Einführung in die Bibellektüre und den ersten Petrusbrief
Also, ganz ernst gemeint: Wir lesen den ganzen ersten Petrusbrief und fangen im ersten Kapitel an. Ich hoffe, dass niemand unbewaffnet aus dem Haus gegangen ist und jeder eine Bibel dabei hat. Ausgenommen sind natürlich diejenigen, die die Bibel auswendig können – die brauchen keine.
Das hat mich sehr beeindruckt: Irgendwo in einer Gemeinde, vor etwa drei Wochen, lernte ich jemanden kennen, der sich vorgenommen hat, den ersten Petrusbrief auswendig zu lernen. Das kann ich nicht, mein Hirn ist auch ein bisschen löcherig geworden. Aber geht es jetzt los? Ja, es geht los. Wir lesen den ersten Petrusbrief.
Deshalb ist es jetzt ganz wichtig: Ich lese mal die ersten zwei Verse vor. Danach lesen wir aber das ganze erste Kapitel auf einmal. Die Sache hat einen Haken bei so einem langen Kapitel. Es ist nämlich völlig unmöglich, wenn ihr lebendig davonkommen wollt, dass wir Stück für Stück, Wort für Wort sorgfältig betrachten. Das hat zwar einen hohen Reiz, und ich freue mich auch schon darauf.
Ich plane nämlich eine Fernsehserie, eine wöchentliche Sendung. Den Kolosserbrief haben wir neulich gemacht; der wird demnächst ausgestrahlt, ist aber noch nicht gesendet. Im Augenblick läuft das Johannesevangelium, und dort nehmen wir uns immer zehn Minuten Zeit, um jeden Abschnitt Wort für Wort zu betrachten. Den ersten Petrusbrief habe ich demnächst auch vor. Da weiß ich, dass ich Satz für Satz, Vers für Vers nehme, jeweils zehn Minuten, und ihn dann noch einmal lese. So kann man das natürlich ganz anders machen.
Aber große Zusammenhänge zu lesen hat auch einen Vorteil: Man kann den roten Faden, den großen Bogen, besser erfassen. Also beides ist wichtig. Ihr solltet beim Bibellesen immer wieder beide Formen anwenden: Mal ein ganzes Buch oder wenigstens ein ganzes Kapitel im Zusammenhang lesen, aber dann auch wieder sorgfältig Satz für Satz, Wort für Wort hinsehen. Beide Verfahren, die Bibel aufzunehmen, sind außerordentlich hilfreich.
Gut, wir lesen Kapitel 1. Auf Seite 251 bei mir. Ich weiß immer nicht, warum dabei gelacht wird. In jedem Buch wird mal nach Seitenzahlen aufgeschlagen. Ich sage euch das, damit ihr Leute einladen könnt, die Bibel zu lesen, ohne sie zu beleidigen, bevor ihr anfangt. Das passiert nämlich in manchen Bibelkreisen, wenn man sagt: „Wir schlagen auf bei 1. Petrus 1.“ Jemand, der nicht mit der Bibel lebt, wie soll der wissen, wo 1. Petrus 1 steht? Die erste Erfahrung, die der macht, ist: „Die vermitteln mir hier, dass ich blöd bin und nicht dazugehöre.“ Passt auf, das passiert so schnell!
Deshalb: Warum? Das Neue Testament wird wieder neu angefangen, ungefähr bei Seite 251, je nach Ausgabe. Nur in der Gegend kommt man da nicht so leicht hin.
Die Adressaten und der historische Kontext des ersten Petrusbriefes
Petrus, Apostel Jesu Christi, schreibt an die auserwählten Fremdlinge, die in der Zerstreuung leben, und zwar in Pontus, Galatien, Kappadotien, der Provinz Asia und Bithynien.
Im Brief lesen wir weiter, dass diese Menschen nach der Vorsehung Gottes, des Vaters, durch die Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi erwählt sind. Gott gebe ihnen viel Gnade und Frieden.
Zunächst schauen wir uns an, wohin die Reise geht. Die vielen Ortsnamen im Brief zeigen, dass der Apostel Petrus diesen Brief aus Rom schreibt. Das erfahren wir ganz am Schluss, im fünften Kapitel, im vorletzten Satz, wo er von Babylon grüßt – ein Schlüsselname für die Welthauptstadt Rom.
Die Adressaten sind die in der Zerstreuung lebenden Juden. Seit Jahrhunderten lebten Juden in diesen Regionen, denn 722 v. Chr. hatten die Assyrer das Nordreich Israel mit den zehn Stämmen zerstört, besiegt und alle vertrieben. Das war die Politik der Assyrer: Sie vertrieben die einheimische Bevölkerung und siedelten andere dort an, um ihre Macht zu sichern. Seit dieser Zeit hat das Volk Israel immer das Bewusstsein gehabt, dass ein großer Teil von ihnen in der Zerstreuung lebt – der Diaspora, wie es auf Griechisch heißt, weltweit verstreut.
Als dann das Südreich Jerusalem 586 v. Chr. von der neubabylonischen Macht erobert und zerstört wurde, wurden die Juden nach Babylon, dem heutigen Irak, verschleppt. Diese Zerstreuung setzte sich bis in die heutige Zeit fort. Für Juden ist es seit mindestens 2700 Jahren klar, dass der größte Teil ihres Volkes außerhalb Israels lebt.
Der Apostel Petrus schreibt aber nicht nur an Juden. Zwar waren viele Gemeinden, an die er schreibt, jüdisch geprägt – Menschen, die das Evangelium von Jesus gehört hatten und ihm vertrauten. Man nennt sie heute messianische Juden. Sie sagen: Wir sind nicht zum Christentum übergetreten, sondern Juden, die in Jesus die Erfüllung der Hoffnung und Verheißung Israels sehen.
Viele dieser Gemeinden hatten ihren Anfang in Synagogen, wie wir in der Apostelgeschichte lesen können. Paulus, Petrus und andere predigten dort, und einige Juden kamen zum Glauben, andere lehnten es ab. Manchmal kam es sogar zu Gewalt, etwa Steinewerfen. Doch nicht nur Juden waren daran interessiert. Im Umfeld der Synagogen lebten auch Heiden verschiedener religiöser Prägung, die von der Botschaft des lebendigen Gottes fasziniert waren – im Gegensatz zu den Ritualen und Formen, die sie aus anderen Religionen kannten.
So bekehrten sich viele Menschen ohne jüdische Wurzeln. Petrus spricht daher auch diese Heidenchristen in der Diaspora an, die als Fremde gelten. Man könnte sagen: Diese Menschen waren zwar in ihren Regionen zu Hause, die zerstreuten Juden lebten teilweise schon seit vielen Generationen dort, und die Heiden hatten ihre Wurzeln in diesen Ländern. Dennoch bezeichnet Petrus sie als Fremdlinge.
Interessant sind die genannten Ortsnamen. Die Liste beginnt mit Pontus, das am Schwarzen Meer liegt, nahe Sinope. Von dort zieht sich die Linie nach Süden zu Galatien – ein Gebiet, an das Paulus ebenfalls einen Brief schrieb – dann weiter nach Kappadotien. Anschließend macht der Brief einen Schwenk nach Westen zur Provinz Asia, die bis zum Mittelmeer reicht, wo Ephesus liegt – eine Stadt, die in der Apostelgeschichte mehrfach erwähnt wird. Schließlich geht die Linie nach Norden zu Bithynien.
Die Adressaten leben also in der gesamten heutigen Türkei. Obwohl sie dort zu Hause waren und diese Kultur kannten, spricht Petrus sie als Fremde an. Für Juden war es klar: Ihre wahre Heimat ist Israel, auch wenn sie vertrieben wurden. Aber auch die Jesusnachfolger aus den Heiden bezeichnet er als Fremde in der Zerstreuung.
Das macht den ersten Petrusbrief für uns heute so wichtig und aktuell. Er schreibt an viele Gemeinden in verschiedenen Orten. Die Türkei ist ein riesiges Land. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Gemeinden sich alle kannten, denn es gab keine modernen Kommunikationsmittel wie Handy, Internet oder Autos. Trotzdem kannten sich die Christen untereinander, blickten über den Tellerrand hinaus und waren nicht nur auf ihre eigene Gemeinde oder ihren Ort fixiert.
Im Vergleich dazu sind wir heute oft viel engerstirniger und provinzieller als die ersten Christen im ersten Jahrhundert, die einen weiten Horizont hatten. Petrus sagt ihnen im ersten Satz: Ihr seid Fremde in der Zerstreuung. Ihr seid eine Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft, die euch nicht zu ihrer Gruppe zählt. Ihr seid dort Fremde, obwohl ihr in dieser Gegend wohnt und euch zu Jesus bekehrt habt.
Schon im ersten Satz wird deutlich – und das entfaltet sich im ganzen Brief –, dass ihr durch Jesus in eurer ursprünglichen Heimat zu Fremden geworden seid. Gott hat euch erwählt, aber ihr seid Fremde.
Dieser erste Satz nennt die Adresse: die Vorordnung an die erwählten Fremdlinge. Fremde zu sein ist ein großes Problem, das wir auch heute kennen. In unseren Ländern gibt es Menschen mit anderer Hautfarbe, ohne deutschen Pass, und all die damit verbundenen Schwierigkeiten. Fremd zu sein bedeutet oft, eine Minderheit in einer Mehrheit zu sein, die ganz anders denkt und lebt.
Das macht Petrus vom ersten Satz an klar: Das gehört zu eurer Identität. Ihr solltet das wirklich wahrnehmen und wissen. Ihr seid Fremde, obwohl ihr dort geboren seid und eure Familien dort leben. Seit ihr Jesus folgt, lebt ihr in einer Mehrheitsgesellschaft, die anders denkt und fühlt.
Wir werden feststellen, dass es auch Zeiten der Verfolgung gab, in denen die Regierung Druck machte. Der erste Petrusbrief entstand wahrscheinlich in der Zeit nach der Verfolgung unter Nero in Rom um 64 n. Chr., als Paulus vermutlich schon hingerichtet war. In anderen Teilen des Reiches gab es damals keine so radikale Verfolgung. Es geht eher darum, was man erlebt, wenn man in einer Mehrheitsgesellschaft als Minderheit lebt, die ganz andere Werte und Vorstellungen hat als die Jesusnachfolger.
Den Juden war das immer bewusst. Sie hatten schreckliche Verfolgungen erlebt. Der Judenhass, der heute wieder weltweit zu beobachten ist, ist keine neue Erscheinung, sondern Teil der Geschichte und DNA der Welt gegenüber dem jüdischen Volk. Das, was in den letzten Jahren mit dem jüdischen Volk passiert ist, ist leider eine Fortsetzung dieser langen Geschichte.
Deshalb hatten auch die ersten Jesusnachfolger, die Juden waren, das immer im Kopf. Das galt für den Apostel Petrus ebenso wie für den Apostel Jakobus, den leiblichen Halbbruder Jesu und Leiter der Jerusalemer Gemeinde. Der Jakobusbrief beginnt ebenfalls mit einer Ansprache an die Jesusnachfolger in der Diaspora.
Diese Apostel, die als Juden die Geschichte Israels in ihrer DNA hatten, wussten, dass die Nachfolge Jesu weitere Ausgrenzung mit sich bringt. Sie wollten, dass auch alle, die neu zu den Gemeinden kamen – vor allem Heidenchristen –, das verstehen.
Diese neuen Christen kamen aus Gesellschaften, in denen man glaubte, gesund zu leben bedeute, sich anzupassen, Anerkennung zu finden und Zustimmung von der Mehrheit zu erhalten. Das war damals so, und das ist heute noch so – in sozialen Medien wie Facebook, TikTok und anderen Plattformen.
Deshalb war es den Aposteln Paulus, Petrus und Jakobus wichtig, dass vom ersten Satz ihrer Briefe an auch die Heidenchristen, zum Beispiel aus Kassel oder München, die wenig von der Geschichte Israels verstanden hatten und stark von ihrer eigenen Gesellschaft geprägt waren, begreifen: Ihr seid Fremde, wenn ihr Jesus nachfolgt. Ihr lebt in der Zerstreuung, als Minderheit in einer überwältigenden Mehrheitsgesellschaft.
Die Bedeutung der Fremdheit und die Identität der Christen
Was bedeutet das jetzt? Also, das ist wie eine Überschrift, das ist die Adresse, die bei uns immer außen auf dem Briefumschlag steht. Sie ist aber gar nicht im Brief selbst enthalten. Das ist der Anfang.
Dann kommt der Gruß. Den lasse ich jetzt mal weg, obwohl er den ganzen Abend füllen würde, wenn ich ihn ausnahm. Wunderbar, drei Einigkeit gleich am Anfang, aber in der Reihenfolge: Vater, Heiliger Geist und Sohn.
So, aber jetzt lesen wir mal weiter im ersten Kapitel. Wenn ihr eine Bibel habt, schaut rein. Ich lese langsam, auch wenn der Reichtum der Gegenwart ja auch unser Problem ist. Wir haben jetzt etwa 25 verschiedene Bibelübersetzungen. Oder habt ihr bei euch angeordnet, dass man Elberfelder liest oder was? Wir haben Luther im Gemeindehaus, aber hier bringt jeder mit, was er hat. Ich weiß ja, Volksbibel und all sowas. Darf man kein böses Wort darüber sagen, da reicht ja manchmal der Reichtum auch als Problem.
Ich lese aber so langsam, dass ihr vergleichen könnt. Aber tröstet euch: Gleich werdet ihr die Sätze, die ich euch auslege, alle auch noch einmal hier vorne sehen. Deshalb jetzt einfach mal zuhören und den großen Bogen mitkriegen.
Wir fangen von Vers drei an, also an die Fremdlinge, auserwählten Fremdlinge, die in der Zerstreuung leben:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
Wie er uns geboren hat zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwüstlichen Erbe, das aufbewahrt wird im Himmel für euch, die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werdet zur Seligkeit – sagt Luther zur Rettung –, die bereitet ist, damit sie offenbar werde zur letzten Zeit.
Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen. Auf dass euer Glaube bewährt werde, also die Anfechtungen, auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer erfunden werde als vergängliches Gold, das durchs Feuer geläutert wird zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus.
Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb. Und nun glaubt ihr an ihn, obwohl ihr ihn nicht seht.
Ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelenseligkeit, die Rettung, das Heil.
Nach dieser Seligkeit haben gesucht und geforscht die Propheten, die geweissagt haben von der Gnade für euch. Sie haben geforscht, auf welche und was für eine Zeit der Geist Christi deutet, der in ihnen war und zuvor bezeugt hat die Leiden, die über Christus kommen sollten, und die Herrlichkeit danach.
Ihnen ist offenbar worden, dass sie nicht sich selbst, sondern euch dienen sollten mit dem, was euch nun verkündigt ist durch die, die euch das Evangelium verkündigt haben – durch den Heiligen Geist, der vom Himmel gesandt ist –, was auch die Engel begehren zu schauen.
Darum umgürtet eure Lenden und stärkt euren Verstand, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch dargeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi.
Als gehorsame Kinder gebt euch nicht den Begierden hin, in denen ihr früher in eurer Unwissenheit lebtet. Sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel.
Denn es steht geschrieben im dritten Buch Mose, Kapitel 19, Vers 3: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“, spricht Gott.
Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person jeden richtet nach seinem Werk, so führt euer Leben in Gottesfurcht, solange ihr hier in der Fremde weilt – wieder Fremde, ihr lebt jetzt in der Fremde.
Dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väterweise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.
Es ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt war, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben hat, sodass ihr Glauben und Hoffnung zu Gott habt.
Habt ihr eure Seelen gereinigt im Gehorsam der Wahrheit? Zu ungeheuchelter Bruderliebe? So habt euch untereinander beständig lieb aus reinem Herzen.
Denn ihr seid wiedergeboren, nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, nämlich aus dem lebendigen Wort Gottes, das bleibt.
Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen, aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.
Das ist das Wort, welches euch verkündigt ist.
Die Identität der Christen als Fremde und die Bedeutung der Wiedergeburt
Ein großer Satz für diejenigen, die Griechisch lernen und den Text auf Griechisch lesen: In der deutschen Übersetzung ist dieser Satz bereits aufgelöst. Was in den Versen ab Vers 3 folgt, ist eigentlich ein einziger Satz, den man deshalb in einem großen Schwung lesen muss.
Schauen wir jetzt noch einmal genauer hin.
Erster Punkt: Erwählte Fremde in der Zerstreuung. Das habe ich euch erklärt: Minderheit in einer nichtchristlichen Gesellschaft. Er knüpft daran an. Ja, ich habe jetzt von der Zerstreuung des jüdischen Volkes gesprochen, aber Fremdsein ist eine viel ältere Linie im Volk Israel.
Abraham wird berufen. Er zieht aus dem Irak nach Norden, nach Haran. Gott beruft ihn dann: „Ich will dir ein Land geben, zieh in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Abraham und seine Söhne, also Abraham, Isaak und Jakob, ziehen immer wieder durch das verheißene Land, ohne dass sie dort siedeln dürfen. Sie leben in Zelten, das Land gehört ihnen nicht. Das heißt, sie sind von Anfang an Fremde.
Dann sind sie in Ägypten, dann folgt die Sklaverei in Ägypten. Das bedeutet: Von den Wurzeln des Volkes Gottes an gehört zu ihnen, dass sie berufen sind in ein verheißendes Land, das Gott ihnen schenken wird. Aber sie leben als Nomaden, als Fremde auf der Wanderschaft. Das ist ihr Wesen: Ausländer auf Befehl.
Wenn wir heute Probleme haben und uns damit beschäftigen, wie das mit Flüchtlingen und so weiter geht und wie man das alles hinkriegt, dann ist das das ureigenste Thema von Christen. Ein Jesusnachfolger muss verstehen, was es heißt, als Fremder zu leben, keine Heimat zu haben dort, wo man geboren ist, wo die Familie lebt, wo man arbeitet und so weiter.
Manche erleben das natürlich auch so, dass sie ihre Heimat heute verlassen und in anderen Ländern neu anfangen müssen. Das ist alles schwer genug. Aber die Lektion zu lernen, ist die Aufgabe bei uns, den Biodeutschen, also Leuten, die Jesus nachfolgen und hier in Deutschland ihre Wurzeln haben.
Wenn sie nicht gelernt haben, das Bewusstsein von Fremden in der Zerstreuung sich anzueignen, haben sie nicht begriffen, was Jesusnachfolge ist. Das ist natürlich total fremd, weil wir oft sagen: Die Armen, die keine Heimat haben, aber wir selbst, die Bayern, sind ja bekannt dafür, Heimat zu lieben. Heimat ist uns wichtig. Ja, das ist auch schön, aber für Christen sind wir Fremde. Und für Jesusnachfolger sind auch die Bayern in Bayern Fremde, die Franken in Franken Fremde, die Preußen in Preußen Fremde und überall Fremde.
Warum? Weil sie wiedergeboren sind und eine lebendige Hoffnung haben. Das haben wir gerade gelesen, gelobt sei Gott. Er fängt damit an und sagt: Ja, was ist denn das Wesen? Warum seid ihr Fremde in der Zerstreuung, in einer Mehrheitsgesellschaft, die anders denkt? Weil ihr neugeboren seid, von neuem geboren.
Hier sagt er, das ist Barmherzigkeit Gottes. Ihr seid alternativ, also anders geboren. Das Fremdwort „alternativ“ heißt neu, anders geboren. Das steckt in diesem Wort „anders geboren“. Und zwar wie durch die Auferstehung Jesu von den Toten.
Es ist auch interessant, dass es in der Bibel verschiedene Stellen zur Wiedergeburt gibt. Jesus redet davon durch Wasser und Geist (Johannes 3). Hier sagt Paulus Wiedergeburt durch die Auferweckung, durch die Auferstehung Jesu Christi zu einem unvergänglichen, unbefleckten, unverwelklichen Erbe, das aufbewahrt wird.
Was ist das? Was heißt lebendige Hoffnung? Lebendige Hoffnung kann man auf zweierlei Weise verstehen. Einmal ist Hoffnung mein Hoffen: Ich hoffe, ich wünsche mir etwas, ich weiß es nicht, ich hoffe, dass jemand zuhört. Das ist die Haltung der Hoffnung.
Oder die Hoffnung ist das, was wir erhoffen, der Inhalt der Hoffnung. Und das ist hier gemeint, wenn man den Satz richtig liest: Wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung, und zwar durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
Ja, er ist auferstanden, der Tod kann ihn nie mehr besiegen. In ihm ist der neue Himmel und die neue Welt angebrochen. Und wir, wenn wir mit ihm verbunden sind, werden teilhaben an der neuen Welt Gottes, wenn er wiederkommt. Wir haben jetzt schon Anteil durch den Heiligen Geist in der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen.
Das heißt, er ist unsere Hoffnung. Wiedergeboren zur lebendigen Hoffnung heißt: die Hoffnung, die nicht stirbt, heißt Jesus. Das ist die Gottesherrschaft und die neue Welt, die mit ihm, dem Auferstandenen, anbricht. Und das ist das unverwelkliche Erbe, das uns niemand nehmen kann. Es wird aufbewahrt, heißt es hier im Himmel.
„Aufbewahrt für euch, die aus Gottes Macht durch Glauben bewahrt werdet, zur Seligkeit, zum Heil, zur Errettung, die bereitet ist, dass sie offenbar werde zu der letzten Zeit.“
Das heißt, wir haben jetzt schon die lebendige Hoffnung, weil Jesus auferstanden ist, er lebt und ihn kriegt keiner kaputt. Aber wir sagen ja: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dann denken wir immer, das ist das, was wir hoffen. Und viele unserer Hoffnungen platzen, weil sie sich nicht erfüllen.
Wenn die Bibel von der lebendigen Hoffnung redet, dann sagt sie: Der Erhoffte, der Inhalt der Hoffnung, das, was wir erben werden und was wir als Erben jetzt schon besitzen und anteilig durch den Heiligen Geist bekommen. Deshalb redet Jesus von der Wiedergeburt durch den Heiligen Geist, von der Vergebung der Sünden und der Erfüllung mit dem Heiligen Geist, dem Anteil an der neuen Welt Gottes.
Das kann man nicht selbst machen, das kann man nicht kaufen, das kann man nicht erarbeiten. Sondern das kann allein Gott schaffen. Und er schafft es durch den Heiligen Geist, durch die Vergebung der Sünden, durch den gekreuzigten und auferstandenen Jesus.
Das ist das erste wesentliche Kennzeichen: Ihr seid total anders, nicht weil ihr besser seid oder so, und ihr habt es auch nicht selbst gemacht, sondern ihr seid von Neuem geboren und habt in Jesus die lebendige Hoffnung. Ihr seid Teil seiner Herrschaft.
Zwei Kontraste der Weltanschauung und die Herausforderung des Glaubens
Hier gibt es den dritten Punkt mit zwei Kontrasten, die beschrieben werden. Damals gab es einen Unterschied zwischen der Weltanschauung der Jesusnachfolger und der Weltanschauung der Menschen ringsherum. Das fasziniert mich sehr, denn heute ist dieser Unterschied noch viel krasser als damals. Aber offensichtlich war es damals schon so. Ich zeige euch die zwei Kontraste.
Der erste Kontrast steht in Vers 8: „Ihr habt ihn nicht gesehen und habt ihn doch lieb, und nun glaubt ihr an ihn, obwohl ihr ihn nicht seht.“ Paulus sagt Ähnliches in 2. Korinther 4,18: „Wir schauen auf das Unsichtbare, denn das Unsichtbare ist ewig, das Sichtbare vergeht.“ Alles, was man sieht, stirbt. Deshalb ist Gott nicht an das Sichtbare gebunden.
Die Weltanschauung oder Weltsicht der Menschen um uns herum ist ganz anders. Ein sehr scharf denkender Philosoph unserer Zeit, Charles Taylor, ein katholischer Philosoph, hat das in einem seiner bedeutendsten Bücher über das säkulare Zeitalter beschrieben. Er erklärt, dass sich in den letzten 500 Jahren in Westeuropa und Nordamerika, vor allem im sogenannten Westen, eine Entwicklung vollzogen hat. Vor 500 Jahren schien es in Europa kaum möglich, dass jemand nicht an Gott glaubte. Es gab zwar Ausnahmen, aber das war die Ausnahme.
Heute scheint es hingegen völlig unmöglich, an Gott zu glauben. Taylor nennt das die „sozialen Vorstellungsschemata“ – also das, was wir lernen und wie wir die Welt sehen. Er sagt, wir haben gelernt, die Welt sei ein abgeschlossenes Diesseits. Wir Menschen sind sozusagen die Götter. Der Gedanke an Gott ist blass geworden.
Natürlich gibt es Leute, die glauben. Aber schaut euch mal die Christen an: Die Hölle ist für sie ein Witz, und den Himmel wollen sie auch nicht wirklich. Das konnte man in der Corona-Zeit studieren – alle wollen noch mal nach Mallorca, aber in den Himmel will niemand. Sterben war das Schlimmste. Paulus hat damals niemand verstanden, als er sagte: „Christus ist mein Leben, Sterben ist Gewinn.“ Die Christenheit in Europa sagte: Sterben ist der größte Verlust, der denkbar ist. Hauptsache ist Gesundheit. Niemand glaubt daran, dass der Himmel eine Realität ist, auf die es sich lohnt zu hoffen und zu gehen. Auch Christen leben so, dass sie es möglichst lange vermeiden, dorthin zu müssen, falls es das gibt.
Ich übertreibe jetzt etwas und mache es drastisch. Genau das beschreibt Charles Taylor: Unser allgemeines Denken, das wir durch die Poren aufnehmen und das uns durchdringt, auch wenn man Charles Taylor nie gelesen hat, ist geprägt von der Vorstellung, dass nur das existiert, was ich sehe. Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Testet euch selbst: Das ist die Quelle unserer Anfechtungen, dass wir ganz automatisch sagen, was ich nicht sehe, gibt es wahrscheinlich nicht.
Ich kenne das aus meinem Leben. Ich habe immer wieder diese Zweifel: Ist das nicht doch alles ein Wahn? Nun habe ich den Vorteil, dass ich ziemlich alt bin und der Zeitpunkt näherkommt, an dem die Wahrheit wirklich radikal deutlich wird. Wenn ich hier die Augen schließe, werde ich ihn sehen, wie er ist. Dann gibt es keine Zweifel mehr. Dann kann niemand mehr sagen: „Du folgst da irgendeinem Wahn, das ist doch gar nicht so, sei doch mal realistisch.“ Was man nicht sieht, gibt es ja – gut, es gibt unsichtbare Dinge, die real sind.
Manche Christen sagen dann so interessant: „Elektrizität sieht man auch nicht, kann man aber physikalisch nachweisen, ohne daran zu glauben.“ Also, die Sache ist viel, viel schwieriger, als wir denken. Aber so war es damals.
Stellt euch vor, wie ist das bei euch? Ihr seht Jesus nicht, habt ihn nicht gesehen, und doch liebt ihr ihn. Das spricht ja diesen Gemeinden zu, die in einer Umgebung leben, wo alle sagen: „Ihr seid doch Spinner, ihr habt Wahnvorstellungen, ihr müsst zum Psychiater.“ An Sachen zu glauben, die kein Mensch gesehen hat, das sind doch Märchen. Das ist eine Quelle der Anfechtung. Und das weiß Petrus. Er spricht ihnen das zu: „Ihr seid neu geboren und liebt Jesus, obwohl ihr ihn nicht gesehen habt.“ Das ist der erste Kontrast.
Der zweite Kontrast steht in Vers 6: „Ihr werdet euch freuen, ja, ihr werdet euch mit unaussprechlicher, herrlicher Freude freuen, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich die Seelenseligkeit.“ Das Kennzeichen der ersten Christen im ersten Jahrhundert war ihre Zukunftshoffnung. Sie grüßten sich auf der Straße mit „Maranatha – unser Herr kommt!“ Das war ihr Alltagsgruß: „Unser Herr kommt!“
Paulus sagt: „Wir freuen uns, ja, wir freuen uns.“ Es gibt Anfechtungen, es gibt Prügel, Tränen und Druck, das kommt alles. Aber wir freuen uns, wenn wir ihn sehen werden, wie er in Herrlichkeit ist. Das war damals und ist heute ein total anderer Lebensstil als der der Umwelt.
Zur Zeit des Neuen Testaments war einer der beliebten Sprüche, den auch heute noch viele auf ihren T-Shirts tragen, „Carpe Diem“. Horaz hat das gedichtet. Das Gedicht geht so weiter: „Pflücke den Tag, genieße den Tag und erwarte so wenig wie möglich vom Kommenden.“ Das ist ein Satz der Hoffnungslosigkeit. „Lasst uns essen und trinken, morgen sind wir tot.“
Das ist er. Das Glaubensbekenntnis heute kann man zusammenfassen in dem Satz: „Ich will alles, aber jetzt.“ Wir sind eine Generation, die sich so viele Wünsche so schnell erfüllen kann wie keine Generation vor uns. Das ist ganz offen so. Schaut euch eure Kühlschränke an, was wir essen, die Früchte, die wir essen.
Immer wenn ich mit meiner Frau zum Edeka gehe, packe ich am Eingang erstmal zwei Schachteln Datteln aus Tunesien ein. Meine Frau sagt: „Haben wir schon zu Hause.“ Ich sage: „Kann man gar nicht genug davon haben.“ Früher kamen nur ganz wenige Menschen an solche Früchte, die mal in Gegenden gereist sind, wo man solche Früchte bekommen konnte. Heute hat das jeder bei Edeka, Rewe, Aldi oder in Feinkostläden.
Und was das Reisen angeht: Früher hat Goethe Bücher geschrieben, weil er nach Italien reiste. Stell dir mal vor, jeder, der heute nach Italien in Urlaub fährt, würde ein Buch darüber schreiben – der Schwarzwald wäre längst abgeholzt, das wäre ökologisch nicht vertretbar. Was früher nur Ausnahmen für erlesene Reiche möglich war, kann heute jeder haben.
Das macht natürlich etwas mit uns. Wir genießen es alle. Wenn man viele Wünsche so schnell erfüllt bekommt, ergibt das, was man aus der Kindererziehung kennt: verwöhnte Kinder. Denn was sie nicht lernen, ist Frustrationstoleranz – also die Fähigkeit, Entbehrungen auszuhalten und mit einem Nein bei unerfüllten Wünschen zu leben.
Je mehr Wünsche man erfüllen kann, desto schwächer wird die Kraft, Wunschverweigerungen auszuhalten. Wir leben in einer Welt mit riesigen Problemen, wie jeder weiß. Deshalb brauchen wir Belastbarkeit, Kampfeskraft und Arbeitskraft, die viel aushalten kann.
Doch unsere seelische Kraft, die wir durch unseren Wohlstand genießen, ist oft schlapp. Auch wir Christen sind davon betroffen. Da kann man zunächst nichts ändern. Wir leben im Wohlstand, sind verwöhnt durch schnelle Wunscherfüllung, und das prägt unsere Seele, nicht nur unseren Körper.
Natürlich stimmen wir zu, was alle sagen: „Ich will alles, aber jetzt.“ Bei Christen kommt noch etwas hinzu. Vor 150, 170 Jahren kamen Religionskritiker und sagten: „Ihr Christen, ihr seid fiese Typen, ihr wollt die Leute auf den Himmel vertrösten, damit ihr sie hier auf der Erde besser beherrschen könnt.“ Karl Marx sagte dann: „Man muss diese ganze Gottvertrösterei wegnehmen, damit die Leute sich nicht auf den Himmel vertrösten lassen, sondern jetzt Gerechtigkeit und neue Lebensverhältnisse wollen.“
Die Christen sagen: „Auf keinen Fall vertrösten wir jemanden auf den Himmel. Wir wollen alles jetzt. Wir wollen jetzt gesund werden, jetzt eine gerechte Welt schaffen, jetzt Frieden.“ Schauen wir auf die Bilanz: Die erste Generation, die eine Weltorganisation gegründet hat, um den Weltfrieden zu schaffen, ist die UNO.
Wer die Nachrichten hört und sich mit der UNO beschäftigt, muss aufpassen, kein Zyniker zu werden. Gibt es einen Platz auf der Welt, an dem Frieden und Wahrheit weniger eine Rolle spielen als dort? Die verzweifelte Sehnsucht nach Frieden ist groß. Wir können es, wir müssen es schaffen. Die Bilanz ist aber ziemlich bescheiden.
Wir leben in einer Welt, in der Christen sagen: „Ja, wo wir können, wollen wir Versöhnung stiften, wo wir können, wollen wir Gerechtigkeit schaffen. Tut Gutes an jedermann, allermeist aber an die Glaubensgeschwister. Tut Gutes an jedermann, solange es Zeit ist.“
Die Bibel fordert uns auf, den Fremden gut zu behandeln, die Flüchtlinge zu versorgen, die Kranken und Gefangenen zu besuchen. Das alles, weil der Himmel kommt. Nichts ist vergeblich, was wir im Namen des kommenden Herrn tun, der den neuen Himmel und die neue Erde schaffen wird.
Deshalb dürfen wir kleine Puzzleteile zusammensetzen, ohne zu resignieren und zu sagen: „Ich sehe das ganze Bild nicht, ich schaffe das sowieso nicht, ich habe keine Lust mehr, das nächste Puzzleteil zu suchen.“ Nein, Jesus schafft das Ganze. Deine Aufgabe ist, die kleinen Puzzleteile in deiner Umgebung zusammenzusetzen. Tu es!
Schau auf Jesus. In dem Augenblick, in dem du glaubst, du müsstest das ganze Bild zusammensetzen, verlierst du die Lust, das nächste Stück zu suchen. Deshalb sind die Idealisten von heute oft die Menschenverächter von morgen. Diejenigen, die heute meinen, sie hätten alle Lösungen und könnten die Gerechtigkeit schaffen, schreien morgen nach Gewalt, weil sie die Nerven verlieren und keine Lust mehr haben, geduldig weiterzuarbeiten.
Deshalb macht lebendige Hoffnung bescheiden. Jesus schafft den neuen Himmel und die neue Erde. Er ist auferstanden, und deshalb will ich alles – ja! Aber auch: Nein, blutige Nasen gehören dazu. Das ist hart. Hat jemand im Leben schon mal einen Schlag auf die Nase bekommen? Früher bekamen das nur Jungs, heute auch Mädchen.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, in der ersten Reihe. Ich denke oft an das, was ich zuletzt gesagt habe – das ist eine Schwäche älterer Männer.
Idealisten von heute sind die Menschenverächter von morgen. Das ist ein trauriger Spruch, aber leider wahr.
Hier sind also zwei Punkte, bei denen die Weltanschauung, das Lebensklima – mit Charles Taylors Worten das soziale Vorstellungsschema – total anders ist als bei Christen und denen, die Jesus nicht kennen.
Die große Not ist, dass Christen heute in ihrem Glauben an Jesus oft von den Weltanschauungen und Vorstellungsschemata ihrer Umgebung geprägt werden. „Was ich sehe, ist wichtig.“ Für die Religion fängt es immer damit an, dass man Dinge sehen, anfassen muss.
Wir haben das ja auch so angefangen. Natürlich bin ich zutiefst überzeugt, dass der Herr Jesus auch heute wunderbar heilen kann. Ich habe oft erlebt, dass ich nie wusste, was das größere Wunder ist: Wenn er mit Ärzten heilt oder ohne. Denn bei den vielen Fehlern, die Ärzte machen, ist es auch Gnade Gottes, wenn es gelingt.
Neulich musste ich mich an der Halsschlagader operieren lassen, weil sie zu 99 Prozent zu war. Ich hatte das gar nicht bemerkt. Der Arzt erklärte mir die Risiken: „Es kann ein letaler Ausgang sein.“ Ich sagte ihm: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bete für Sie.“ Er sah mich mit großen Augen an.
Ich hatte diese Diagnose bekommen und bin drei Wochen lang evangelisieren gegangen, weil ich kurzfristig nichts absagen wollte. Dann musste ich unterschreiben, dass ich die Verantwortung selbst trage.
Der Arzt, ein toller Spezialist, aber völlig gottvergessen, begrüßte mich: „Sie sind der, der lieber arbeitet und stirbt, als sich helfen zu lassen.“ Ich erklärte ihm, wie das zusammenhängt: Wir haben das ewige Leben schon jetzt. Ich freue mich noch mehr, wenn ich es dann voll habe. Ich war damals fünf Jahre jünger und an der Schwelle zur Ewigkeit. Ich bin dankbar, dass er mir helfen will, aber er sollte eine ruhige Hand haben. Ich würde für ihn beten, dass es ihm hilft.
Du merkst, wie fremd das in dieser Welt ist, wenn man so etwas äußert.
Prüft euch selbst: Wie stark ist die Weltanschauung unserer Mehrheitsgesellschaft, aus der wir kommen, in euch? Ich weiß nicht, wer hier schon in der fünften Generation evangelisch-freikirchlicher Gemeinde ist und sich eigentlich nicht vorstellen kann, wie gottlos andere ticken. Vielleicht sitzen hier auch Leute, die genau wissen, wie es ist, wenn man aus einer Familie oder einem Freundeskreis kommt, in dem man der einzige ist, der an Jesus glaubt – und wie fremd man dann ist.
Deshalb ist dieser Petrusbrief so wichtig. Petrus sagt: „Ihr seid Fremde in der Zerstreuung.“ Zerstreuung heißt immer, ihr seid nicht die Mehrheitsgesellschaft.
Wenn man eine Minderheit ist, kommt schnell der Gedanke: „Kann das sein, dass alle falsch sind und nur wir hier in dieser Gemeinde richtig ticken? Ist das nicht sektenhafte Anmaßung?“ Das gab es damals auch.
Deshalb sagt Paulus das ganz bewusst. Und er sagt noch etwas – das gehört zur Ernüchterung: „Auf das Unsichtbare schauen wir. Wir freuen uns auf den kommenden Herrn.“ Die Freude auf den kommenden Herrn ist die Säule.
Darum heißt es: „Umgürtet eure Lenden und stärkt euren Verstand.“ So steht es in der erneuerten Lutherbibel, was ich sehr interessant finde. Seid nüchtern, also nicht betrunken.
Worin zeigt sich diese Nüchternheit? Dieser starke Verstand setzt seine Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch durch die Offenbarung Jesu Christi dargeboten wird. Es ist eine Einsäulenkonstruktion.
Es gibt viel zu bedenken, aber das Fundament, auf dem wir unser Leben gründen können, ist nur die Gnade. Wir werden beschenkt und begnadigt, weil Gott in Jesus das Gericht trägt, unsere Sünde vergibt und uns als verlorene Verbrecher, die Gott beleidigt haben, zu Kindern Gottes macht.
Gnade heißt erstens Begnadigung und zweitens Beschenktwerden. Wir leben von den Geschenken Gottes. Das macht uns stark und nüchtern. Wenn ich mich auf meine eigene Kraft verlassen müsste, was soll ich machen, wenn ich dement werde? Ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe das noch nie erlebt. Ich weiß übrigens auch nicht, wie das Sterben geht, denn ich bin ja noch nicht gestorben. Aber das steht bald an.
Wenn du älter wirst, entdeckst du immer mehr Dinge, die du noch nie zuvor gemacht hast. Je jünger du bist, desto mehr meinst du, du kriegst das alles noch hin. Das ist ganz menschlich. Junge Leute haben oft so ein Selbstvertrauen, dass sie alles schaffen.
Du hast die Chance, wenn du älter wirst und zulässt, dass die Weisheit des Alters deinen Verstand erreicht – was nicht selbstverständlich ist, denn manche saufen so viel, dass nichts ankommt – deshalb sagt Petrus: „Seid nüchtern, seid nüchtern und stärkt euren Verstand und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade.“
Ich erschrecke manchmal in der Seelsorge, wenn ich an Sterbe- und Krankenbetten stehe. Selbst gediegene Christen fragen plötzlich: „Reicht es? Reicht es?“ Dann merkst du, dass sie sich nicht auf die Gnade verlassen, sondern auf das, was sie gelebt haben – treu zum Gottesdienst gegangen, treue Mitarbeiter gewesen, treu die Bibel gelesen. Das ist alles nötig zum Leben, aber wenn du dich darauf verlässt, was du selbst tust, und meinst, das würde dein Leben tragen, erntest du nur Unsicherheit.
Sei nüchtern, setze deine Hoffnung ganz auf die Gnade. Es ist eine Einsäulenkonstruktion. Franz von Assisi sagte: „Alles ist geschenkt, ich bin begnadigt, ich habe nichts verdient, und es stehen mir noch Riesengeschenke bevor.“ Denn Gott hat uns erst eine Anzahlung gegeben auf den ganzen Reichtum, den er in seiner Herrlichkeit für uns bereithält.
In Römer 8 heißt es: Der Heilige Geist ist eine Anzahlung von Gottes Herrschaft und Herrlichkeit. Wir leben jetzt schon wunderbar, aber dann in Herrlichkeit.
Hiller, ein versgelichteter schwäbischer Dichter, der sehr krank war, schrieb zum Schluss: „In Jesus habe ich hier das beste Leben, und sterbe ich, wird er mir ein besseres geben.“ Was für eine Lebensdynamik!
Ich möchte mit niemandem tauschen, wenn ich sehe, was ich durch Jesus habe. Aber es ist erst eine Anzahlung auf die Herrlichkeit, die kommt.
„Christus ist mein Leben, und Sterben ist Gewinn.“ Wenn er wiederkommt und uns verwandelt, und wir sehen, wie er ist – dann wird eine Generation nicht mehr sterben.
Jetzt mache ich aber richtig Dampf, weil Petrus das so unterstreichen will. Deshalb lest noch mal das Kapitel. Er richtet unseren Blick immer wieder auf Jesus.
Ihr wisst, ihr seid nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst von eurem nichtigen Wandel nach den Väterweisheiten, sondern mit dem teuren Blut Christi.
Weil er unseren Blick auf Jesus richtet, sagt er: Wisst ihr, was jetzt euer Leben ausmacht? Ein Leben in Heiligung als gehorsame Kinder.
Ihr gehorcht dem, der gesagt hat: „Ich bin heilig, und darum sollt ihr heilig sein.“ Das entfaltet sich dann weiter: Der Vater, der ist der Richter. Lebt in der Furcht Gottes. Ihr wisst, dass der Herr kommt und das letzte Wort spricht.
Ihr habt eure Seelen gereinigt im Gehorsam der Wahrheit. Das heißt, es verbindet euch in ungeheuchelter Bruderliebe. So lebt beständig untereinander.
Das ist wieder ein Kontrast, denn Liebe wird für uns vor allem als Gefühl verstanden. Gefühle sind nie beständig. Sie kommen und gehen. Da kannst du nichts machen, du musst zusehen.
Deshalb sagen die Leute: „Ich kann mich nicht zwingen. Ich war heiß verliebt, jetzt hasse ich den anderen. Das ist schicksalhaft.“ Hier aber heißt es: „Deine Liebe soll ungeheuchelt sein und wahrlich beständig in einem reinen Herzen.“
Das ist jetzt nur angerissen. Davon bekommen wir morgen noch viel, wenn wir das nächste Kapitel lesen.
Schlussgebet
Wir wollen beten: Ach Herr, wir beten dich an, der du uns so sehr liebst. Wir bitten immer wieder, erneuere diese Beziehung.
Du weißt, wie sehr wir von der Lüge angefochten sind, dass das, was wir nicht sehen, nicht wirklich ist. Dass wir sind wie alle anderen. Wir möchten alles sofort und können nicht warten.
Zeige dich und offenbare dich unseren Herzen neu. Lass unsere Liebe zu dir inniger und herzlicher werden. Lass unsere Hoffnung und unsere Erwartung deines Kommens inbrünstiger und mutiger werden.
Amen!