Der Grabstein

Konrad Eißler
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Bei einer einsamen, verlassenen, traurigen Frau auf dem Friedhof wurde es durch den auferstandenen Herrn so hell, dass der Grabstein nicht mehr als Schlussstein erschien. Unter dem Morgenglanz des Ostertages wird der Schlussstein zum Markstein, zum Grenzstein und zum Wegstein, der Maria ihren Weg weist. - Osterpredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Ich möchte Sie zu einem Osterspaziergang einladen, liebe Gemeinde. Vielleicht haben Sie ohnehin einen kleinen Ausgang vorgesehen und haben nichts gegen meine Begleitung. Im Gegensatz zum Weih­nachtsfest, das wir am liebsten zuhause in der gemütlichen Stube feiern, drängt das Osterfest hinaus ins Freie. Mein Vorschlag jedoch wäre nicht hinauf auf den Killsberg zu gehen, wo sich die Gärtner einiges einfallen ließen, nicht hinüber in den Schlosspark, wo Frühlingsblumen Farbe in die Stadt gebracht haben, auch nicht hinunter in die Wilhelma, wo sich rund um die Magnolien­blüte alles festlich herausgeputzt hat. Gehen wir hinaus auf den Friedhof, den alten und ehrwürdigen Pragfriedhof, der einst vor den Toren der Stadt gelegen war. Gleich am oberen Eingang steht das nicht mehr benützte Kirchlein und am unteren Tor die beiden Aussegnungshallen für die vielen Feiern. Dazwischen, an einem Labyrinth von Wegen, unzählige Ruhestätten der Toten.

Gerne würde ich Sie auf die verschiedenartigen Grabsteine hinweisen. Hier ein einfacher Buntsandstein mit schwarzen Buchstaben. Dort ein teurer Marmor mit goldenen Lettern. Drüben eine behauene Pyramide mit ausgewaschener Schrift. Aber alle Grabsteine, vom bescheidenen Kreuz bis zur ehrwürdigen Tumba, sind doch Schlusssteine, die ein bitteres Ende markieren. Ein Weg ist abgebrochen, der zu zweit so schön war. Eine Aufgabe hat aufgehört, die einen ganz ausfüllte. Eine Hoffnung ist dahin, die die Zukunft so hell machte.

Grabsteine als Schlusssteine, wer hat sie nicht kennenge­lernt?
Grabsteine als Schlusssteine, wer hat sie nicht schmerzlich erlitten?
Grabsteine als Schlusssteine, wer hat keine Tränen vor ihnen geweint?

Auch Maria ist davon nicht verschont geblieben. Sie wählte an Ostern denselben Weg hinaus auf den Friedhof. Vor dem Grabstein Jesu stand sie und weinte. Ein Weg war abgebrochen, der damals im Marktflecken Magdala begonnen hatte, als dieser Heiland ihr eine teuflische Gebundenheit löste und sie ihm mit andern zusammen folgte. Eine Aufgabe hat aufgehört, die sie als Jüngerin und Magd dieses Meisters ganz ausfüllte. Eine Hoffnung war dahin, die die Zukunft so licht machte.

Grabsteine sind Schlusssteine enttäuschter Hoffnungen, aber, liebe Gemeinde, nur solange wir sie im Schatten des Todes sehen. Wenn aber das Licht des Lebens angeht, hat alles ein ganz anderes Gesicht, so wie in Jerusalem. Nicht dem Hannas im ehrwürdigen Amtssitz ging ein Licht an. Nicht dem Kaiphas im hohepriesterlichen Palast ging das Licht auf. Nicht dem Pilatus im römischen Prätorium wurde ein Licht aufgesteckt. Bei einer einsamen, verlassenen, traurigen Frau auf dem Friedhof wurde es durch den auferstandenen Herrn so hell, dass der Grabstein nicht mehr als Schlussstein erschien.

Und weil dieser Morgenglanz des Ostertages seither nichts an Intensität und Helligkeit eingebüßt hat, können alle Einsamen unter uns, alle Verlassenen, alle Traurigen auf dem Friedhof Erde diesselbe Beobachtung machen.

1. Im Osterlicht wird der Schlussstein zum Markstein

Ein Markstein regelt die Besitzverhältnisse. Er macht die Eigentumsrechte für jedermann klar. Die Markung steht fest. Wenn zum Beispiel Graf Ulrich der Stifter und Gründer von Stuttgart, der die steinerne Ahnenreihe in unserem Chor anführt und im 13. Jahrhundert droben auf dem Rotenberg residierte, wenn also dieser Graf Ulrich anzeigen wollte, dass die Berge und Täler links und rechts des Nesenbachs ihm gehören, ließ er zwischen Wälder und Felder Steine setzen, auf denen sein Wappen mit zwei Pferden eingemeißelt war. Nun wusste jeder Reisende, der mit dem Felleisen auf dem Rücken diese Gegend passierte: Das gehört nicht den Edlen von Blankenstein. Das zählt nicht zu den Rittern von Rechberg. Das ist Gemarkung Stuttgart.

So regelt Jesus am Ostermorgen die Besitzverhältnisse. Er macht die Eigentumsrechte für jedermann klar. Die Markung steht fest. Wenn er plötzlich aus der Dämmerung heraustritt und den Namen Maria sagt, dann ist das ein besitzanzeigender Begriff: “Maria, warum weinst du? Warum klagst du? Warum bist du so todtraurig? Maria, ich lebe. Ich bin dir ganz nahe. Ich habe alles in meinen Händen. Maria, du gehörst nicht den Mächten des Todes. Du zählst nicht zu den Gewalten der Finsternis. Du stehst auf der Gemarkung des Himmels. Maria, du bist mein.” Konnte sie anders, als sich ihm mit dem Bekenntnis: “Rabbuni! Meister!” neu hinwenden?

Können wir denn anders, als uns ihm mit dem Bekenntnis: “Meister, Herr, Heiland!” neu hingeben? Keiner steht allein auf weiter Flur. Niemand muss mit seinen Tränen selber fertig werden. Jeder befindet sich in Hör- und Rufweite des Auferstandenen. Immer und immer wieder tritt er aus dem Dämmer heraus und ruft jeden bei seinem Namen. Wer hat denn die Stirn, jener Zusage zu misstrauen: “Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen”? Wer hat denn die Frechheit, jenen Vers als Kinkerlitzchen abzutun: “Der mich liebet und mich kennt und bei meinem Namen nennt”?

Jesus meldet sich nicht mit einer Schlagzeile in der Tageszeitung oder einer Meldung in der Tagesschau zurück, sondern in einem höchst per­sönlichen und zutiefst seelsorgerlichen Wort an jeden einzelnen, der hier sitzt: “Warum weinst du am Grab? Warum klagst du deinen Schmerz? Warum bist du so todtraurig über viele Dinge? Ich lebe doch, auch an Ostern 1995. Ich bin ganz nahe bei dir, viel näher als dein Allernächster. Ich habe alles in meinen starken Händen. Du gehörst nicht den Mächten des Todes. Du zählst nicht zu den Gewalten der Finsternis. Du stehst selbst auf dem Friedhof auf der Gemarkung des Himmels. Du bist mein in Zeit und Ewigkeit”.

Im Osterlicht wird der Schlussstein zum Markstein.

2. Im Osterlicht wird der Markstein zum Grenzstein

Ein Grenzstein bestimmt den Grenzverlauf. Er macht klar, wo ein Land aufhört und das andere beginnt. Eine Grenze steht damit fest. Wenn zum Beispiel Graf Ulrich der Stifter anzeigen wollte, dass an dieser oder jener Linie das Stadtgebiet zu Ende geht und das Landgebiet des Markgrafen von Baden beginnt, dann ließ er große Steine eingraben und erstmalig eine Mauer mit Toren hochziehen. Nun wusste jeder streunende Raubritter, der nach dem damaligen Slogan lebte: “Reiten und Rauben ist keine Schande, das tun selbst die Besten im Lande”, nun wusste jeder: Das ist die Grenze. Zutritt ist nicht gestattet. Bis hierher und nicht weiter.

So bestimmt Jesus am Ostermorgen den Grenzverlauf. Er macht für jedermann klar, wo unser Lebensgebiet zu Ende geht und das Herrschaftsgebiet des Höchsten beginnt. Die Grenze steht damit fest. Wenn Jesus die auf ihn zustürzende Maria mit dem barschen Wort zurückstößt: “Rühre mich nicht an!”, dann will er jene geheimnisvolle Trennungs­linie markieren, die Dieseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch voneinander scheidet, und die bis heute noch zwischen ihm und uns liegt.

Wie gerne würden wir einen Blick über die Grenze tun, die unsere Heimgegangenen von uns scheidet! Wie gerne würden wir einen Blick über die Grenze tun, die wir selbst kurz oder lang überschreiten müssen! Wie gerne würden wir einen Blick über die Grenze tun, die die andere Welt von uns trennt!

Wissen­schaftler haben es versucht und ihr Ergebnis kürzlich in einer wissenschaftlichen Studie mit dem Titel “Near-Death-Experience” veröffentlicht. Der tote Körper gleite durch einen dunklen Tunnel einem Licht entgegen, das erst trübe erscheint, dann aber heller und heller strahlt und das Gefühl unfasslicher Wärme und Geborgenheit vermittelt. Aber damit wird das Sterben verzeichnet. Damit wird der Tod verharmlost. Damit wird Gott selbst zu einem lichten, kuscheligen Etwas verniedlicht, auf den der Tote durch einen Tunnel zurutscht.

Jesus sagt: “Fass mich nicht an, auch wenn es dir unfasslich ist. Rühr mich nicht an, auch wenn es dich stark berührt. Bleib bitte weg!” Es gibt eine Linie, die Welten trennt. Es gibt eine Grenze, die Dieseits und Jenseits scheidet. Es gibt eine Wand, die unser Blick nicht durchdringen kann. Einmal wird sie aufgehoben, wenn der Herr in Herrlichkeit wiederkommen wird und wir ihn sehen können von Angesicht zu Angesicht. Aber bis dahin gilt: “Ich weiß nicht, wie es in der ganz anderen Dimension der Ewigkeit aussieht. Aber eines weiß ich, dass ich die Stimme des guten Hirten wiedererkennen werde, die mich heute, wo ich noch lebe, bei Namen ruft und mir vertraut ist” (Thielicke).

Im Osterlicht wird der Markstein zum Grenzstein.

3. Im Osterlicht wird der Grenzstein zum Wegstein

Ein Wegstein zeigt die Straße. Er macht die Richtung klar. Der Weg steht damit fest. Wenn damals im 13. Jahrhundert die ersten Steine mit einem Pfeil gesetzt wurden, so deshalb, um den Leuten die Orientierung zu erleichtern. Nun wusste auch der Ortsunkundige, wenn er nach Kaltental, Tunshofen und Esslingen wollte: Das ist der Weg. So stimmt die Richtung. Dorthin muss ich gehen.

Wenn Jesus jetzt zu Maria sagt: “Geh hin zu meinen Brüdern!”, dann zeigt er den Weg, dann weist er die Richtung, dann macht er ihr Füße. Vielleicht wäre sie gerne sitzengeblieben, um mit ihrer Freude allein zu sein. Vielleicht wäre sie gerne stehengeblieben, um diesen Augenblick ganz auszukosten: “Verweile doch, du bist so schön.” “Da macht Christus aus Maria eine Predigerin”, schreibt Martin Luther, “dass sie muss Meisterin und Lehrerin der Apostel sein und befiehlt ihr solche Botschaft: Geh hin.”

Und Maria ging. Der Grenzstein wurde zum Wegstein. Sie wurde zur Anführerin eines langen Zuges, der durch die Geschichte geht. Sie wurde zur Spitze einer endlosen Kolonne, die für Ostern demonstriert. Sie wurde zur ersten Ostermarschiererin überhaupt. Aber sie posaunte nicht: “Ich habe den Krieg gesehen. Ich habe den Mord gesehen. Ich habe den Tod gesehen!” Sie verkündigt: “Ich habe den Herrn gesehen.”

Das ist die Botschaft, nach der die Welt hungert, weil sie unter so viel giftigen Herren zu leiden hat. “Ich habe den Herrn gesehen.” Das ist die Botschaft, nach der die Welt lechzt, weil sie unter so viel mordenden Herrn zu stöhnen hat: “Ich habe den Herrn gesehen.” Das ist die Botschaft, nach der die Welt verlangt, weil sie unter so viel erbarmungslosen Herren zu bluten hat. “Ich habe den Herrn gesehen, der Leben, Liebe und Hoffnung bringt.”

Auch wir können unseren Osterspaziergang nicht auf dem Pragfriedhof beenden. Wir dürfen nicht an unseren Gräbern sitzenbleiben. Wir dürfen nicht auf unseren Kirchhöfen stehenbleiben. Wir müssen uns auf die Füße machen. Gott braucht Ostermarschierer eigener Sorte. Gott braucht Protestleute eigener Couleur. Gott braucht Demonstrierer für das Leben mit Jesus. Dazu müssen wir nicht unbedingt auf die Straße. Es passiert dort, wo man dem Einsamen sagt: “Du, einer ist bei dir.” Und es passiert dort, wo man dem Untröstlichen schreibt: “Du, Trost ist kein Fremdwort mehr.” Und es passiert dort, wo man einem Sterbenden die Hand hält: “Du, wo sein Haupt durch ist gangen, da nimmt er dich auch mit.”

Der Grenzstein wird zum Wegstein.

Nein, Grabsteine sind keine Schlusssteine mehr. Im Osterlicht sieht alles anders aus.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit Aufnahme]