Einführung: Die Verpflichtung zur Verkündigung des Evangeliums
Paulo schreibt hier: „Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Nichtgriechen, der Weisen und der Nichtweisen. Darum, so viel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen.“
Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht, alle, die daran glauben – die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbar die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben. Wie geschrieben steht: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“
In diesem Sinne freuen wir uns jetzt auf den Vortrag zum Reformationsfest, der genau darum geht: die große Entdeckung, die auch heute noch möglich ist – das Herzstück der Reformation. Und dazu können Sie sich natürlich gerne wieder hinsetzen.
Die Entdeckung von Alexander Fleming und ihre Bedeutung
Als Alexander Fleming am 28. September 1928 sein Labor in London betrat, wusste der Mediziner noch nicht, dass er an diesem Tag eine der wichtigsten Entdeckungen in der Medizingeschichte machen würde.
Zunächst sah es wie ein misslungener Versuch aus. In einer Glasschale, in der der schottische Forscher Bakterien züchtete, hatte sich ein Schimmelpilz gebildet. Fleming schaute noch einmal genau hin und bemerkte, dass dort, wo sich der Pilz angesiedelt hatte, keine Bakterien mehr vorhanden waren. Es gab keine Staphylokokken.
Daraus schloss Fleming, dass der Pilz einen Stoff produzieren musste, der die Bakterien zerstörte. Diesen Stoff nannte der Forscher Penicillin, in Anlehnung an den lateinischen Namen des Schimmelpilzes. Damit hatte Fleming das Mittel gegen bakterielle Infektionen entdeckt.
Es dauerte jedoch noch zehn Jahre, bis Penicillin schließlich als Antibiotikum am Menschen eingesetzt wurde. Wie gefährlich bakterielle Infektionen früher waren, zeigt zum Beispiel die Pest im Mittelalter. Damals starb ein Viertel der Bevölkerung an dieser Krankheit.
Auch heute profitieren wir alle von Flemings Entdeckung, wenn wir Antibiotika einnehmen. Die Tat am 28. September 1928 war eine große Entdeckung.
Die Reformation im historischen Kontext
Lässt sich die Reformation mit dieser Entdeckung vergleichen? Sie liegt nun mehr als 500 Jahre zurück. Was ist damals eigentlich geschehen?
Am 31. Oktober, an den wir heute gedenken, steht zunächst der Thesenanschlag an der Schlosskirche in Wittenberg im Mittelpunkt. Luther hatte den lateinischen Text an einen großen Kreis von Kollegen und Theologen geschickt, um eine Diskussion darüber zu führen. Doch dieser 31. Oktober war nur ein Mosaikstein in einem großen Drama.
Wir wollen uns heute, am Reformationstag 2024, noch einmal in Erinnerung rufen: Was war eigentlich das Entscheidende an der Reformation? Was war gewissermaßen ihr Herzstück?
Die Geschichte der Reformation in ihren Anfängen ist zugleich die Geschichte einer persönlichen Krise. Martin Luther hatte seine Überzeugung nicht am Reißbrett entworfen oder in einer stillen Bibliothek ausgearbeitet. Er sah sich vielmehr in einer persönlichen Notlage, weil er auf seine Existenzfrage keine Antwort finden konnte.
Er konnte nicht mehr ruhig schlafen mit seiner Lebensperspektive, obwohl er zu diesem Zeitpunkt als Mönch in einem Kloster lebte. Er wurde von der Frage umgetrieben: Wo finde ich die Wahrheit? Und noch genauer: Was kommt nach dem Tod? Habe ich als Mensch überhaupt eine Chance, in den Himmel zu kommen?
Diese Fragen beschäftigen uns und unsere Zeitgenossen bis heute, auch wenn sie möglicherweise von verschiedenen Menschen anders formuliert werden. Das ist die menschliche Universalfrage: Gibt es Wahrheit? Was wird aus meinem Leben? Und gibt es eine Chance über den Tod hinaus?
Gliederung der Betrachtung: Krise, Quelle und Person
So beginnt die Reformation mit einer persönlichen Krise. Deshalb ist unser erster Teil „Ein Student in der Krise“.
Im zweiten Teil sehen wir, was er in dieser Krise entdeckt: die Entdeckung einer Quelle. Im dritten Teil folgt dann die Entdeckung einer Person.
Die Ereignisse entwickeln sich wie in einem Krimi. Es fehlt an nichts, auch nicht an der abgelegenen Burg, auf der ein Verfolgter Zuflucht findet. Wir müssen verstehen, wie er auf diese Burg gelangt ist.
Zuerst also: ein Student in der Krise. Damit Sie den Ablauf der Ereignisse besser verfolgen können, habe ich Ihnen ein Begleitpapier erstellt. Herzlichen Dank noch einmal an die Mitarbeiter, die dies so schnell umgesetzt haben.
Das Begleitpapier trägt den Titel „Die große Entdeckung – Stationen der frühen Reformation“. Dort finden Sie einige Kerndaten, damit Sie sich nicht im Gewirr der vielen Zahlen verlieren.
So hoffe ich, dass wir mithilfe dieses Begleitpapiers unfallfrei durch diese historischen Zusammenhänge hindurchkommen.
Luthers Herkunft und frühe Bildung
Luthers Weg beginnt in einer ganz normalen Familie und im Schoß der katholischen Kirche. Er wird am 10. November 1483 in Eisleben geboren. Von 1498 bis 1501 besucht er die Lateinschule in Eisenach. Ab 1501 ist er Student in Erfurt.
Man muss wissen, dass Erfurt damals zu den führenden Universitätsstädten in Europa gehörte. Es war eine Großstadt mit etwa 20.000 Einwohnern, einem gotischen Dom und 20 weiteren Kirchen. Wenn man Erfurt heute besucht, kann man noch vieles davon entdecken.
Nach seinem Grundstudium will Luther eigentlich Jurist werden. Das war zumindest der Wunsch seines Vaters. Doch dann passiert das, was oft erzählt wird: Am 2. Juli 1505 gerät er in der Nähe von Erfurt in ein schweres Gewitter. Er bangt wirklich um sein Leben. In seiner Not spricht er ein Gelübde zur heiligen Anna aus, an die er sich damals noch wandte. Er sagt: „Ich will Mönch werden, wenn du mich hier heil herausbringst.“
Gesagt, getan: Am 17. Juli tritt Luther ins Augustinerkloster von Erfurt ein. Dort grübelt er weiter über Gott und sein Leben nach. Er stürzt in die Krise, die er später „Anfechtungen“ nennt.
Die Suche nach dem gnädigen Gott
Die Suche nach dem gnädigen Gott
Kann ein heiliger Gott mir wirklich gnädig sein, wenn ich in mein eigenes Leben und in mein Herz hineinschaue und sehe, welche Widerstände, bösen Gedanken und üblen Regungen dort sind?
Luther empfindet den Schrecken vor der richtenden göttlichen Majestät. Dies ist nicht nur ein mittelalterliches Empfinden, sondern realistisch. Es ist realistisch, weil Luther um die Existenz eines heiligen Gottes wusste. Doch er wusste nicht, wie sein persönliches Leben Frieden mit diesem Gott finden konnte. Er bleibt Mensch.
Im Jahr 1507 empfing Luther die Priesterweihe im Dom zu Erfurt. Da sein Orden schnell die Begabung des jungen Mannes erkannte, beauftragte er ihn mit dem Theologiestudium. Bereits 1508 holte Johannes Staupitz, der Gründungsdekan der theologischen Fakultät, den begabten 25-Jährigen nach Wittenberg.
Hier in Wittenberg sollte Luther nun gründlich Theologie studieren. Außerdem sollte er selbst einige Grundkurse in Moralphilosophie unterrichten. Dies war eine Art Studium Generale.
Wittenberg: Ein Ort des Aufbruchs
Nun muss man sich Folgendes klar machen: Wittenberg – ich war vor einigen Wochen zu einem Vortrag wieder dort. Diese Stadt umgibt einen stark mit ihrer historischen Erinnerung.
Im Jahr 1508 ist Wittenberg ein ziemlich verschlafenes Nest, ein bescheidenes Städtchen mit 2.300 Einwohnern. Heute sind es über 130.000. Umgeben ist die Stadt von Sandhügeln, die ihr den Namen gaben: Weißer Berg, daraus wurde dann Wittenberg.
Als Luther dort ankommt, ist die Wittenberger Universität gerade einmal sechs Jahre alt, also eine Universität quasi im Embryonalstadium. Friedrich der Weise hat sie gegründet. Ausgerechnet dort. Und als Friedrich der Weise, der ja oft große Pläne hegte, diese Universität gründete, fragten sich viele: Was will der Kurfürst mit einer Uni am Rande der Zivilisation?
Aber von dort sollte ein Vulkan ausgehen, der ganz Europa verändern würde. Wie es einer der bedeutendsten Reformationshistoriker unserer Tage, Thomas Kaufmann, einmal schrieb: Dieses rasende Tempo, so sagt er, von diesem traditionslosen Universitätsstädtchen ausgehend, wurde die Reformation binnen kürzester Zeit zu einem europäischen Ereignis.
Weiterhin weist Kaufmann auch auf die Bedrohung durch den Islam hin und schreibt: „Auch die gemeinsame Erfahrung einer Bedrohung der Europäer durch die geheimnisvoll und allenthalben gefürchtete türkische Supermacht und ihre fremde Religion trug wesentlich dazu bei, dass die religiösen Veränderungen, zu denen es infolge der Reformation kam, umgehend europäische, ja globale Dimensionen annahmen.“
Das ist das Stichwort: die Türken vor Wien 1529. Von diesem Ereignis aus breitete sich dann die Hoffnungparole durch ganz Europa aus.
Luthers akademische Laufbahn und theologische Vertiefung
Luther arbeitet hart. Im Oktober 1512 legt er den Doktoreid auf die Heilige Schrift in der Wittenberger Schlosskirche ab. Er übernimmt von seinem Förderer Staupitz den Lehrstuhl für Bibelwissenschaften. Zu diesem Zeitpunkt ist der Mann knapp dreißig Jahre alt.
Von nun an besteht seine Hauptaufgabe darin, seine Studenten an die biblischen Texte heranzuführen. Das bedeutet für ihn selbst, diese Texte noch intensiver zu studieren – und zwar in den Ursprachen: das Alte Testament auf Hebräisch und das Neue Testament im griechischen Grundtext.
Luther kniet sich voll hinein. Je stärker er sich engagiert und je intensiver er die Bibel in ihren großen Zusammenhängen studiert, desto fragwürdiger wird ihm das, was er bisher bei seinen theologischen Lehrern über den Glauben verstanden hatte.
Er sucht leidenschaftlich nach Wahrheit, nimmt Gott ernst und bemüht sich um ein integres Leben. Doch die persönliche Folge davon ist, dass sein Gewissen nur noch mehr aufgescheucht wird. Er, der Doktor der Theologie, spürt seine Unzulänglichkeit umso deutlicher.
Im Rückblick wird er einmal in einer Predigt feststellen: „Wir haben das Licht später wiedergewonnen, doch als ich Doktor wurde, kannte ich es nicht. Als ich Doktor wurde, kannte ich es nicht, das Licht der Wahrheit, das Licht des Evangeliums.“ Das beschreibt die Situation in Wittenberg 1512.
Fünf Jahre später ist alles verwandelt.
Der Thesenanschlag und der Beginn der öffentlichen Reformation
- Oktober 1517: An diesem Tag schlägt ein Theologieprofessor ein Thesenpapier an die Schlosskirche zu Wittenberg. Es handelt sich um die berühmten 95 Thesen, die zunächst in lateinischer Sprache zur Disputation unter Kollegen gedacht waren, zugleich aber auch einen öffentlichen Anspruch darstellten.
Deshalb erfolgte der Anschlag an der Kirchentür. Diese Begebenheit wurde immer wieder von Historikern infrage gestellt, doch es gibt gute Gründe – und wissenschaftliche Literatur –, an diesem realen Thesenanschlag festzuhalten. Es ist nicht nur Folklore oder eine Legende. Dieser Tag ist heute der äußere Anlass des Jubiläums und wird daher als Reformationstag bezeichnet.
Damals sandte Luther seine Thesen an Kardinal Albrecht von Mainz. Albrecht von Mainz war der Auftraggeber eines Mannes, dessen Namen fast alle kennen: Tetzel, der Ablassprediger. Sein bekanntes Sprichwort lautete: „Wenn der Groschen im Kasten klingt, springt die Seele aus dem Fegefeuer.“ Das war der äußere Anlass.
Statt jedoch auf diesen Text von Luther zu antworten und sich theologisch damit auseinanderzusetzen, leitete Albrecht von Mainz den Text noch im Dezember 1517 weiter – wohin wohl? Nach Rom, an die übergeordnete Behörde. Er meinte, man werde dort schon wissen, wie man solchem „Irrsaal“ widerstehen könne, so nannte er die Thesen.
Der „Groschen, der im Kasten klingt“, ist also nur der äußere Anlass. Es geht um viel mehr, nämlich um die Frage, was wahre Buße ist.
Eine der Thesen, etwa These 21, lautet: „Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.“ In These 27 heißt es: „Menschenlehre verkündigen die, die sagen, dass die Seele nämlich aus dem Fegefeuer emporfliege, sobald das Geld im Kasten klingt.“
These 62 besagt: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ Dies haben wir bereits in der Einleitung gehört: die Herrlichkeit und Gnade Gottes. Luther fügt in einer weiteren These hinzu: „Dieser wahre Schatz ist zu Recht allgemein verhasst, weil er aus Erstem Letzten macht.“
Es geht also nicht nur um den Marktschreier Tetzel und den Kirchenfürsten Albrecht, sondern um die grundsätzliche Frage: Was ist echte Buße?
Die intellektuelle Suche Luthers nach Gewissheit
Und nun fragen wir uns: Woher hat dieser Theologieprofessor, der so lange gegrübelt, gezweifelt und gekämpft hat, plötzlich diese Gewissheit, um mit seinen Thesen in der Öffentlichkeit einer imperialen Macht gewissermaßen entgegenzutreten?
Damit kommen wir zu unserem zweiten Punkt, der uns am längsten beschäftigen wird: erstens die persönliche Krise, zweitens die Entdeckung einer Quelle.
Sie müssen wissen, Luther war ein klassischer Intellektueller. Er vertraute auf die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft. Was kann sie leisten? Was kann sie gar von Gott erkennen und über Gott herausfinden? Als Intellektueller war Luther hin- und hergerissen: Einerseits zwischen der Treue zur Überlieferung, andererseits in der verzweifelten Fahndung nach neuen Gründen, wenn ihn die alten nicht mehr überzeugen konnten.
Blinder Glaube hatte den Attacken des Zweifels nichts entgegenzusetzen, und Luther konnte sich mit einem blinden Glauben nicht abfinden. Aber wo sollte das sichere Fundament sein, der feste Grund, an dem der Glaube denkend vor Anker gehen kann, um Gewissheit, Überzeugung und inneren Frieden zu finden?
Wie passen Glauben und Denken zusammen? Das ist die Schicksalsfrage, an der sich bis heute die Geister scheiden. Damals prallten Mittelalter und Neuzeit hart aufeinander. Mittendrin stand der intellektuelle Augustinermönch Martin Luther, philosophisch an Aristoteles geschult und immer wieder dabei, die Grundlagen seines Denkens selbst zu überprüfen: Was ist denn jetzt noch sicher?
Er hatte sein Bußverständnis von der Bewegung des Ockhamismus gelernt, wo gelehrt wurde, dass zur Buße eine tiefe emotionale Zerknirschung gehörte, eine sogenannte Kontritio. Luther bemühte sich um diese Zerknirschung, doch er merkte, wie äußerlich und oberflächlich sie schien. Er wollte zerknirscht sein, konnte es aber nicht.
Einmal schreibt er: „Wenn ich am Andächtigsten war, so ging ich als Zweifler zum Altar, also zum Abendmahl, und als Zweifler ging ich wieder davon. Wir waren in dem Wahn, wir könnten nicht beten und würden nicht erhört, wenn wir nicht ganz rein und ohne Sünde wären. So war ich im Mönchtum ein Wollender und Laufender, aber ich kam je länger, je weiter davon, denn ich kannte Christus nicht anders als einen strengen Richter, vor dem ich fliehen wollte und doch nicht fliehen konnte.“ Zitat Ende.
Die alten Antworten tragen nicht mehr. Mit den alten Antworten merkt Luther, dass er nie weiterkommt als bis zu bestimmten menschlichen Meinungen und scholastischen Theorien. Aber die Bibel ist anders.
Und das, womit er sich professionell auseinandersetzen muss, entwickelt nun seine eigene Wirkkraft. Sie greift nach seinem Studenten, greift nach diesem Professor. Man kann sagen: Was hat sich bei Luther durchgesetzt? Die Bibel.
Die Bibel hat sich selbst bei ihm durchgesetzt mit ihrer eigenen Durchschlagskraft. Luther wird später vom Verbum efficax sprechen, vom effizienten Wort, das sich durchsetzt. Er wird die Suffizientia Scripturae rühmen, die Genügsamkeit der Schrift.
Das erkennt er in diesen qualvollen Wochen und Monaten. Darum: Wenn Sie Wahrheit suchen, gehen Sie in den Spuren des Reformators und setzen Sie sich dem aus! Wenn Sie wirklich die Wahrheit suchen, stellen Sie sich der Bibel!
Die Auseinandersetzung mit der kirchlichen Autorität
Luthers Gegner erkannten sofort, dass er auf diesem Weg eine völlig neue Autoritätsgrundlage gewann. Bereits im Ablassstreit berief sich Luther nicht auf eine andere Tradition gegen die kirchliche Tradition, sondern auf die Bibel.
Einige Monate später erläuterte er den Inhalt der Thesen noch einmal für eine breitere Leserschaft in seinem Sermon von Ablass und Gnade. Dort schrieb er, warum er sich bei seiner Sache so sicher war. Er sagte: „In den aufgeführten Punkten hege ich keinen Zweifel, sie sind deutlich in der Schrift bezeugt. Darum sollt auch ihr keinen Zweifel haben und las doktoris scholasticus scholasticus bleiben.“
Das bedeutet, dass die sogenannten Fachleute, die Doktores scholastici, Fachleute bleiben sollen, sobald sie sich gegen die Bibel stellen oder sich nicht der Bibel unterordnen. Luther hatte bemerkt, wie ihm auf der Suche nach Wahrheit die ganzen früheren Sicherheiten weggebrochen waren. Er forschte fieberhaft danach, was an die Stelle der alten Tradition treten könne, der er nicht mehr vertrauen konnte. Wo finde ich den sicheren Grund?
Damit stellte er das gesamte System infrage. Er drehte das gesamte Denk- und Lehrsystem gewissermaßen vom Kopf auf die Füße. Dieser Skandal, diese Umkehrung der Autoritätshierarchie – nicht mehr die Kirchenleitung entscheidet über die Bibel, sondern die Bibel entscheidet über die Kirchenleitung – wurde von Luthers klügeren Gegnern sofort erkannt.
So schrieb Sylvester Prierias, ein Mann der Kurie, als Antwort auf die Thesen Folgendes: „Wer sich nicht an die Lehre der römischen Kirche und des Papstes hält, als an die unfehlbare Glaubensregel, von der auch die Heilige Schrift ihre Kraft und Autorität bezieht, der ist ein Ketzer.“
Das heißt: Wer die Bibel nicht aus sich selbst heraus verstehen will und nicht sagt: „Ja, wie der Papst die Bibel auslegt, dem muss ich mich fügen“, oder „wie die kirchliche Glaubenskongregation die Bibel auslegt, dem muss ich mich fügen“, der wird als Ketzer bezeichnet.
Dieses Grundverständnis der römischen Kirche gilt bis heute. Im 20. Jahrhundert wurde es etwa vom Vatikanischen Konzil nochmals bestätigt. Dort heißt es: „Die Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut.“
Dagegen setzte Luther sein Sola Scriptura – allein die Schrift. Allein die Schrift, die nicht dem willkürlichen Zugriff subjektiver, selbsternannter Schriftforscher ausgesetzt ist, sondern die in ihren Aussagen eindeutig ist, die im Literalsinn klar ist und sich auch gegen Irrtümer durchsetzt.
Deshalb kann man auch eine falsche Auslegung der Bibel von einer richtigen Auslegung unterscheiden, indem man genau hinschaut, was wirklich in den Sätzen, in der Grammatik und in den Begriffen steht. Und das muss man nachweisen können.
Keine Willkür, nicht einfach der subjektivistische Missbrauch der Bibel für die eigene Meinung, sondern harte Arbeit und gründliches Studium. Im Gebet, dass Gott einen leiten und die richtigen Wege finden lassen möge. Das ist das Sola Scriptura.
Die Eskalation des Konflikts und Luthers Verteidigung
Und jetzt beginnt der Kampf erst richtig, nachdem Luther diese Entdeckung gemacht hat. Es folgen die berühmten Geschichten, die Sie teilweise kennen, etwa die auf der Wartburg und die Entführung.
Nachdem Luther seine Thesen angeschlagen hat und sich diese in Windeseile verbreitet haben, unterstützt er sie durch weitere Schriften. Man kann sagen: Das Imperium schlägt zurück. Die Obrigkeit spürt die Wirkkraft dieser Wahrheit, wie wir bereits in der Einleitung gehört haben.
Im Herbst 1518 setzt die Behörde einen Prozess wegen Ketzerei in Gang. Sie können hier vielleicht noch ergänzen: 1518 das Verhör durch Kardinal Cajetan im Herbst. Im Jahr 1519 folgt die Leipziger Disputation mit Johann Eck, einem katholischen Theologen. Dieser merkt, dass er Luther letztlich nicht gewachsen ist.
Als dann alle anderen Überzeugungs- oder Überredungsversuche nichts fruchten, wird 1520 der Ketzerprozess wieder aufgenommen. Dort finden Sie die Zahlen: 1520, die Bannandrohungsbulle, mit der Luther aufgefordert wird, seine Schriften zu widerrufen und sich von allem zu distanzieren, was er bis dahin gesagt hat. Das geschieht am 15. Juni.
Luther antwortet darauf im Oktober, indem er Papst Leo seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ widmet. Darin legt er noch einmal die Grundzüge des Glaubens an das Evangelium und des Vertrauens auf die Heilige Schrift dar. Er appelliert an ein neues Konzil und sagt: Lasst uns noch einmal zusammenkommen, die Bibel auf den Tisch in die Mitte legen und schauen, was dort wirklich steht. Doch das wollen die Mächtigen zuallerletzt.
Am 10. Dezember 1520 kommt es zum endgültigen Bruch. Luther reagiert auf die Verbrennung seiner eigenen Bücher durch die katholische Kirche. Dabei werden auch die Bannandrohungsbulle sowie einige Schriften der Scholastik vor dem Wittenberger Elstertor verbrannt.
Er inszeniert das sehr wirkungsvoll. Luther war ein Mann der dramatischen Gesten und wollte das öffentlich deutlich machen. Er lässt die Bannandrohungsbulle, mit der man ihm den Mund stopfen wollte, in Flammen aufgehen – in aller Öffentlichkeit. Damit demonstriert er: Daran binde ich mich nicht, ich bin frei im Gewissen, weil ich allein der Wahrheit, der Bibel, mich verpflichtet weiß.
Daraufhin verhängt der Papst am 3. Januar 1521 den Bannfluch, und Luther wird offiziell exkommuniziert. Nun gerät sein Leben ernsthaft in Gefahr. Was wird man mit diesem Ketzer machen?
Doch sein Kurfürst – man könnte profan sagen, er hatte einen Narren an Luther gefressen – ahnte, dass Wahrheit in dem steckte, was der Professor in Wittenberg lehrte. Er hielt selbst noch an bestimmten alten Traditionen fest und hing sozusagen dazwischen, war aber in seinem Gewissen irgendwie angerührt und wollte Luther verteidigen.
Kurfürst Friedrich der Weise erreicht durch zähes Verhandeln, dass Luther seine Position vor dem nächsten Reichstag noch einmal erläutern und verteidigen darf. Außerdem wird ihm freies Geleit zugesichert. Das war wichtig. Das hat Friedrich der Weise für seinen Professor erstritten.
Der Reichstag zu Worms und Luthers mutige Haltung
Am 2. April 1521 begibt sich Luther auf die Reise nach Worms. Dies ist kein Spiessrutenlaufen, sondern eher ein Triumphzug. Er predigt in Erfurt, in Gotha, in Eisenach in der Georgenkirche und sogar in Worms, wo der Reichstag stattfinden wird.
Dann kommen die beiden Schicksalstage: der 17. und 18. April. Am 17. April steht Luther vor dem Reichstag zu Worms vor der versammelten Schar der Fürsten und Reichsstände. Er wird verhört und noch einmal, ein letztes Mal, zum Widerruf aufgefordert. Dabei tritt er sehr sachlich auf, wie berichtet wird. Er muss an beiden Tagen erscheinen, am 17. und 18. April.
Luther weiß, dass er, wenn er jetzt das Falsche sagt, sein Todesurteil unterschreiben könnte. Er kennt die Geschichte von Johann Hus, der hundert Jahre zuvor Rektor der Prager Universität war und ein Vorläufer Luthers. Hus wurde trotz zugesichertem freiem Geleit auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Luther weiß das.
Nach einem Tag Bedenkzeit und mit dem Wissen, dass sein Widerruf seinen sicheren Tod bedeuten könnte, lehnt Luther den Widerruf mit folgender Begründung ab. Ein kleiner Abschnitt daraus ist auch auf Ihrem Begleitblatt zitiert. Er sagt:
„Es sei denn, dass ich durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Gründe der Vernunft überführt werde, denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es feststeht, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. So bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen. Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort, daher kann und will ich nichts widerrufen, da es weder sicher noch recht ist, gegen das Gewissen zu handeln.“
Wenn Luther hier von Vernunftgründen spricht, meint er nicht die Vernunft als eigenständige Instanz neben der Bibel. Er meint ein sauberes Argumentieren auf der Basis der Schrift. Das ist es, was er mit Vernunftgründen meint. Und daran ist sein Gewissen gebunden.
Er sagt dann weiter: „Da mein Gewissen in Gottes Worten gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen!“
Die oft zitierte Version „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“ ist nicht belegt. Aber das ist der Sinn dessen, was Luther hier sagt: „Gott helfe mir, Amen!“ Und das ist evangelischer Glaube.
Es ist ein von seiner Schuld überführtes Gewissen, das sich allein auf die Vergebung durch Christus verlässt, gefangen in der Heiligen Schrift. Es ist die Freiheit des Gewissens des Einzelnen, die ihre Kraft aus der Bindung an das Wort Gottes bezieht.
Als Luther gegen diese Angst und Bedrohung sich zu dem Wort Gottes bekannt hat und den Raum wieder verlässt, soll er gesagt haben: „Ich bin hindurch, ich bin hindurch, ich habe nicht verleugnet, ich bin dem Herrn treu geblieben.“
Er wird nicht verhaftet. Ein Schutzbrief gewährt ihm 21 Tage freies Geleit. Das war der Plan des Kurfürsten.
Die Entführung und Zuflucht auf der Wartburg
Am 25. April tritt Luther die Rückreise an, und jetzt tickt die Uhr. Die Frage ist: Wann werden sie zugreifen? Der Kaiser verhängt die Reichsacht und erklärt Luther für vogelfrei. Das müssen Sie wissen: Der Reichstag verhängt am 26. Mai 1521 das sogenannte Wormser Edikt, das er nochmals zurückdatiert auf den 8. Mai.
Dieses Wormser Edikt verbietet, Luther zu unterstützen, ihn zu beherbergen oder seine Schriften zu lesen oder gar zu drucken. Wer Luther also versteckt hätte, hätte sich schuldig gemacht. Im Gegenteil wird den Leuten geboten, ihn festzusetzen und dem Kaiser zu überstellen, wenn sie ihn entdecken. Seine Gegner hoffen, dass sich jemand findet, der einen heimtückischen Anschlag wagt und Luther erledigt.
Bereits am 28. April schreibt Luther in einem Brief an seinen Freund, den Maler Lukas Cranach: „Ich lasse mich eintun und verbergen, weiß selbst nicht wo.“ Es gibt also einen Plan, einen Entführungsplan. Luther sagt, er lasse sich eintun und verbergen, weiß selbst nicht wo.
Am 2. Mai predigt er noch einmal in der Georgenkirche in Eisenach. Einige Wochen später schreibt er an Spalatin: „Auch in Eisenach habe ich gepredigt.“ Er war also schon unter dem Bann, predigte aber noch öffentlich in Eisenach. Dort gab es natürlich auch einen Pastor. Nun hören Sie, was Luther über diesen Pastor schreibt: „Auch in Eisenach habe ich gepredigt, aber der furchtsame Pfarrer protestierte dagegen in Gegenwart von Notar und Zeugen. Er hat vor Zeugen gesagt, mit diesem Luther habe ich nichts zu tun, dass er hier predigt, geschieht gegen meinen Willen.“
Hinterher entschuldigte sich der Pastor demütig bei Luther. Er habe dies tun müssen aus Furcht vor seinen Vorgesetzten. Dieses Verhalten kennen wir noch heute.
Dann besucht Luther seine Verwandten in Möhra. Am Abend des 4. Mai wird er auf dem Heimweg nahe Schloss Altenstein von Friedrichs Soldaten heimlich entführt und auf der Eisenacher Wartburg festgesetzt. Dort ist er endlich in Sicherheit.
Es ist klirrkalt da oben, der Wind pfeift. Viele von Ihnen sind bestimmt schon öfter dort gewesen. Dagegen ist es hier in diesem Zelt noch warm, muss man sagen. Damit es in diesem Zelt auch warm bleibt, wollen wir kurz ein Lied singen. Währenddessen lüften wir kurz durch – keine Sorge, nicht öffnen, sondern einmal kurz durchheizen – und dann geht es weiter.
Die Zeit auf der Wartburg und die Bibelübersetzung
Wir befinden uns jetzt auf der Wartburg. Dort wird sich Luther vom Mai 1521 bis zum 1. März 1522 aufhalten. Aus dieser Zeit stammen die berühmten Bilder Luthers als Junker Jörg, die von Lukas Cranach gemalt wurden. Auf diesen Bildern sieht er ganz anders aus.
Luther schreibt in einem Brief an Spalatin: „So bin ich denn nun hier.“ Sie müssen wissen, Spalatin war eigentlich der Hofkaplan des Fürsten. Er hatte fast einen freundschaftlichen Draht zu Luther, könnte man sagen. In seinem Brief aus dieser Zeit schreibt Luther weiter: „Meine Kutte hat man mir abgenommen und ein Reitergewand angezogen. Ich lasse mir Haare und Bart wachsen. Du würdest mich schwerlich erkennen, da ich mich selber schon nicht mehr wiedererkenne. Jetzt lebe ich in christlicher Freiheit, frei von allen Gesetzen jenes Tyrannen.“
Mit „jenem Tyrannen“ meint er das „Schwein von Dresden“, also den Herzog. „Obwohl ich lieber möchte, dass jenes Schwein von Dresden gewirkt hätte, dass er mich töte, während ich öffentlich predige, wenn es Gott gefiele, dass ich um seines Wortes willen öffentlich leide. Es geschehe der Wille des Herrn. Lebt wohl und bete für mich,“ so endet der Brief mit der berühmten Formel „vale et ora pro me“ – lebe wohl und bete für mich. Außerdem grüßt er die ganze Hofgesellschaft.
Luther muss diese Zeit durchleben. Es ist eine Zeit des geistlichen Kampfes. Aus dieser Zeit stammen auch viele seiner Äußerungen über den Kampf mit dem Teufel. Die Einsamkeit macht ihm zu schaffen, und er hat gesundheitliche Verdauungsprobleme. Er sagt, im „Reich der Vögel“ sei er wirklich ganz auf sich selbst gestellt und auf den Schutz seines Herrn allein angewiesen.
Im Herbst 1521 übersetzt er das Neue Testament in nur elf Wochen ins Deutsche. Das ist eine unvorstellbare, auch linguistische Leistung. Wahrscheinlich hat er sich immer dann warm geschrieben, wenn ihm kalt war. Seine Bibelübersetzung erschien ab September 1522 – das sogenannte Septembertestament. Danach folgten viele weitere Auflagen, Überarbeitungen und Nachdrucke. Das Alte Testament kam später hinzu.
Sie müssen wissen, es gab vorher schon 14 hochdeutsche und vier niederdeutsche gedruckte Bibelausgaben. Diese früheren Übersetzungen waren für das einfache Volk jedoch kaum verständlich, da ihre Sprache gestellt war. Vor allem basierten sie auf der lateinischen Version, der Vulgata, die auf der griechischen Septuaginta beruhte. Luther aber ging wirklich auf den Grundtext zurück, auf den besten Text des griechischen Neuen Testaments, den er damals finden konnte.
So entwickelte sich der Bibeldruck weiter. Gott hatte dafür gesorgt, dass der Buchdruck weit genug verbreitet war. Mit Hilfe der Bibel und Luthers erklärender Schriften breitete sich die Botschaft im ganzen Land und weit darüber hinaus aus.
Die Beantwortung der existenziellen Fragen: Die Entdeckung einer Person
Die wichtigste Frage haben wir uns zum Schluss aufgehoben, nämlich: Wurde Luthers persönliche Schicksalsfrage auch beantwortet? Was kommt nach dem Tod? Kann ich Gewissheit darüber haben, wie Gott zu mir steht?
Darum gehen wir in einem letzten kurzen Abschnitt noch einmal auf die Entdeckung einer Person ein – also einen Studenten in der Krise –, auf die Entdeckung einer Quelle und zuletzt auf die Entdeckung einer Person.
Ich erinnere noch einmal an die Not, die Luther in seinem Mönchtum erlebt hat. Wenn ich am andächtigsten war – Sie haben das im Ohr – ging ich als Zweifler zum Altar und als Zweifler ging ich wieder weg. Wir waren in dem Wahn, wir könnten nicht beten, wenn wir nicht ganz rein und ohne Sünde wären. Ich kannte Christus wohl als einen strengen Richter, vor dem ich fliehen wollte und doch nicht fliehen konnte.
Wissen Sie, was er nach seiner Bekehrung sagen wird beziehungsweise schon vor seiner Bekehrung? Er wird einmal sagen: Wenn ich wüsste, dass Gott mir gnädig ist, würde ich vor Freude einen Luftsprung machen. Wenn ich diese Gewissheit haben könnte, dass der heilige, allmächtige Gott mir gnädig ist, dass ich sein Kind sein darf und dass er mich in seinen Himmel aufnimmt, würde ich vor Freude einen Luftsprung machen.
Jetzt gehen wir noch einmal ganz kurz zurück ins Jahr 1518. Luther ist dabei, die Bibel zu entdecken, so wie ein Tastender, der immer mehr Boden unter die Füße bekommt. Nur eine Frage ist ihm noch nicht klar. Es ist die Frage, die in Römer 1,16-17 angesprochen wird. Das wird später, wie Luther bezeugen wird, sein Bekehrungstext.
Das Wort von der Gerechtigkeit Gottes – ich lese noch einmal die Verse 16 und 17, die wir bereits in der Einleitung gehört haben: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht, alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.“
Luther hat später ausführlich beschrieben, wie er zum echten Verständnis dieses Textes gekommen ist – und zwar in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften von 1545. Darin teilt Luther uns sogar den Ort mit, an dem Gott ihm diese Erkenntnis geschenkt hat: im Turm des Wittenberger Klosters.
Im Wittenberger Kloster gab es – und das können wir heute besonders gut nachempfinden – einen geheizten Raum. Diesen geheizten Raum hat Luther als Arbeitszimmer benutzt, daher spricht man vom Turmerlebnis. Der Turm wurde damals Hypokausturm genannt. Leider steht der Turm nicht mehr, aber die Tür in der Wand, inzwischen zugemauert, kann man noch besichtigen.
Der Schlüssel für Luther war der Begriff der Gerechtigkeit Gottes. Im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart. Luther verstand die Gerechtigkeit immer aufgrund seiner Tradition als die Messlatte, nach der Gott mein Leben beurteilt – die Gerechtigkeit, die Gott von uns fordert in seiner Heiligkeit.
Luther verstand diesen Begriff immer als die eigene, aktive Gerechtigkeit, die er leisten müsste. Doch Gott schenkte ihm im wiederholten Studium dieser Verse die Erkenntnis, was hier wirklich gemeint ist: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die Gerechtigkeit Gottes, die dem Glauben geschenkt wird – um Christi willen.
Gerechtigkeit ist also nicht die Messlatte, nach der Gott mein Leben beurteilt, sondern der Freispruch, den Gott mir um Christi willen schenkt und den ich allein im Glauben an Christus ergreife – sola fide. Es ist seine Gerechtigkeit, nicht meine. Es ist Gottes Gerechtigkeit, die er mir zuspricht, die er mir schenkt, die er mir um Christi willen wie einen Schutzmantel umlegt als die Vergebung der Schuld.
Ein späterer Dichter hat danach die berühmten Verse geschmiedet:
„Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid; damit will ich vor Gott bestehen, wenn ich zum Himmel werde gehen.“
Christi Blut und Gerechtigkeit – um diese Gerechtigkeit geht es.
In dieser Vorrede beschreibt Luther, wie er mit Gott gehadert hat. Er sagt: „Ich war empört über Gott, wo Gott uns nun schon das Gesetz mit seiner Gerechtigkeit konfrontiert. Das reicht doch schon, das lässt uns doch schon genug verzweifeln. Nun auch noch im Evangelium! Im Evangelium kommt noch einmal der gleiche Druck und die gleiche Hürde, die wir nie werden überspringen können.“ Er berichtet, wie empört er über Gott war.
Dann schenkt Gott ihm die Erkenntnis, was damit wirklich gemeint ist: nicht die aktive, sondern die passive Gerechtigkeit. Ich lese es wörtlich aus der Übersetzung vor:
„Durch das Evangelium wird Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben. Der Gerechte lebt aus Glauben.“
Luther schreibt, als er das begriffen hatte: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Türen in das Paradies selbst getreten. Und da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht.“
Er durchlief dann die ganze Schrift nach diesem Gedanken und sammelte entsprechende Vorkommen auch bei anderen Vokabeln: Werk Gottes, das heißt, was Gott in uns wirkt; Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht; Weisheit Gottes, durch die er uns weise macht; Stärke Gottes, Heil Gottes, Herrlichkeit Gottes.
Wie sehr ich vorher die Vokabel Gerechtigkeit Gottes gehasst hatte, so preiste ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Stelle aus Paulus’ Brief wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen. (Originalton Luther)
Er durfte es begreifen und erlebte das, was jeder Mensch erfährt, der das Evangelium entdecken darf: dass er beginnt zu staunen über das Erbarmen Gottes, weil er selbst erkannt hat, wie verloren er wäre, wenn es nur auf seine eigene Frömmigkeit, auf seine eigene Güte, auf sein eigenes Gutsein ankäme.
Die zentrale Rolle Christi und der fröhliche Wechsel
Solus Christus – die Entdeckung einer Person. Und ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass dies ein weiter Weg war, wie Gott Luther geführt hat – in diese Verzweiflung, in das Fahnden nach dem Wort Gottes.
1517 war ein wichtiger Zwischenschritt, um zu begreifen, dass wir das Heil nur in der Bibel finden. Buße ist etwas, was Gott schenken muss. Doch der letzte Dreh, der Luther zur endgültigen Gewissheit führte, ist schwer genau zu datieren. Wenn man alle Indizien zusammennimmt, kann man es nicht hundertprozentig genau festlegen. Ich bin der Meinung, dass dies Ende 1518 geschehen ist, wie Luther es berichtet.
In den folgenden Schriften sieht man, wie Luther in seinem Verständnis des Evangeliums immer festeren Boden unter die Füße bekommt. Ein letztes Beispiel möchte ich noch bringen, weil es so berühmt ist: seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Dort versteht Luther noch besser, warum Christus uns vergeben kann und warum der Glaube an ihn allein uns rettet. Denn Christus hat stellvertretend für uns die Strafe getragen.
Für Luther kommt Mosaikstein für Mosaikstein dazu, um ein immer vollständigeres Bild zu gewinnen. Dieses Zitat ist so wunderbar, dass ich Ihnen am Ende Ihres Blattes einen kleinen Ausdruck davon notiert habe: Christus aller Güter und Seligkeit – diese werden der Seele des Menschen eigen. Das nennt Luther den „fröhlichen Wechsel“.
Die Seele dagegen hat alle Untugenden und Sünden auf sich genommen, diese werden Christus eigen. Hier beginnt der fröhliche Wechsel und Austausch. Das heißt: Meine Sünden darf ich auf Christus laden, dafür rechnet er mir seine Vollkommenheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit zu. Er entsorgt meine Schuld und nimmt sie auf sich, als hätte er sie selbst begangen. Und er schenkt mir seine Vergebung, als hätte ich sie selbst verdient, obwohl ich nur Verdammnis und Hölle verdient gehabt hätte – der fröhliche Wechsel.
Luther schreibt weiter: „So wird die Seele von allen ihren Sünden allein um des Glaubens willen los und frei mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus beschenkt.“ Der letzte Satz lautet: „Ist das nun nicht eine fröhliche Hochzeit?“ Dort schreibt er wirklich so: Der reiche, edle, gerechte Bräutigam Christus heiratet das arme, verachtete, unansehnliche Häuflein.
Er befreit sie von allem Übel und ziert sie mit allen Gütern. Daher ist es unmöglich, dass die Sünden sie verdammen, denn sie lasten nun auf Christus und sind in ihm verschlungen. Deshalb besitzt sie – also die Braut Christi, den Gläubigen – eine so reiche Gerechtigkeit in ihrem Bräutigam. Das ist die Antwort und der neue Ton.
Am Kreuz hat ein Austausch stattgefunden: Jesus Christus hat meine Schuld übernommen und mir seine Gerechtigkeit geschenkt. Das ist die Wahrheit der Stellvertretung, mit der Christus alles für uns trägt. So sind am Ende beide Seiten – und das müssen wir verstehen – ganz eng miteinander verbunden: das objektive Geschehen des Kreuzes und unsere ganz persönliche Verbindung mit dem Gekreuzigten.
Das Heil ist objektiv außerhalb unserer selbst, damals garantiert und vollbracht – extra nos. Aber dieser Christus, der das Heil für uns vollbracht hat, zieht uns persönlich in die Gemeinschaft mit ihm hinein. Deshalb konnte Luther diesen wunderbaren Satz prägen: „Christus und ich, wir sind miteinander ein Kuchen.“
Das bedeutet: Vorher waren die Zutaten getrennt – Butter, Mehl und alles, was dazugehört. Aber jetzt sind sie so ineinander verrührt und miteinander gebacken, dass sie untrennbar sind. Das ist die Freude des Glaubens, das ist die Freude des Evangeliums: Jesus und ich dürfen nicht mehr geschieden werden.
In Römer 8 heißt es: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus ist. Diese feste Brücke baut er mir in seinem Wort. Dort schenkt er mir die Verheißung, auch in Römer 1, und ich darf – und das ist Glaube – mich an diese Verheißung klammern und sagen: Herr Jesus, du hast es versprochen, du hast es mir auch durch Paulus im Römerbrief schwarz auf weiß gesagt.
Und ich klammere mich an dich. Ich verlasse mich zu meiner Rettung nur noch auf dich. Nimm dich meines erbärmlichen Lebens an, schenke mir die Vergebung meiner Schuld und bring mich sicher nach Hause. Wenn wir so beten, dürfen wir gewiss sein, dass der Herr es erhören wird.
Zeugnis von Luthers Frau Käthe und die Gewissheit des Glaubens
Es gibt ein vergleichbares Zeugnis von Luthers Frau Käthe. Als sie wirklich wusste, dass es jetzt auch für sie ans Sterben geht, sagte sie einmal diesen wunderbaren Satz: „Ich hänge mich an Christus wie die Klette ans Kleid.“
Käthe hatte ihr Leben lang viel Gartenarbeit gemacht. Deshalb kannte sie die Klette gut, die sich fest an das Kleid anheftet. Mit diesem Bild drückte sie ihre Sicherheit aus: Sie hielt sich fest an Christus, so wie die Klette am Kleid haftet.
Am Schluss dürfen wir das zusammenfassen: Luthers Entdeckung ist unendlich viel weitreichender als die von Alexander Fleming. Fleming sorgte dafür, dass vielen Menschen das Leben verlängert werden konnte. Die Entdeckung, die Gott Luther geschenkt hat, nämlich die Wiederentdeckung des Evangeliums, garantiert, dass die, die an Christus glauben, das ewige Leben geschenkt bekommen.
So war Luther getrost. Er bewährte dies gewissermaßen noch einmal mit seinem Sterben. Er wusste: „Ich sterbe in die Hände dieses Herrn hinein. Die furchtbare Macht des Todes ist überwunden, weil Christus, der Auferstandene, mich festhält.“
Das macht uns nicht stolz, sondern demütig. Wir wissen, dass wir ein Leben lang auf ihn angewiesen bleiben. Auch der große Reformator wusste das in seiner letzten Stunde.
Christus wird ihn nicht in den Himmel aufnehmen, weil er ein wichtiges Werkzeug in seiner Hand war zur Dynamik der Reformation. Christus wird ihn nicht in sein Reich aufnehmen, weil er sich für die Bibelübersetzung stark gemacht oder unendlich viele Predigten gehalten hat.
Sondern er hängt wie eine Klette an Christus. Er wird ihn allein aufgrund seiner Gnade aufnehmen.
Abschluss: Luthers Vermächtnis und der Appell zum lebenslangen Studium des Wortes Gottes
So schließe ich mit dem berühmten Zettel, den man an Luthers Sterbelager fand.
In diesem letzten Zettel begegnet uns erneut der flammende Appell, Gottes Wort ein Leben lang zu ergründen und darin niemals nachzulassen. Diesen Appell wollen wir heute auch am Reformationstag 2024 hören.
Da schreibt Luther: Vergil, Zirten und Bauerngedichte können nur verstehen, wer selbst wenigstens fünf Jahre Hirte oder Bauer gewesen ist. Auch Ciceros Texte seien nur dem nachvollziehbar, der jahrelang für ein Staatswesen gearbeitet habe. Umso mehr gelte das für das Wort Gottes.
Er schreibt: „Die Heiligen Schriften meinen niemand genügend geschmeckt zu haben, wenn er nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Kirche regiert hat.“ Deshalb ist es ein ungeheures Wunder, um erstens Johannes den Täufer, zweitens Christus, drittens die Apostel und dann, als er uns tief ins Gesicht schaut, sagt er: „Du, versuche diese göttliche Ernte nicht.“ Damit meint er dieses göttliche Kunstwerk. „Versuche diese göttliche Ernte nicht, sondern verehre gebeugt ihre Spuren.“
Bis dahin ist der Text in lateinischer Sprache verfasst. Nur der vorletzte Satz begegnet uns in schlichtem Deutsch. Der vorletzte Satz lautet: „Wir sind Bettler.“
Dann fügt Luther wieder auf Latein hinzu: „Hoc est verum“, das heißt: „Das ist wahr.“
„Wir sind Bettler, wir bleiben Bettler, aber wir betteln vor dem reichsten Herrn und König und Retter, den es gibt. Und darum sind wir in unserem Betteln getrost und gewiss, weil er uns gerettet hat. Amen!“