Gleich an der Ecke einer Amsterdamer Geschäftsstraße war ein altbekanntes Uhrengeschäft. Dort schlugen nicht nur die Uhren für große und kleine Kunden, sondern auch ein Herz für große und kleine Kinder. Der alte Uhrmachermeister Caspar ten Boom war eine Seele von Mensch. Immer zum Heiligen Abend lud er die ganze Rasselbande aus der Nachbarschaft in den Laden ein, schenkte heiße Schokolade aus, verteilte kleine Geschenke und erzählte eine Geschichte, so auch die folgende:
Königin Viktoria von England ging im Urlaub gerne in einfachen Kleidern durch den Wald. Bei solch einem Spaziergang geriet sie einmal in ein heftiges Unwetter. Zum Glück tauchte eine Hütte auf, die sie mit ein paar schnellen Schritten erreichen konnte. Dort spickte ein runzliges Weibchen durch den Türspalt und die Königin inkognito bat freundlich um einen Schirm. "Nun", krächzte die Betagte, "meinen verschlissenen können sie haben, aber meinen neuen verleihe ich keinem. Wer weiß denn, ob ich ihn jemals wiedersehe?" So zog das königliche Oberhaupt lächelnd davon, beschirmt mit einem fürchterlichen Umbrella, dessen Stangen nach allen Himmelsrichtungen hinausspießten. Als aber am andern Morgen ein schmucker Butler der alten Bruddlerin ihr Sperrgut mit den Worten zurückbrachte: "Königin Viktoria lässt danken und Ihre Majestät lässt grüßen!", da kippte das Weiblein um und stammelte nur noch: "Wenn ich das gewusst hätte, oh, wenn ich das gewusst hätte."
"Das ist die Klage derer", fügte Meister ten Boom an, "die zu spät erkennen, wer der Herr vorm Haus und wer der Herr im Haus ist."
Beide Fragen sind bis heute entscheidend. Am Heiligen Abend tönen die Glocken. In der Heiligen Nacht klingeln die Glöckchen. Zum Fest klopft es an unsere Tür. Wer ist der Herr vorm Haus?
Einfache Gemüter reden vom Christkind, das über allem schwebt. Naive Gemüter reden vom Weihnachtsmann, der durch die Nacht geht. Gebildete Gemüter reden von der ersten Ursache, vom absolut Seienden, vom großen X, das vor allem und hinter allem steht. Nur Christen reden von einem Gott in Menschengestalt.
Über das Christkind kann man lächeln, aber nicht fröhlich werden. Über den Weihnachtsmann kann man lachen, aber nicht zufrieden werden. Über das absolut Seiende kann man debattieren, aber nicht glücklich werden. Zum Glück brauchen wir uns mit solch abstrusem Zeug wie dem großen X nicht abzuschinden.
Es ist überhaupt nicht nötig, dass wir uns Vorstellungen über Gott machen, denn Gott hat sich nach der prophetischen Vorankündigung zu Weihnachten höchstpersönlich vorgestellt. Er ist kein Christkind, sondern der Sohn Gottes. Er ist kein Weihnachtsmann, sondern der Friedefürst. Er ist kein Mister X, sondern der Herr Jesus Christus. Sein Vater, der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde, verpackte ihn nicht in Samt und Seide, sondern steckte ihn in eine menschliche Haut. Damit ist er uns hautnah auf den Leib gerückt. Mehr noch: Er will uns jetzt buchstäblich unter die Haut gehen, deshalb steht er vorm Haus.
Spicken Sie durch den Türspalt, der sich an Weihnachten auftut, und erkennen den, der in einfachen Kleidern dort steht. Kein Doktorhut ziert seinen Kopf, denn er hat nie ein Buch geschrieben, nie eine akademische Vorlesung vor Studenten gehalten, nie einen philosophischen Zirkel oder gar eine politische Partei gegründet. Kein Stern blitzt auf seiner Achselklappe, denn er hat nie eine Armee kommandiert, nie ein Heer befehligt, nie eine Truppe exerziert. Kein Brillantring schmückt seinen Finger, denn er hat nie ein Schloss bewohnt, nie ein Sparbuch besessen, nie ein eigenes Bett gehabt. Dieser Jesus, der zeitlebens eine arme Haut war, borgte mehr als einen Schirm fürs Gewitter, nämlich eine Krippe für die Geburt, einen Esel für den Einzug, einen Saal für das Abendmahl, ein Grab für den Leichnam. Jesus Christus, der anspruchslose Herr vorm Haus beansprucht nur eines, der Herr im Hause zu sein.
Jesus Christus, der anspruchslose Herr vorm Haus beansprucht nur eines, der Herr im Hause zu sein.
Und damit sind wir bei der zweiten Frage: Wer ist der Herr im Haus?
Viele Herrschaften haben sich bei uns einquartiert, zum Beispiel die Angst vor dem Morgen in einer Welt, die in sich bekriegende Staaten und Stätchen zerfällt und uns in einem tödlichen Strudel hinunterziehen könnte. Wer ist der Herr im Haus?
Viele Herrschaften haben bei uns das Sagen, zum Beispiel die Sorge um die Gesundheit, die seit jener Krankheit labil ist und zu schlimmen Befürchtungen Anlass gibt. Wer ist der Herr im Haus?
Viele Herrschaften haben sich breit gemacht, zum Beispiel der Schmerz über den verstorbenen Partner, der so plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen wurde und nur Einsamkeit zurückließ. Weil Jesus weiß, dass wir mit diesen Herrschaften nur depressiv werden können, deshalb will er ins Haus.
Die Lösung seines Wohnungsproblems ist die Lösung unseres Lebensproblems.
Manche bieten ihm zwar das Hinterstübchen an, so wie der Wirt von Bethlehem. Damit hat er ein Dach überm Kopf und wir ein gutes Gewissen. Wer Jesus im Hinterhaus bzw. in der Hinterhand hat, kann sich notfalls auf ihn berufen. Aber Jesus will mehr.
Manche bieten ihm zwar ein Krippchen an, so aus Holz geschnitzt oder aus Lehm geformt. Damit hat er seine Ruh und wir unseren Frieden. Wer Jesus unterm Christbaum hat, ist jedenfalls nicht unchristlich. Aber Jesus will mehr.
Manche bieten ihm zwar ein Kreuz an, so in der Zimmerecke oder im Hausflur. Damit hat er seine Ehre und wir unser Kruzifix. Wer Jesus im Herrgottswinkel hat, glaubt an den Herrgott. Aber Jesus will mehr.
Er will nicht nur im Hinterhaus kampieren, unterm Christbaum logieren, im Zimmerwinkel vegetieren, nein, Jesus will im ganzen Haus regieren. Deshalb muss er überall am Platz sein.
Im Arbeitszimmer, wo uns die Fehlbilanz des alten Jahres belastet, und wo wir den Haushalt des neuen Jahres nicht ausgleichen können. Im Schlafzimmer, wo wir keinen erquickenden Schlaf mehr finden und wo uns immer schrecklichere Träume aus dem Schlaf reißen. Im Wohnzimmer, wo wir uns nur noch um den Fernseher versammeln und wo uns das ganze Weltelend frei Haus geliefert wird. Im Esszimmer, wo schon beim Frühstück der Krach mit den Kindern losgeht und wo am Abend jeder allein sein Brot hinunterschlingt. Im Krankenzimmer, wo menschliche Therapie am Ende ist und wo die Todesschatten sich immer breiter machen.
Jesus will in allen Zimmern an der Vorderfront und Hinterfront unseres Lebenshauses die Herrschaft ausüben, denn wenn er der Herr im Hause ist, haben alle andern Herren und Herrschaften ihr Hausrecht verloren. Dann erst kann es Weihnachten werden und richtig gesungen werden: "Freude, Freude über Freude, Christus wehret allem Leide. Wonne, Wonne über Wonne, Christus ist die Gnadensonne."
Liebe Freunde, wer Jesus mehr Macht einräumt, hat weniger mit seiner Ohnmacht zu kämpfen. Wer Jesus mehr Platz gönnt, hat weniger unter seinen Problemen zu leiden. Wer für Jesus mehr übrig hat, bei dem werden sich viele Sorgen erübrigen. Deshalb lassen Sie ihn nicht draußen auf der Matte stehen. Der Herr vorm Haus will zum Herrn im Hause werden.
Johannes erzählt die Weihnachtsgeschichte in zwei Sätzen: "Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wieviele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden."
Amen