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21.07.19901. Petrus 2,4-10
Was ist der Mensch? Ein Fundstein, von Gott aufgelesen und behauen, ein Baustein, von Gott mit einer Aufgabe betraut und in die Gemeinde eingebaut, ein Schmuckstein, mit dem königlichen Steinmetzzeichen Gottes versehen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Stellen Sie sich vor, liebe Gemeinde, im Fernsehen läuft gerade eine Diskussionsrunde zum Thema: Was ist der Mensch? An einem langen Tisch sitzen Fachleute und Spezialisten, die sich über ihre goldenen Halbbrillen hinweg kritisch beäugen.

Der freund­liche Moderator gib nach einer kurzen Begrüßung zuerst dem Arzt das Wort. "Meine Damen und Herren", sagt der, "ich habe ein Modell mitgebracht. Zunächst sehen Sie den Mensch mit Haut und Haaren, dann, aufgeklappt, sind Muskeln und Sehnen freigelegt, dann die inneren Organe wie Herz, Lunge, Magen, Nieren und schließlich das Knochengerüst. Für mich ist der Mensch ein anatomisches Gebilde."

Als zweiter darf sich der Psychologe erklären: "Stellen Sie sich einen Eisberg vor, lieber Zuschauer. Nur ein Siebtel schwimmt über Wasser. Sechs Siebtel bleiben unsicht­bar. Das Unbewusste ist die große Schaltzentrale, von der aus wir durch Triebe gesteuert werden. Für mich ist der Mensch eine getriebene Kreatur."

Als dritter Fachmann kommt der Soziologe an die Reihe. "Ich sehe den Menschen in seinen verschiedenen Rollen. Als Ehemann gibt der Hans seiner Grete einen Kuss. Als Vater spielt er mit seinen Kindern Lego. Als Polizeibeamter straft er pflichtbewusst die Falschparker. Als Christ geht er sonntags in die Kirche. Das sind Lebenskreise, die sich wechsel­seitig überlappen, Schnittmenge und Restmenge. Sie verstehen, für mich ist der Mensch ein anpassungsfähiger Rollenkünstler."

Auch der Biologe wird um einen Beitrag gebeten. "Ich gestehe, dass ich Vertreter des klassischen Darwinismus bin. Die Rasse Mensch hat sich in Millionen Jahren entwickelt und die entscheid­enden Faktoren heißen dabei: Mutation, das heißt Veränderung im Erbgefüge, und Selektion, das heißt Auswahl des Bewährten. Dieser ganze Entwicklungsprozess wird vom Prinzip Zufall gesteuert. Für mich ist der Mensch ein zufälliges Entwicklungsprodukt."

Schon zieht der Pädagoge nervös an seiner Krawatte, weil nun er mit seiner Antwort ins rechte Bild gesetzt sein will, da bemächtigt sich ein anderer des Mikrofons, der bisher gar nicht in die Expertenrunde gehörte. "Entschuldigen Sie, dass ich störe", sagt er,"aber meine Einwendungen werden zumeist als Störungen empfunden. Trotzdem muss ich es Ihnen sagen, Herr Doktor, die Sie den Menschen als anatomisches Gebilde sehen, und Ihnen Herr Psychologe, die Sie den Menschen als getriebene Kreatur bezeichnen, und Ihnen Herr Soziologe, die Sie den Menschen als anpassungs­fähigen Rollenkünstler beschreiben, und Ihnen Herr Biologe, die Sie den Menschen als zufälliges Abfallprodukt qualifizieren, Ihnen allen muss ich als Theologe sagen, genauer: als Gottesgelehrt­er, sogar als Apostel des Herrn: Der Mensch ist ein Stein. Sicher ist damit nicht alles gesagt und vieles wäre noch zu dem zu sagen, was Sie gesagt haben, aber ich sage Ihnen heute und jetzt: Der Mensch ist ein Stein."

Bevor nun die Fachleute entsetzt von ihren Stühlen aufspringen und der Moderator händeringend seine Diskussionsrunde retten will, schalten wir das Fernsehgerät ab.

"Der Mensch ist ein Stein", dieser Satz klingt in uns nach. Der Mensch ist ein Stein, dieses Bild bleibt uns im Kopf. Der Mensch ist ein Stein, diese Aussage ist so sperrig, dass wir nähere Erläuterungen brauchen. Wir finden sie in dem eben gelesenen Predigttext aus dem 1. Petrusbrief. Dort wird zuerst gesagt:

1. Der Mensch ist ein Fundstein

... ein Findling, ein erratischer Block, so wie wir ihn waggonweise auf Geröllhalden und in Stein­brüchen finden. Sagenerzähler behaupten zwar, dass solche Brocken einmal Wurfsteine der Riesen oder Schleudersteine des Teufels gewesen seien, aber Geologen wissen, dass es Teile der Schöpfung sind. Der Fundstein ist tot, so wie nur ein Stein tot sein kann. Er ist hart, so wie nur ein Stein hart sein kann. Er ist wertlos, so wie nur ein Stein wertlos sein kann. Findlinge sind übrig, bis zu dem Tag, an dem einer auf dem Platz auftaucht, dem Steine nicht egal sind. Der sucht sich einen heraus und säubert ihn liebevoll von allem Dreck. Dann behaut er ihn mit kräftigen Schlägen und gibt ihm eine lebendige Struktur. Schließlich bringt er ihn auf das Maß, das diesem Stein angemessen ist. Der Fundstein ist nicht wiederzuerkennen.

Liebe Freunde, wir verstehen das Bild. Der Mensch findet sich haufenweise auf den Halden und Hängen dieser Welt. Auch wenn Geschichtenerzähler behaupten, dass er nur vom Schicksal an Land gespült worden sei, so wissen Bibelerzähler, dass der Mensch Teil von Gottes Schöpfung ist. Aber er ist von Natur aus tot, so wie nur ein Stein tot sein kann. Er ist von Natur aus hart, so wie nur ein Stein hart sein kann. Er ist von Natur wertlos, so wie nur ein Stein wertlos sein kann. Der Mensch ist übrig bis zu dem Tag, an dem einer auf dem Feld auftaucht, dem Menschen nicht egal sind und der sagt: "Ich bin gekommen zu suchen und lebendig zu machen, was verloren ist". Der sucht einen heraus mit menschenfreundlichem Kennerblick und säubert ihn liebevoll von allem Sündendreck mit seinem eigenen Blut. Warum verwechseln wir diesen Sammler immer wieder mit einem Schinder, der uns partout nicht in Ruhe lassen will? Dann behaut er diesen Gefundenen mit kräftigen Schlägen, die ihn zutiefst erschüttern, und gibt ihm damit eine eigene, lebendige, unverwechselbare Struktur. Warum verwechseln wir solche Krankheitsschläge, Familienkrisen, Berufsnöte mit unverständlichen Schicksalsschlägen, die der liebe Gott doch nicht zulassen darf?

Der Schweizer Reformator Johannes Calvin sagte auf seinem bitter schweren Leidenslager: "Ich leide es gerne, Herr, denn es ist deine Hand, die mich schlägt." Ihre Niedergeschlagenheit: "Herr, es ist deine Hand". Ihre Betroffenheit: "Herr, es ist deine Hand". Ihre Traurigkeit: "Herr, es ist deine Hand".

Schließlich bringt Jesus den Menschen auf das Maß, das jedem maßlosen Menschen angemessen ist, und das ist das Maß des Kreuzes, seine unermessliche Barmherzigkeit in seinem Tod. Warum verwechseln wir dieses Holz gar mit einem Stecken, der uns, wie in der Reiteraffäre, barren will? Seine Maßnahmen in unserem Leben haben nichts mit menschenquälerischen Ideen zu tun. Seine Maßnahmen sind Maßnehmen am Kreuz, die jeden gefundenen Menschen so bilden, dass er nicht wiederzuerkennen ist.

Der Mensch ist ein Fundstein.

Dann die nächste Erläuterung:

2. Der Mensch wird zum Baustein

... denn wenn er nur alleine in der Gegend steht, erinnert er vielleicht an einen Gedenkstein oder Grabstein. Weil Gott aber keinen Friedhof wollte, sondern eine Kirche, deshalb machte er ihn zum Baustein. Nur im Verbund mit andern Steinen gewinnt er seinen Sinn. Nur als Bestandteil des Ganzen erfüllt er seine Aufgabe. Nur als einer von vielen hat er seine Funktion. Der gehört zur Umfassungsmauer und schützt den Raum. Wenn er fehlen würde, hätte die Wand eine Lücke. Und der dort gehört zu den Stufen und bildet die Treppe. Wenn der fehlen würde, könnte niemand auf die Empore steigen. Und der dort gehört zum Pfeiler und trägt die Dachlast. Wenn der fehlen würde, bräche das ganze Gewölbe herunter. Jeder noch so kleine Stein hat seine große Bedeutung. Im Verbund mit andern wird er von andern getragen und trägt andere.

Jeder Bau besteht aus vielen Steinen, auch der Bau Gottes, seine Gemeinde. Die ist aus vielen lebendigen Menschen zusammengesetzt. Alle sind vom Herrn eingefügt und eingepasst. Jeder hat seine Funktion. Der gehört zur Jungschar und spielt die Gitarre. Wenn der fehlen würde, gibt es nur einen miesen Gesang. Und der gehört zum Ge­meindedienst und trägt die Gemeindebriefe aus. Wenn der fehlen würde, bricht der Kontakt in die Häuser ab. Und der gehört zur Nachbarschaftshilfe und bettet die Alten. Wenn der fehlen würde, wäre die Einsamkeit in der Innenstadt noch größer. Jeder noch so kleine, unscheinbare, ja behinderte Mensch hat seine große und wichtige Bedeutung.

Mir fällt auf, wieviele sich gegenwärtig unter Wert verkauft fühlen; sie können ihre Gaben gar nicht entfalten. Mir fällt weiter auf, wieviele bedrückt sind über ihre bescheidene Rolle im Leben; eigentlich wollten sie doch viel höher hinaus. Mir fällt auch noch auf, wieviele bedrängt sind von ihrem nutzlosen Dasein in der Masse. "Ich bin übrig", sagt der Zwanzigjährige auf der Massenuniversität. "Ich bin übrig", sagt der Fünfzigjährige im Großbetrieb. "Ich bin übrig", sagt der Achtzigjährige im Pflegeheim. "Ich bin übrig", sagen viele.

Hören Sie, bei Gott sind Sie nicht übrig. Bei Gott sind Sie nicht nutzlos. Bei Gott sind Sie nie unter Wert verkauft. Er will Sie in seine Gemeinde einbauen. Er will Sie in seine Gemeinschaft einfügen. Er will Ihnen einen speziellen Platz zuweisen, den nur Sie ausfüllen können. Ohne Sie hat sein Haus ein Loch. Und dort werden Sie merken, dass Sie von andern getragen werden und andere tragen können.

Bei diesem göttlichen Baumeister, der selbst der Grund- und Eckstein ist, wird der Mensch zum Baustein.

Noch eine dritte Erläuterung dürfen wir nicht übersehen:

3. Der Mensch bleibt ein Schmuckstein

... auch wenn er jetzt zum Ensemble vieler Bausteine gehört. Er wird nicht zur Nummer, zum Baumaterial, zum Es. Jeder behält seine Größe, seinen Zu­schnitt, seine Originalität. Das Steinmetzzeichen, mit dem der Meister einst den Stein gekennzeichnet hat, ist auch nach Jahr­hunderten nicht verwittert, so wie wir es in dieser Kirche an vielen Stellen beobachten können. Der gefundene, behauene, aufs Maß gebrachte Findling ist und bleibt ein Schmuckstein.

Liebe Freunde, im Ensemble der Gemeinde Jesu verlieren wir nicht an Profil. Keiner wird zur fortlaufenden Nummer, zum gleichförmigen Menschenmaterial, zum Neutrum, so wie es in der Antike einmal war. Ganze Sklavenheere wurden bei der Errichtung von Pyramiden schlicht verschlissen. Die griechische Kultur setzte unsichtbare Arbeitskolonnen voraus, die den Unterbau trugen. In den Stadien Roms wurden zur Unterhaltung der Massen Menschen vorgesetzt und geopfert. Die Bibel aber betont von allem Anfang an den unverlierbaren Wert jedes einzelnen. So wichtig ist jeder, dass Gott extra seinen Sohn zu ihm auf die Welt geschickt hat. Nicht mit Rädchen will er es zu tun haben, mit Kanonenfutter oder Konsumenten, sondern mit seinen Geschöpfen. Und auf jeden Menschen schlägt er sein Steinmetzzeichen, das aussieht wie eine Krone.

Petrus weiß, was es bedeutet: "Auserwählt seid ihr, das auser­wählte Geschlecht. Königlich seid ihr, die königliche Priesterschaft. Heilig seid ihr, das heilige Volk". Auch im Laufe eines langen Lebens verwittert diese Krone nicht. Da mögen wir von Sorgen gezeichnet sein, die uns ins Gesicht geschrieben sind, da mögen wir von Krankheiten gezeichnet sind, die uns ganz tief beugen, da mögen wir vom Alter gezeichnet sein, das uns jede Lebenskraft gebrochen hat, das Steinmetzzeichen Gottes bleibt unübersehbar: auserwählt, königlich, heilig. Das ist unser Schmuck, liebe Freunde.

Dietrich Bonhoeffer hat 1944 im Gefängnis Berlin-Tegel einen Text zum Thema "Was ist der Mensch?" geschrieben mit der Überschrift: "Wer bin ich?" Und dort heißt es zum Schluss: "Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott."

"Du, Meister, kennst mich, hoffentlich als Fundstein und Baustein und Schmuckstein, Dein bin ich, o Gott. Amen."


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]