott das, weil er Wurzelboden geben will, einen Halt, der trägt und sich lohnt.
Gott fängt nicht mit frommen Worten an, bevor Menschen begriffen haben, dass das Alte abgebrochen werden muss.
Es wird nicht einfach weitergemacht und ein bisschen weiterverwurzelt. Gott fängt neu an: „Geh raus, Abraham! Stell dich hin! Ich will dein Leben von vorn neu ordnen.“
Ich leide mit Ihnen wohl an unserer kleinbürgerlichen Welt, an unserem kleinbürgerlichen Christentum und an unserem kleinbürgerlichen kirchlichen Leben. Wir haben Liturgie, fromme Worte, Sprüche und Gesänge.
Aber das ist so dürftig, so der Todesgeruch dieser Welt, wenn das heute nicht im Gottesdienst geschieht. Wenn heute nicht ein paar Menschen wieder neu für ihr Leben begreifen, dass sie einmal festmachen: „Herr, ich lasse mich von dir entwurzeln, weil es sich lohnt, weil du neu machst. Ich will nicht an meinen dürftigen Bitten kleben, die bisher mein Gebet erfüllt haben. Ich will mich dir zur Verfügung stellen. Mach du aus meinem Leben, was dir gefällt.“
Es ist nicht wahr, dass Gott sich für unsere entwerteten Sparbücher interessiert oder dass Gott sich hineinklemmt, wenn wir sagen: „Hauptsache, man ist gesund.“ Das ist nicht wahr.
Keiner lebt für sich selbst, keiner stirbt für sich selbst. Wir leben dem Herrn. Und das lohnt sich.
Das hat Abraham begriffen. Deshalb wurde er ein großer Gottesmann, den Gott in dieser Welt gebrauchen konnte, weil er begriffen hat: Wenn Gott anfängt, mit Menschen zu reden, dann entwurzelt er.
Die Einsamkeit als Teil des göttlichen Weges
Das war das Erste. Das Zweite: Gott macht einsam.
Gott macht einsam – das ist eine unerwartete Erkenntnis. „Geh von deiner Verwandtschaft“, heißt es. Wie ist das gemeint? Soll ich meine Ehe aufgeben? Soll ich meine Kinder verlassen? Soll ich meine Mutter nicht mehr grüßen? Es ist doch eine biblische Aufgabe, die Verwandtschaft hochzuhalten. Und nun kommt gleich jemand und sagt, das sei nur bildlich gemeint. Vorsicht, wir müssen tiefer nachdenken.
Gott kann bei Menschen ganz verschieden ansetzen. Das Schlimmste, worüber heute Menschen immer wieder klagen, ist die Einsamkeit. Wenn an einem Abend nur der Fernseher kaputtgeht, ist das schrecklich. Wenn man dann einsam ist, gibt es nichts, was uns unterhält. Dann blubbert nichts mehr in der Wohnung, es ist ruhig und still. Das kann man kaum ertragen, wenn nicht dauernd Menschen um uns herum sind.
Wir lieben es, voll beschäftigt zu sein und keine Zeit zu haben. Denn in diesem dauernden Drängen kommen wir nie zur Stille – und das ist das Wunderbare. Wir wünschen uns, nie einsam zu sein. Blaise Pascal hat ja diesen großen Satz gesagt: Der Mensch kann alles sein – Dachdäcker oder sonst was. Pascal, als Mathematiker, bewunderte, wie die auf den Dächern herumklettern. Der Mensch kann alles, nur nicht eine Stunde allein in seinem Zimmer sein. Das war schon um 1600 so.
Es ist eine uralte Krankheit, dass der Mensch die Einsamkeit nicht ertragen kann. Deshalb fliehen wir dauernd davor. Es gibt Menschen, die heiraten, aber wenn sie sich genau prüfen würden, vielleicht nicht einmal, weil sie den anderen Menschen lieben, sondern letztlich nur, weil sie nicht allein sein wollen. Das Ertragen der Einsamkeit ist so furchtbar schwer.
Woher kommt diese Krankheit? Ich möchte es einen psychologischen Urschaden in unserem Innersten nennen, den kein Mensch je überwinden kann: Wenn der Mensch Gott, den Vater, verloren hat, ist er unendlich einsam geworden. Diese furchtbare Wunde heilt nie mehr. Schon beim Kind, wenn es geboren ist, hat es Angst, allein zu sein. Das ganze Leben ist dieses Gescheuchtsein, dieses Fehlen der Geborgenheit – weil die Geborgenheit fehlt, wie sie einst in der Schöpfung Gottes war. Dieses Liegen in der Hand des lebendigen Gottes, meines Vaters im Himmel.
Wir können uns an Menschen hängen, aber sie werden uns enttäuschen. Man versucht heute, die Einsamkeit des Menschen zu überwinden, indem man überall Geselligkeit schafft. Wir mischen ja auch tüchtig mit in unserem Gemeindeleben. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen: Wir können die Einsamkeit nicht überwinden. Menschen fühlen sich in unseren Seniorenclubs eine Zeit lang wohl, aber sie werden nie zur Gemeinschaft finden, wenn diese Urwunde nicht geheilt wird.
Sie werden enttäuscht sein, nach einiger Zeit weglaufen und sagen: „Ich gehe lieber zur Freikirche, zur Sekte oder sonst wohin, da ist es noch gemütlicher.“ Sie suchen den Herdenmief, um die Einsamkeit zu überdecken. Sie sagen: „Du hast mich wieder nicht besucht.“ Sie suchen dauernd Menschen. Doch Menschen können diese Wunde nie heilen. Und wenn man täglich Besuche macht, die Wunde bleibt: das Verlassen-Sein.
Die Kur fängt dort an, wo Gott einen Menschen einsam nimmt. Deshalb gehört es dazu, dass Gott anfängt, mit uns zu reden. Er stellt uns ganz allein hin. So hat er es mit Abraham gemacht: „Lass deinen Opa und deine Mutti und alle deine anderen Freunde hinter dir. Nicht, weil das böse ist, sondern jetzt rede ich mit dir. Dann hörst du, was ich will, und dann sage ich dir, was dein Leben sein wird. Dann weißt du auch für dich weiter.“
Ich finde es so befreiend, dass Gott heute sagt: „Du bist keinem Menschen verpflichtet.“ Wenn Sie an die kommende Woche denken – ich weiß, wie Ihr Chef Sie drückt, ich habe immer gelitten unter der Schule, was die Lehrer alles von mir wollten, was andere Menschen an Verantwortung haben. Es gibt auch ein Erwartungsbild der Gemeinde. Ich habe gelernt, dass Gott mich freimacht und sagt: „Du stehst ganz allein vor mir. Keiner kann über dich bestimmen, aber ich bestimme über dich.“
Wer einmal da vor Gott steht, erlebt dieses Zwiegespräch. Ich möchte Sie heute bitten, dieses Zwiegespräch mit Gott zu führen, wenn Sie es noch nie gemacht haben. Fahren Sie alle anderen Menschen gedanklich weg und hören Sie, was Gott von Ihnen will. Dann brechen alte Schulden auf, Versäumtes. Dann verstehen wir, warum wir immer vor dieser Einsamkeit vor Gott ausgewichen sind, wenn Gott mit uns reden will.
Das wird wunderbar, weil man merkt: Mein Gott will mich ja gar nicht einsam machen. Er gibt Abraham ja später seine Sarah zurück. Abraham bekommt auch viele neue Freunde – bessere Freunde als vorher. Aber Abraham ist nie mehr einsam, auch wenn er ganz allein ist. Er hat Gott zum Freund.
Manche sagen, das sei unerhört, wenn einer so sagt: „Gott, mein Freund, mein Bruder.“ So etwas Unerhörtes macht Gott. Alles andere ist kein Glaube. Er verbindet sich ganz fest mit so einem kleinen Hirtenleben wie dem von Abraham und sagt: „Du brauchst nie mehr zu sagen, dein Leben sei nichts und du seist nichts wert. Ich bin dein Herr, ich bin dein Schild, dein sehr großer Lohn.“
Sie können keine größere Sünde tun, nirgendwo können Sie Gott so beleidigen, wie wenn Sie jetzt sagen: „Herr, das ist mir zu groß“ – als wenn Sie so stolz sind und Gott wegstoßen. Er will sich an unser brüchiges Leben binden. Das ist ihm wichtig.
Das begreift man erst, wenn man allein und einsam vor Gott steht. Aus diesem Zustand werden neue Formen der Gemeinschaft entstehen. Auch in einer Kirchengemeinde kann echte Gemeinschaft entstehen, wo man auf viele äußere Zeichen verzichten kann, aber das andere umso mehr braucht: das Stärken im wichtigsten Zentralpunkt vor Gott, wo man zusammengehört.
Als Luther nach seinem Aufenthalt auf der Wartburg nach Wittenberg hinunterging, weil dort unten das schwärmerische Wittenberg und die Bilderstürmerei über alle Stränge schlugen, wollte er das Verräterische des Teufels umkippen lassen. Jede echte Erweckung kippt um in einen schwärmerischen Rausch, in dem fromme Menschen wüten. Er ging hinunter und begann seine erste Fastenpredigt, indem er die Menschen einsam vor Gott stellte und sie dort verwurzelte, wo Glaube immer steht.
Wir sind alle zum Tod gefordert. Keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder wird in eigener Person mit dem Tod kämpfen. Das könnten wir uns in die Ohren schreien, aber jeder muss für sich selbst auf die Schanze treten. Und dann hat Luther Jesus bezeugt. Im Glauben geht es nie um anderes.
Wenn Menschen begreifen, dass Gott sich an sie bindet, will er mit ihnen in die Welt hinaus. Dann sind da Brüder und Schwestern, die Gott neu schenkt. Wir gehören zusammen wie eine Familie. Alle anderen Formen, die wir entwickeln, bleiben brüchig, denn es sind nur Menschen.
Wenn Menschen in anderen Menschen etwas suchen, was wollen sie da finden? Da finden sie nichts Vernünftiges. Das sehen wir selbst doch an unserer Brüchigkeit. Was wir anderen geben können, ist nur das Zeugnis von ihm, weil wir an ihn, den lebendigen Gott, gebunden sind.
Abraham ist am Ende nicht mehr einsam. „Nehme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde doch deine Hand mich halten und deine Rechte mich führen. Du bist bei mir.“ So werden überwundene Urtraumata im Menschen geheilt.
Der blinde Weg in das verheissene Land
Noch ein Letztes: Wir haben hier drei Dinge bei Abraham gefunden, bevor wir am nächsten Sonntag zu diesem großen Segenswort Gottes kommen, das über diesem Hirtenleben gesprochen wird.
Gott entwurzelt, wenn er redet. Gott macht einsam. Und noch ein Letztes: Gott führt blind in ein Land, das er dir zeigen will. Martin Buber übersetzt hier mit „in ein Land, das ich dich sehen lassen will“. Was Abraham danach mit den Augen gesehen hat, war eigentlich immer ein Widerspruch zu seinem Glauben.
Es wurde ihm gesagt: Das Land soll dir gehören. Doch als er seine Frau Sarah nach einer langen Wanderschaft beerdigen will, besitzt er nicht einmal ein Stück Land. Er muss noch darum kämpfen und feilschen, bis er die Höhle Machpelah in Hebron bekommt. Es ist eigentlich hart, dass das ganze Sehen Abrahams immer wieder ein Widerspruch zum Glauben wird. Man nennt das Anfechtung.
Es gibt so viel Anfechtung für glaubende Menschen, die immer wieder durch unsere Augen kommen. Wir sehen das und das stimmt doch gar nicht. Gott hat es uns zugesagt, und ich sehe nichts davon. Wo ist denn das? Da hat Gott ja etwas anderes gemeint, wenn er sagt: „In ein Land, das ich dich sehen lassen will.“ Es ist das Land, das er mit seinen Augen sieht und das ihm gleichzeitig ein Widerspruch wird.
Das gehört ja ganz anderen Menschen. Wie soll das mein Land sein? Aber es gibt ein Sehen des Glaubens. Es gibt ein Sehen des Glaubens, und das geht durch die sichtbaren Dinge hindurch, das geht über die leiblichen Augen hinaus. Man sieht diese Welt und sieht durch sie hindurch. Man geht nicht daran vorbei.
Der Glaube schaut in den Himmel hinaus. Er schaut die sichtbaren Dinge an, sieht, was dahinter ist, und urteilt von dort her ganz neu. Glaubende Christen stehen genauso im Beruf wie andere. Sie unterscheiden sich von anderen dadurch, dass sie diesen Blick des Glaubens haben, der hinter die Dinge sieht, der durchgreift und erfasst.
So zieht Abraham durch dieses Land und sieht den lebendigen Gott, der ihm das geben wird, wenn er längst tot ist. Er sieht seine Nachkommen, obwohl er nicht einmal ein Kind hat und schon hohen Alters ist. Er sieht es durch den Glauben hindurch.
Er hält sich nicht an dem auf, was er nicht begreifen kann. Fragen bleiben, Rätsel bleiben, Anfechtungen bleiben. Aber Glaubende ziehen durch die Welt. Sie wollen die Augen schließen und blind glauben, wollen hellwach sein, die Dinge ihrer Zeit erkennen. Für sie gibt es eine neue Wirklichkeit, die unsichtbare Welt.
Nämlich das, was Gott ihnen hier in seinem Wort zusagt. Das ist so wahr und so gewiss, dass sie durch die neue Woche gehen und der Herr mit ihnen ist. Sie sehen lauter Möglichkeiten und sind trotzdem immer einsam. Sie sind nicht entwurzelt, sondern verwurzelt wie kein anderer Mensch. Geschehe, was will, er ist da.
Es sieht so aus, als ob sie Phantasten wären. Aber sie sind keine Träumer. Sie haben einen realen Grund unter den Füßen. Sie sehen die großen Verheißungen Gottes.
Das Leben Abrahams beginnt nicht mit Attraktionen, nicht mit großen Versprechungen, die nichts halten, nicht mit großen Worten. Das Leben Abrahams beginnt mit einem harten Reden Gottes.
Es ist wichtig, das Wort Gottes zu lesen und diese harten Worte nicht auszuschlagen, nicht zu überlesen und nicht zu ignorieren. Man soll sein Leben dort in Ordnung bringen.
Das Wunderbare ist, dass Gott ein Leben wirklich neu macht, ganz neu. Er mogelt nicht nur drüber, sondern bricht Altes ab und lässt uns mitten in der Welt schon erleben, wie er neue Anfänge setzt. Amen!
Schlussgebet und Lied
Und nun singen wir vom Lied „Gott rufe“ Nr. 271 die Verse 5, 6 und 7.
Gib dich, mein Herz, gib dich nun ganz gefangen! Herr, unser Gott, wir sind so oft auf der Flucht vor dir. Wir verstecken uns mit unserem ganzen Leben, doch du suchst uns, weil du all das lösen willst, was uns bedrängt. Nicht nur vordergründig, sondern ganz, denn du willst uns in deiner Ewigkeit verwurzeln.
Herr, wir danken dir für dein Wort, dass wir uns in deiner Ewigkeit verankern dürfen. Gerade dort, wo es uns nicht passt, wo es nicht auf unsere Vorstellungen antwortet, wo es ganz anders klingt, als wir es uns wünschen.
Herr, zerbrich alle eigenen Wünsche, zerbrich alle falschen Lüste, die uns woanders hinziehen und von dir wegtreiben. Hol du uns ganz in deine Nachfolge hinein, damit wir nichts anderes suchen als das neue Leben, das du bereitet hast.
Gib uns ein Ohr für dein Wort und schaffe in uns gehorsame Herzen, die dein Wort befolgen. Lass uns das auch in der kommenden Woche praktizieren, damit wir mit all den Dingen, die du schickst, fertig werden können. Denn wir nehmen sie von dir und mit dir an.
Wo uns der Boden weggezogen wird und wo wir einsam sind, lass uns ganz neu uns an dich anschließen und immer vertrauter mit dir werden, unserem Vater im Himmel.
Herr, hilf uns, dass wir das auch weitergeben können – mit unserem Dienst, mit unserem Leben, mit all dem, was wir sind. Lass uns keine kleinbürgerlichen Existenzen dieser vergehenden Welt sein, sondern die, die als Lichter deiner kommenden Welt scheinen. Das kannst du nur in uns schaffen.
Mach uns dieses Ziel immer groß durch dein Wort und gib, dass wir nur dieses wichtige Wort weitersagen. Lass uns nicht mit Unwichtigem aufhalten und lehre uns, Wichtiges und Unwichtiges von dir und durch dich wohl zu unterscheiden.
Herr, segne allen Dienst deiner Christen in der Welt. Gib immer wieder dieses Wort, das alte Traditionen sprengt und auch menschliche Frömmigkeit und Religiosität überwindet. Dieses Wort, das von dir kommt und das dein Geist treibt, damit Menschen zum lebendigen Glauben an dich kommen.
Wir bitten dich auch für die Jugendevangelisation, die hier in dieser Stadt geplant ist. Du siehst auch durch alle Widerstände hindurch. Lass uns nur auf eines sehen: dass Menschen an dich glauben und deinem Wort gehorsam werden.
Dir befehlen wir die Kranken und die Einsamen in unserer Gemeinde an, die nicht unter uns sein können. Sei du jetzt bei ihnen und grüße sie.