Erwartungen und erste Erfahrungen im Dienst beim Landesbischof
Ins Vorzimmer unseres damaligen Landesbischofs, Doktor Haug, also so etwas, wie der Bruder Werner beim Herrn Oberbürgermeister macht, dachte ich: Ich bin jetzt die rechte Hand. Durch meine Hand läuft alles, was der Herr Landesbischof sagt, tut und denkt. Ich bin der Filter.
Aber es kam dann ganz anders. Ich war nur ein kleiner Zuarbeiter und Halbraussschmeißer für unliebsame Personen. Nur einmal hat Herr Landesbischof Haug gesagt: „Ich brauche Sie. Ich muss vor jungen Leuten ein Referat halten an der Jugendwoche in Stuttgart, was heißt evangelisch.“ Da habe ich mich am Riemen gerissen, toll gearbeitet, mit Zitaten und geistesgeschichtlichen Durchblicken.
Und der Herr Landesbischof hat gesagt: „Jetzt weiß ich, wie ich es nicht mache.“ Das war ein ganz großer Tiefschlag meines Lebens. Er hat damals dann das Referat erarbeitet, das auch gedruckt erschien: Sind denn wir schon evangelisch? In Antiquariaten bekommt man es manchmal, man kauft es, wenn man es findet.
Die Frage nach dem evangelischen Selbstverständnis heute
Sind wir denn schon wirklich evangelisch? Wir haben keinen Anlass, Katholiken oder Muslime zu kritisieren. Doch sind wir, die wir uns evangelisch nennen und auf deren Lohnsteuerkarte ein F steht, tatsächlich evangelisch? Haben wir das verstanden?
Heute herrscht eine große Unsicherheit, auch innerhalb unserer Kirche – quer durch die evangelische Kirche in Europa. Was bedeutet es eigentlich, evangelisch zu sein?
Vor wenigen Wochen fand in Wien die sogenannte Donaukirchenkonferenz statt. Dabei ging es um all die Kirchen im früheren Österreich-Ungarn, die in Sprachgruppen aufgeteilt sind: Serbisch, Slowenisch, Kroatisch, Ungarisch, Polnisch. Dazu kommen noch weitere Unterteilungen in lutherisch, reformiert, baptistisch, methodistisch – alles sehr kleine Gemeinden mit jeweils zwölf- bis fünfzehntausend Evangelischen. Jeder dieser Gruppen hat einen Bischof mit einem großen Bischofskreuz.
Diese Kirchen fragen sich jetzt: Vierzig Jahre lang war evangelisch zu sein vor allem ein bisschen Sozialismuskritik und ein Hort des Widerstands. Nun, da wir Freiheit haben, was bedeutet evangelisch sein eigentlich jetzt? Was haben wir zu sagen?
Wir sind gefragt im Gemeinsamen Haus Europas. Die katholische Kirche weiß, was sie mit der Neuevangelisierung Europas vorhat. Sie wird mit großer Stärke die Zweidrittelmehrheit im neuen Europa stellen.
Was haben wir als kleine evangelische Minderheit in Europa einzubringen? Sehr vieles: Bewahrung der Schöpfung, Frieden, Gerechtigkeit. Aber, Entschuldigung, was haben wir wirklich geistlich einzubringen als Evangelische?
Die geistliche Kraft der Reformation und ihre Bedeutung heute
In der Reformation war der Aufbruch eine Kraft, die das ganze Leben der damaligen Menschen belebt hat. In Ulm diskutierte man in den Zunftstuben der Bäcker und Metzger über die Gnade Gottes. Dieses Thema war sehr aktuell.
Wenn man in der Geschichte von Biberach und Ravensburg forschte, stellte man fest, dass auf den Märkten die Leute, wenn sie ihr Vieh brachten oder ihren Salat verkauften, über das Wort Gottes sprachen. Damals sah das Gesicht Europas anders aus als heute. Nicht die Politik stand im Vordergrund, sondern die Frage: Habe ich ein Anrecht auf die Gnade Gottes oder nicht? Kann ich vor Gott bestehen oder nicht? Das war die zentrale, aktuelle Frage.
Deshalb sollten wir uns auch heute diese Fragen stellen, selbst wenn es Katholische unter uns geben sollte. Es gibt viele gute evangelisch-katholische Christen. Manches Wort zum Sonntag, gesprochen von katholischen Priestern und Schwestern, ist gut evangelisch. Es hängt nicht an der Konfession, sondern daran, ob das Evangelium – diese Kraft Gottes – wirksam ist.
Guter Zeichen hat uns gesagt, dass das Evangelium eine Kraft Gottes ist. Diese Dynamik ergreift und erfüllt uns, sodass etwas von uns ausstrahlt. Dabei möchte ich uns heute ein wenig helfen.
Evangelisch sein bedeutet: Mit der Bibel leben
Zuerst einmal bedeutet sicher evangelisch sein, mit der Bibel zu leben – aus der Bibel zu leben.
Mein langjähriger Begleiter und guter Freund, Professor Doktor Helmut Lamperter, langjähriger Vorsitzender des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg, liegt im Sterben. Ich habe ihn am letzten Samstag in Tübingen besucht. Sein edles Gesicht erinnerte mich an die vielen Sitzungen im Landesarbeitskreis des Jugendwerks, wenn Helmut Lamperter begonnen hat zu beten. Er schloss sein Gebet immer mit dem Liedvers „Gib, dass wir leben aus deinem Wort, Amen“ ab.
Dann folgte beinahe eine halbe Minute Pause, bevor er aus seinem Gebet wieder auftauchte, fast so, als käme er aus einer anderen Welt. Das war sein Gebet: „Gib doch, dass ich aus deinem Wort lebe und dass das nicht bloß Garnierung meines Lebens ist.“
Wir wissen, dass Martin Luther uns als das Wichtigste der Reformation die Bibelübersetzung in unserer Sprache geschenkt hat. Dabei war der Heilige Geist offenkundig am Werk. Es war nicht bloß eine einfache Übertragung, sondern bis heute ein Kunstwerk.
Als es um die Revision der Lutherbibel in der EKD-Synode ging, hat uns ein Literaturprofessor gesagt: „Hören Sie einmal die Weihnachtsgeschichte! Dieses E und dieses H und dieses I – es waren in derselben Gegend Hirten auf dem Felde bei den Hürden. Sie hüteten des Nachts ihre Herde, wie eine Symphonie, bloß mit H, I und E.“
Er sagte weiter: „Hören Sie nicht die Weihnachtsglocken klingen, wenn es heißt: ‚Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen‘? Kein Wunder, dass das zu Herzen geht, nicht?“
Der Herr Jesus nahm in der Nacht, da er verraten ward und mit seinen Jüngern zu Tische saß, das Brot, sagte Dank, brach es, gab es seinen Jüngern und sprach – wie ein großer Orgelklang – dieses weite, tiefe A.
Aber es geht doch nicht bloß um Semantik oder Sprache, sondern darum, dass das Wort Gottes eine Kraft ist, voll göttlicher Kraft.
Die Kraft des Wortes Gottes in der Geschichte und im Leben der Menschen
Als der Glaube in die Familie meiner Vorfahren kam, war eine Urururgroßmutter Schulmeistersfrau in einem alten, armen Dorf auf der Schwäbischen Alb. Sie hatte nicht einmal einen eigenen Pfarrer. Wenn der Pfarrer aus dem Filialdorf Dettingen, wo Gott neues geistliches Leben geschenkt hatte, zu Besuch kam, fragte die Schulmeistersfrau: „Herr Pfarrer Fricker, was muss man tun, wenn man auch einmal so fromm werden will?“
Darauf antwortete er: „Frau Schulmeisterin, lesen Sie den Römerbrief.“ Sie begann zu lesen, bis zum Kapitel eins, wo steht, dass Gott diese Welt dahingegeben hat in allerlei Schlechtes, in Ohrenbläserei, in Geiz, Neid und Hass. Sie machte eine Bibelstunde daraus. Als der Pfarrer sie fragte, wie es beim Bibellesen gegangen sei, sagte sie: „Das ist was für Dettinger, aber nicht für uns Hilbener.“
Er entgegnete nur: „Lesen Sie es noch einmal.“ Dann ergriff Gott sie, und sie erkannte: „Das bist doch du, voll alles Bösen, voll Ohrenbläserei, voll Geiz, Neid und bösen Dingen.“ Sie las auch, dass das Evangelium eine Kraft ist, solche Menschen zu retten, die es brauchen. Das war der Anfang mit einer Frau. Gott hat sehr oft mit Frauen begonnen, die diese Kraft Gottes zuerst erlebt haben.
Bruder Greichen und ich durften viele schöne Jahre im Remstal wirken. Wenn ich als Dekan in den Aufzeichnungen meiner Vorgänger, des Spezialsuperintendenten, las, erfuhr ich von der grenzenlosen Armut in diesem Tal mit seinen Weinhängen, wo alle zwei Jahre Missernte war. Es gab auch kein Getreide. Die Menschen gingen in den Schurwald hinauf, lösten die Rinde von den Buchen ab, mahlten sie und mischten sie mit etwas Mehl.
Es herrschte furchtbare, grenzenlose Armut, Hoffnungslosigkeit, Trunksucht, Diebstahl und sogar Mord. Ab etwa 1840/50 wurde es anders. Die Herren Dekane von Schandorf und Gmünd schrieben, dass ein neuer Geist in ihr Tal komme – Hoffnung. Ein Impuls setzte ein, und die Menschen wurden wieder tätig in der Arbeit. Es war nicht nur die Industrialisierung.
Wenn man die Vorgänger, die Herren Dekane, fragt, wie das kam, sagen sie: „Es geht eine Kraft aus von den kleinen Gruppen, die sich um Bibel und Gebet sammeln.“ Heute nennt man sie Stundeleute, aber nicht, weil sie Stundeleute waren, sondern weil sie erlebt haben, dass das Wort Gottes deine Kraft ist.
Diese Kraft erfasste auch Gottlieb Daimler in seiner Jugend. Eine neue Vitalität kam ins Leben. Wer die Bibel liest, zieht sich nicht einfach in einen frommen Winkel zurück. Karl Kubisch, der Kirchengeschichtsprofessor, hat die Geschichte der deutsch-christlichen Studentenvereinigung beschrieben. Aus ihr kamen Männer, die nach 1945 unser Staatswesen wieder aufbauten: Hermann Ehlers, Reinhold von Tattentriglia, Bischof Lilje und viele andere.
Kubisch überschreibt diese Bewegung mit „Studenten entdecken die Bibel“. Die Bibel hat Menschen geformt, die begabt waren, aber auch bereit, ihr Leben einzusetzen. Schon im Dritten Reich leisteten sie Widerstand. Nach 1945, als alles zerbrochen war – so wie heute Kuwait zerbombt ist –, bauten sie hoffnungsvoll wieder auf, im Vertrauen auf die Kraft Gottes.
Die Bibel macht nicht lebensuntüchtig, sie macht lebenskraftig. Sie befähigt uns, mit der Kraft Gottes zu rechnen, selbst wenn keine Hoffnung mehr da ist – im bitterarmen Remstal oder im zerstörten Deutschland. Das Wort Gottes ist eine Kraft.
Ich frage mich, ob ich, der ich so viel mit der Bibel zu tun habe, der ich die Bibel in allen Farben angestrichen habe, wirklich aus der Bibel lebe.
Die Herausforderung, aus dem Wort Gottes zu leben
Wie oft trifft mich ein Wort aus den täglichen Losungen! Ich denke, das ist eine große Hilfe. „Der Herr ist treu, welcher euch nicht lässt versuchen über euer Vermögen“, so stand es neulich im Losungsbüchlein, „sondern macht, dass die Versuchung ein Ende gewinnt, dass ihr es könnt ertragen.“
Ich habe gedacht, das sei ein gutes Wort für die Andacht am Abend, als ich eine Sitzung hatte. Dabei habe ich mir Gedanken gemacht, doch das Losungsbüchlein lag zu Hause. Als ich dann in meinem Auto saß, dachte ich: „Heide, nein, wie hat das Wort noch mal geheißen?“
Verstehen Sie ein Wort, über das Sie eine Auslegung geschrieben haben? Bei mir ist das so, dass es durch mich hindurchgeht, wie Wasser durch ein Brunnenrohr. Aber das Wasser ist dabei nicht nass, das Rohr wird nicht nass, es dringt nichts ins Rohr ein.
Lebe ich denn aus dem Wort Gottes? Sie können sich diese Frage selbst stellen, aber mit mir geht sie immer wieder um.
Evangelisch sein bedeutet: Vor Gott leben
Die Kirche des Mittelalters war fromm, daher brauchte es keine Reformation. Es gab Wallfahrten, Gesänge, Opfer, Fasten und Hospitäler. Nächstenliebe und Frömmigkeit waren vorhanden.
Doch das, was Gott durch Martin Luther geschenkt hat, ist das Wort Gottes. Was sagt Gott in seinem Wort zu mir? Dieses Wort, in dem ich vorkomme? „Ich will wohl das Gute, aber das Gute vollbringen finde ich nicht, ich elender Mensch.“ So beschreibt Paulus seine Situation.
Das Wort Gottes spricht Klarheit. Ich habe im Jahr 1945 Konfirmationen erlebt, in den letzten Kriegstagen. Als Konfirmationsspruch erhielt ich einen Spruch, wahrscheinlich, weil der Pfarrer noch einige alte Sprüche übrig hatte, die sonst nicht verwendet werden konnten. Damals konnten keine neuen Konfirmationssprüche gedruckt werden.
Am 21. März 1945 lautete der Spruch: „Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.“ (Jesaja 9,5) Weihnachten, das ist ja nichts fürs Leben – dachte ich damals erschrocken. Doch heute denke ich daran, wie oft ich mit diesem Wort lebe. Er heißt „wunderbarer Rat, Kraftheld“.
Wenn ich am Boden bin und nicht mehr kann, dann erinnere ich mich: Herr, du hast mir dieses Wort gegeben, dass du der Kraftheld bist. Ich brauche nicht stark zu sein.
Aus dem Wort Gottes zu leben – das ist evangelisch.
Evangelisch sein bedeutet: Vor Gott leben in Busse und Vergebung
Mit dem Wort Gottes leben heißt, ein zweites Mal evangelisch sein – vor Gott leben.
Sie wissen alle, dass Martin Luther sich als Seelsorger in Wittenberg sehr aufgeregt hat, als seine Seelsorgekinder kamen und sagten: „Wir brauchen nicht mehr zu beichten. Wir waren bei Herrn Tetzel und haben Ablassbriefe gekauft. Wir haben schon im Voraus alle Höllenstrafen, die eventuell auf uns zukommen können, durch ein paar Geldscheine oder Münzen abgelöst.“
Luther, der damals aus der Bibel lebte, fragte: Wissen die Leute überhaupt, was Buße bedeutet? Vor Gott leben – das war damals sein Anliegen. Er verfasste seine Thesen in Wittenberg, und die erste hieß, dass unser ganzes Leben Buße sein soll.
Wie stehen wir eigentlich vor Gott da? Ich muss jetzt neuerdings wieder das harte Geschäft machen, Noten zu vergeben. Leuten, die 14, 20 Semester Theologie studiert haben und zum Examen kommen, bin ich Prüfungsvorsitzender in Tübingen. Ich beurteile, was sie wissen und sagen können. War es befriedigend? War es ausreichend? Oder mangelhaft?
Ein Fünfer kann nur durch einen Zweier oder durch zwei Befriedigende ausgeglichen werden. Das ist ein hartes Geschäft.
Aber wie beurteilt eigentlich Gott mein Leben seit gestern Morgen, seit Sonntagmorgen? Noch nicht ganz achtundvierzig Stunden. War das, was ich getan habe, gut? Nein, das brauche ich gar nicht zu fragen. War es befriedigend? Habe ich die Menschen gesehen, die Gott wollte, dass ich sie sehe? Habe ich getan, was vor ihm recht ist? War es ausreichend oder ungenügend?
Ich habe gar nicht viel Gutes, um einen Fünfer auszugleichen, wenn es nur mangelhaft war – und sehr oft ist es mangelhaft.
Beim theologischen Examen darf man es zweimal versuchen, wie in der Schule, wenn man eine Klasse wiederholt. Wenn es dann nicht reicht, heißt es: „Schicken Sie Ihr Kind auf eine andere Anstalt, aber nicht mehr bei uns.“
Liebe Brüder und Schwestern, wie steht es denn mit uns? Wir denken immer im Blick auf andere Leute. Aber wenn alle so wären wie ich, dann wäre es noch verhältnismäßig gut.
Wir sollen uns nicht an anderen messen, sondern vor Gott leben.
Zu Abraham wurde gesagt: „Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir.“ Martin Luther sagte, er müsste zur Hölle sinken, wenn er sich vor Gott prüft. „Ich bin ja verloren. Wenn Gott sich nicht über mich erbarmt, bin ich verkauft und verloren.“
Wenn es nicht das Evangelium gäbe – das ist gewiss wahr, 1. Timotheus 1,15 –, das Wort des Glaubens, dass Christus Jesus gekommen ist, um Sünder zu retten, wenn das bloß vom Apostel Paulus erfunden wäre und keine Gewissheit, dann könnten wir es alle aufgeben. Dann bräuchten wir keinen Gottesdienst mehr, kein Gebet. Dann wären wir verloren und verkauft, mit mehr Mangelhaft als überhaupt, wo Gott Recht ist.
Aber das ist das Evangelium. Der Herr Jesus hat es am Kreuz deutlich gemacht, als der mit ihm gekreuzigte Mörder sagte: „Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.“ Jesus machte deutlich, dass er für mehr zuständig ist als für Gedenkminuten: „Du wirst mit mir sein, du armseliger Kerl mit deinem verratzten und verlorenen Leben. Ich möchte dich zu Gott mitnehmen.“
Verstehen Sie das Evangelium so, dass wir vor Gott merken: Ich brauche den Erlöser, den Helfer Jesus.
Evangelisch sein heißt nicht, dass man ab und zu in die Kirche geht und sagt: „Der Herr Pfarrer ist ja lieb, und ich glaube ja manches, und ich tue manches Gute.“
Luther hat in dem Lied „Nun freut euch, liebe Christen mein“ den Vers gedichtet:
„Er sprach zu mir: Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen.
Ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen.
Denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bin, da sollst du sein,
und soll der Feind nicht scheiden.“
Verstehen Sie, das ist evangelisch: Die Gewissheit, dass der Herr Jesus gerade über mich, den armseligen Kerl, seine Liebe ausgießt und sagt: „Du, ich kämpfe für dich, ich lasse dich nicht dem Teufel, ich möchte dich zu Gott bringen.“
Evangelisch sein bedeutet: Die Gewissheit des Heils
Evangelisch sein hat etwas mit der Gewissheit des Heils zu tun. Luthers Theologie führt zur Gewissheit des Heils. Wenn Sie einmal in der Sterbestunde sind, sagen Sie nicht: „Hoffentlich komme ich bei Gott an, hoffentlich schon.“ Stattdessen können Sie gewiss sein, dass nichts Sie von der Liebe Gottes scheiden kann – gerade weil Sie so ein armseliger Kerl sind.
Ich brauche die Nachhilfe des Heilands, und ich habe ein Recht darauf. Man hat nun 300 Jahre lang so getan, als sei das sogenannte protestantische Prinzip – das, was das evangelische Sein ausmacht – die Freiheit, alles in dieser Welt zu kritisieren. Ich habe die Freiheit, die Kirche zu kritisieren, den Landesbischof zu kritisieren, Prälaten, das Gesangbuch, den Gottesdienst, der lang und predigtisch langweilig ist. Die Kirche tut zu wenig, der Busch ist nichts, der Hussein ist nichts – wir sind die großen Kritikaster der Weltgeschichte geworden, als ob wir Oberlehrer wären, die andere zu kritisieren haben.
Ich habe nichts gegen Oberlehrer, aber verstehen Sie, was ich meine? Bei Martin Luther, und das ist nachzulesen, ist es wahr: Ich lasse mich von Gott kritisieren. Das ist evangelisch – dass ich mir von Gott sagen lasse, wie es eigentlich um mich steht. Da sind uns oft katholische Christen voraus.
Ein eindrückliches Beispiel ist die Begegnung wenige Tage vor seinem Tod mit dem Staatsminister Doktor Alois Mertes. Er hatte ein eindrückliches Gespräch mit mir. Er sagte, er könne seine Arbeit als Staatsminister nicht tun, wenn er nicht Psalm 130 kennen würde: „Wenn du, Herr, Sünden zurechnen willst, Herr, wer wird bestehen? Aber bei dir ist die Vergebung.“
Er sagte weiter: „Ich weiß bei vielen Entscheidungen nicht, ob sie richtig sind oder wie sie sich auswirken. Wenn ich nicht wüsste, dass unser Herr da ist und aus meinem dummen Versuch noch etwas machen kann, als lebendiger Herr, könnte ich mich ins Mausloch verkriechen. Wenn er mir alles Falsche zurechnet, kann ich nichts tun. Aber bei ihm ist die Vergebung.“
Da habe ich gemerkt: Wenn man so lebt, mit der Vergebung Jesu rechnet, kann man sogar Staatsminister sein – in großer Verantwortung.
Evangelisch sein bedeutet: Sich von Jesus als Arzt heilen lassen
Der Herr Jesus hat, wie wir aus dem Evangelium wissen, immer wieder Hilfen gegeben, damit Menschen sich selbst prüfen. Die Pharisäer fragten zum Beispiel: „Ist es wirklich nötig, dass du dich gerade um die Zöllner kümmerst?“ Diese Zöllner waren vergleichbar mit Stasi-Mitarbeitern, und auch Prostituierte gehörten dazu. Für die Pharisäer war das ein bisschen merkwürdig und aus ihrer Sicht nicht notwendig.
Jesus antwortete darauf: „Ich bin gekommen als Arzt.“ Ein Arzt fragt immer zuerst: „Wo fehlt es denn bei dir?“ Wenn ich sage, der Arzt ist gut, meine Verdauung funktioniert gut, ich esse gern und schlafe gut, dann geht der Arzt ganz schnell wieder hinaus, denn er hat eine Sprechstunde voller Menschen, die ihn wirklich brauchen.
Jesus ist als Arzt gekommen, für die Menschen, die merken, dass es bei ihnen hinten und vorne nicht stimmt. Als die Pharisäer weiter fragten, warum Jesus sich gerade um diese Menschen kümmert, sagte er: „Geht hin und lernt, was das bedeutet, dass Gott Wohlgefallen an der Barmherzigkeit hat und nicht am Opfer.“
Überlegt euch das einmal und kaut darauf herum, wie auf einem guten Kaugummi. Gott hat Barmherzigkeit gern. Merkt ihr nicht, dass ihr knochenhart seid und kein bisschen Barmherzigkeit zeigt? Das Wichtigste für Gott ist die Barmherzigkeit. Ihr seid doch ganz weit weg von Gott. Aber Jesus hat nicht gesagt: „Ihr seid unbarmherzig, und für Gott ist Barmherzigkeit nicht wichtig.“ Stattdessen forderte er sie auf, hinzugehen, zu lernen und nachzudenken.
Als der reiche Jüngling zu Jesus kam, sagte er: „Guter Meister, was muss ich tun?“ Jesus antwortete: „Moment mal, gut ist doch nur Gott. Weißt du überhaupt, was gut ist? Bist du gut?“
Als die Frau von Samaria mit Jesus über große religiöse Probleme sprach – solche, die heute in jedem Volkshochschulkurs oder in der kirchlichen Erwachsenenbildung diskutiert werden – ging es darum, wo man richtig anbetet. Jesus sagte plötzlich: „Hol mal deinen Mann!“ Sie antwortete: „Ich habe keinen Mann.“ Jesus entgegnete: „Gut, fünf Männer hattest du, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“
Die Frau reagierte nicht empört oder unverschämt mit: „Wer hat dir was über mich erzählt?“ Stattdessen lief sie schnell hinein und sagte: „Da ist einer, der mir endlich gesagt hat, wie es in meinem Leben aussieht.“
Es kann eine große Befreiung sein, wenn wir nicht mehr schauspielern müssen, sondern ehrlich sagen können: „Lieber Gott, du weißt, wie es in meinem Leben aussieht.“ Vor Gott zu leben bedeutet, dass wir es nicht vor anderen Menschen verbergen müssen. Ihr dürft sagen: „Herr Jesus, wenn du der Arzt bist, dann brauche ich dich. Bei mir ist hinten und vorne alles kaputt. Ich brauche dich.“
Vor Gott leben – das ist evangelisch.
Evangelisch sein bedeutet: Mit dem Evangelium leben
Das Dritte ist, nicht nur mit der Bibel zu leben, nicht nur vor Gott zu leben, sondern mit dem Evangelium zu leben. Martin Luther hat eine große Unterscheidung gemacht. Er sagte, das Gesetz Gottes zeigt uns, was wir tun müssen, was wir Menschen tun sollen. Schon bei den Zehn Geboten heißt es: nicht Ehe brechen, nicht töten, nicht stehlen, keine falschen Aussagen machen – also was wir tun sollen.
Vielleicht gehört heute zum Gesetz auch, dass wir dafür sorgen sollen, unsere Umwelt nicht noch mehr zu verschmutzen und dass wir darauf achten, dass nicht noch mehr Müll anfällt. Wenn ich mit Landräten spreche, sagen sie oft: Wir wissen keine Lösung, wie wir mit dem Müll fertig werden. Es ist doch dumm, wenn man uns unten Vorwürfe macht, keine Müllverbrennung und keine Deponien zu haben. Was sollen wir denn tun? Helft doch ihr Pfarrer mir, dass weniger Müll anfällt – so sage ich das gern weiter.
Das ist das, was wir tun sollen. Es gibt viele wichtige Dinge, wie zum Beispiel mehr Zeit für unsere Kinder zu haben. Es gibt also vieles, was wir tun können. Aber das Evangelium sagt – so hat es Martin Luther uns verkündigt –, was Gott für uns tut.
Wenn wir evangelische Kirche sind, dürfen wir durchaus sagen, was wir tun sollen. Aber entscheidend ist, das weiterzusagen, was Gott für uns tut. Wenn wir eine evangelische süddeutsche Vereinigung sind, dann ist entscheidend, das weiterzusagen, was Gott für uns tut.
Man sagt: Die Christen sind erst glaubwürdig, wenn sie das leben, was sie auch sagen. Damit meint man oft, sie sollen anständig, nachbarschaftlich und geduldig sein. Sagen wir das eigentlich? „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, so hat Goethe gesagt. Aber das Evangelium sagt, dass Christus Jesus gekommen ist, um Sünder selig zu machen.
Wir werden erst glaubwürdig als evangelische Kirche, wenn wir wieder Sünder sein wollen und nicht rechtschaffene Bürger, die ganz anständig sind. Wenn wir zugeben, dass Leute anderer Meinung sind in der Kirche, aber ich weiß von mir, was ich bin, dann müssten wir sagen: Du weißt nicht ein Zwanzigstel von dem, was in meinem Leben wirklich schmutzige Wirklichkeit ist. Es sieht noch viel, viel schlimmer aus, als du ahnst.
Dann wären wir glaubwürdig. Aber ich habe einen herrlichen Jesus, der genau für solche zerbrochenen und schwachen Leute da ist. Und vielleicht brauchst du ihn auch. Das wäre das Zeugnis, das wir heute weitergeben sollten.
Evangelisch sein bedeutet: Zeugnis für Jesus als Sohn Gottes und Erlöser
Mit dem Evangelium leben bedeutet, zu erkennen, was Gott für uns tut: Er gibt uns diesen Jesus in unsere Welt. Er legt Zeugnis für die Wahrheit ab. Dazu ist Jesus in die Welt gekommen, damit wir die Wahrheit kennen. Gestern haben wir darüber gesprochen, die Wahrheit über Gott.
Was tut Gott für uns? Er gibt uns diesen Jesus in unsere Welt. Über ihn sagt Gott zweimal: bei der Taufe Jesu und bei der Verklärung: „Das ist mein lieber Sohn!“ Damit nimmt Gott ein Wort aus Psalm 2 auf. Es richtet sich gegen die Rebellion der Welt, die wir heute auf den Fernsehschirmen sehen. Die Menschen wollen aus eigener Kraft diese Welt gestalten, obwohl sie längst Gott abgeschworen haben.
„Wir werden es schaffen“, sagt Hussein. Die Amerikaner sagen: „Wir werden es schaffen, die Operation gelingt besser als erwartet.“ In diese Welt sagt Gott: „Nicht nur für fromme Gottesdienste oder stille Kämmerlein, sondern ich habe meinen Sohn eingesetzt. Du bist mein Sohn. Dir gebe ich die Fäden der Weltgeschichte in die Hand.“
Als Jesus vom Vater gesagt bekommt: „Du bist mein Sohn“, tritt der Plan Gottes in Kraft. Nicht die menschlichen Herrscher bestimmen die Welt, sondern Jesus wird einmal die Fäden der Weltgeschichte in die Hand nehmen.
„Du bist mein Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Lesen Sie im Jesajabuch weiter: „Er wird das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.“ Das ist Jesus. An ihm hat Gott Freude. Er tritt nicht auf uns nieder, auch wenn wir oft nur noch glimmende Dochte sind, die mehr rauchen, als Licht geben. Er baut uns auf.
Dazu ist Jesus da. Gott hat ihn in unsere Welt gegeben. Wie viele hier sind, die der Herr Jesus noch aufbauen, stärken und kräftigen will! Wenn kein Mensch ein gutes Wort sagt, dann sagt Jesus: „Ich habe dich lieb, ich habe dich erwählt, ich habe Großes mit dir vor. Meine Kraft ist in Schwachen mächtig. Traut mir etwas zu!“
Jesus ist uns gemacht, so sagt der Apostel Paulus, von Gott zur Weisheit. Ich war heute wieder in einer Sitzung – ich weiß nicht, ob der Bruder Greichen es gemerkt hat – wo man denkt, jetzt ist alles vernagelt, ich weiß nicht weiter. Dann darf man rufen: „Jesus, gib mir Weisheit!“ Es ist uns von Gott zur Weisheit gemacht.
Wir haben das Zeichen des Gekreuzigten in der Mitte unserer Kirchen und Versammlungsräume. Dort, wo der Teufel sagt: „Alle gehören mir, auch der hier fürchtet Gott nicht, keiner eignet sich, alle haben die Markierungen des Bösen an mir.“ Da geht Jesus in den Kampf hinein, um die Schlacht Gottes zu schlagen.
Der Teufel sagt: „Ich werde mal sehen, ich kriege Sinn. Komm, Jesus, ich werde mich von Gott lösen, und wenn es sein muss, durchs Leiden.“ Herr Jesus hat gesagt: „Jetzt kommt die Stunde der Finsternis. Jetzt kommt der Fürst dieser Welt.“ Die Frage ist, ob er Macht über mich hat.
Jesus kämpft diesen Kampf stellvertretend für die Menschen und macht deutlich: Der Teufel kriegt ihn nicht herum. Das letzte Wort ist: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Und da möchte ich, dass Jesus für sich den Sieg davonträgt.
Als er den ersten mitgenommen hat, war dieser ein Mörder in seinem verpfussten Leben. Jesus möchte Leute mitnehmen. Er sagt: „Kommt her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, für euch kämpfe ich den Kampf!“
Wenn Sie das Kreuz Jesu sehen, dieses Zeichen des gekreuzigten Jesus, denken Sie daran: Er hat den Kampf mit dem Bösen aufgenommen. Er ist stärker. Der Teufel kriegt ihn nicht herum. Herr Jesus, jetzt halt mich bei dir fest!
Jesus ist der kommende starke Erlöser – das hat er vorher gesungen: starker Erlöser. Und dann hat Gott diesen Jesus aus dem Grab herausgeholt, weil wir ihn brauchen. Einen lebendigen Jesus. Auf den könnt ihr nicht verzichten. Ich möchte nicht auf ihn verzichten, und ihr dürft nicht auf ihn verzichten. Ihr braucht einen lebendigen Jesus.
Unser ganzer Glaube besteht elementar darin – so steht es in Römer 10 –, wenn ihr glaubt, dass Jesus lebt, dass er von den Toten auferstanden ist und seinen Namen anruft, dann seid ihr gerettet und mit ihm verbunden.
Gott hat diesen Jesus zu sich geholt, zur Rechten Gottes. Er ist vor dem Vater und tritt für uns ein. Bevor wir überhaupt heute den Namen Jesu angerufen haben, hat Jesus schon vor dem Vater unsere Namen genannt. Denk an die, denk an den, denk an seine Schwäche, denk daran, wie rasch ihr der Gaul durchgeht: „Herr, lass ihn nicht allein.“
Das alles hat Gott für uns getan. Es ist nur ein Anfang von dem, was Gott täglich für uns tun will.
Der Tausch mit Gott und die Einladung zum Leben mit Jesus
Martin Luther hat es am schönsten dargestellt: Ich darf ihm meine Drecksgeschichten bringen, und er gibt mir dafür seine Heiligkeit. Ich darf ihm meine Dummheiten bringen, sagt Jesus, das ist passiert, und er gibt mir dafür seine Weisheit. Ich darf ihm alle meine Ungerechtigkeiten bringen, und er gibt mir dafür seine Gerechtigkeit. Ich darf ihm all meine Ungeduld bringen – ein ganz komischer Tausch, aber ein Tausch, zu dem uns Gott in Jesus einlädt.
Ich will dafür für dich ringen, mit dem Evangelium leben. Wir haben begonnen, aus der Bibel zu leben, vor Gott zu leben, mit dem Evangelium zu leben, das uns zeigt, was Gott für mich tut.
Und wenn Sie einen Tag voller Schwermut haben, an dem Sie denken, es ist alles vom Teufel, es ist alles nichts, ich kann nichts, und mich versteht keiner, dann nehmen Sie sich ein Blatt Papier und schreiben einmal auf, wie viel Güte Gottes in Ihrem Leben ist. Vergessen Sie dabei nicht, was das Evangelium sagt: was Gott für uns tut.
Evangelisch sein ist nicht nur eine Sache für die Lohnsteuerkarte oder für unseren Ausweis, sondern etwas viel Grundlegenderes. Zu Beginn haben wir es gehört: eine Kraft. Das Evangelium berichtet uns davon, dass Gott uns seine ganze Kraft schenken will, damit wir mit Jesus leben können – ganz eng mit ihm verbunden.
Martin Luther hat das in der Reformation entdeckt. Wir wissen, was sein letztes Wort vor seinem Sterben war: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Das andere Wort, das er immer gesagt hat, ist „Domini summus“ – wir sind des Herrn.
Genau als arme Leute gehören wir dem größten aller Herren – mit seiner Weisheit, mit seiner Kraft, mit seinen Wundern.
Ich möchte Sie einladen, so evangelisch zu werden, wie es uns Martin Luther in ganz einfacher Weise gesagt hat: Mit Jesus leben als kleine, armselige Bettler, die von ihm reich gemacht werden.
Gebet zum Abschluss
Ich möchte gerne mit Ihnen beten.
Wenn ich an mir selbst verzage, tröstet mich Gott mit deiner Macht, sodass ich es im Glauben wage, bis ich meinen Lauf vollbracht habe.
Habe ich deine Macht erfahren, wenn so mancher Fall getreut? O, so wird sie mich bewahren bis zu meiner Seligkeit.
Deine Kraft, die mich bekehrte und den Glauben in mir schuf, lehrte mich beten, kämpfen und dulden. Sie ist mir nahe, wenn ich rufe.
Dass ich schwach bin, wirst du wissen. Dass du stark bist, weiß auch ich.
Du hast mich aus dem Tod gerissen und bist noch dieser Gott für mich.
Hänge mein Herz an deinen Händen. Was ich nicht kann, wird er tun.
Was du angefangen hast, wirst du vollenden, „Eher wirst du ja nicht ruhen.“
Herr, ich glaube deinen Worten, deiner Macht vertraue ich noch.
Streiten auch der Höllen Pforten, siegt deine Rechte doch! Amen!