Man schrieb den Advent 1980, liebe Gemeinde. In Süditalien bebte die Erde. Ein furchtbarer Erdstoß traf Straßen, Häuser und Türme. Ganze Orte sanken in Schutt und Asche. Leichengeruch zog über das Erdbebengebiet. In der Kleinstadt Lioni lag Guiseppe Fusco mit seinen Kameraden unter Steingeröll im Keller lebendig begraben. Angestrengt horchten sie nach außen: War das ein Geräusch? War das nicht ein Signal? War das nicht eine Stimme? Aber immer wieder wurde es totenstill. Zwei Tage lang schwankten sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung, 48 Stunden lang kämpften sie zwischen Mut und Resignation, 2880 Minuten bangten sie zwischen Leben und Tod - und wie lang eine einzige Minute dauern kann. Dann gaben sie die Hoffnung auf, dann ließen sie den Mut sinken; dann stand ihnen nur noch der Tod vor Augen. Und in diesem Augenblick hörten sie einen Ton: der kam doch von draußen! Sie vernahmen eine Stimme; die kam doch von oben! Sie merkten den Schritt der kam doch auf uns zu. Guiseppe und seinen Freunden wurde es klar; die Retter kommen zielstrebig näher. Sie haben das Erdbebengebiet erreicht. Sie haben sich bis Lioni durchgeschlagen. Sie haben auch unser Haus gefunden. Alles ist nur noch eine Frage der Zeit. Bald werden wir frei sein. Die Rettung steht bevor. Jetzt hatten Guiseppe Fusco und seine Schicksalsgenossen eine feste Hoffnung.
Mir ist dieser Bericht zum Bild geworden. Man schreibt den Advent 1981. Auch in unseren Breitengraden bebt die Erde. Es müssen ja gar keine Erdstöße sein, die uns den Boden unter den Füßen wegziehen. Ein Erlebnis, eine Krankheit, ein Todesfall kann uns so erschüttern, daß Lebenspläne und Wunschvorstellungen in Schutt und Asche sinken. Viele sind unter Geröllhalden von Problemen und Sorgen und Schuld bei lebendigem Leib begraben. Angestrengt horchen sie auf jede Stimme, jede Nachricht, jede Zeitungsmeldung, aber viel Hoffnungsvolles ist dort nicht zu entdecken. Deshalb geben sie die Hoffnung auf, lassen den Mut sinken und sehen nur noch den Tod vor ihren Augen. Hoffnungslosigkeit zieht durch unser Land. Und in diesem Augenblick hören wir in diesem Text einen Ton, der von draußen kommt. Wir vernehmen mit diesem Text eine Stimme, die von oben kommt. Wir merken durch diesen Text den Schritt, der auf uns zukommt. Jedem muß klar werden: Der Retter kommt zielstrebig näher. In Bethlehem erreichte er unser Gebiet. Das Notlager auf Heu und Stroh störte ihn überhaupt nicht. Er kam ja als Diener, um zu retten. Über Nazareth gelangte er nach Kapernaum. Sofort machte er sich an die Arbeit. Blinde, Lahme und Krüppel schaufelte er frei. Jericho hieß eine nächste Station. Der Schutthaufen über dem Zollhaus war ihm nicht zu schmutzig. Mit eigenen Händen zog er den Zachäus heraus. In Bethanien war schon einer gestorben. Aber er stemmte sich selbst gegen die Todestür. Den Lazarus stellte er wieder auf die Füße. Jesu Rettungsweg führte direkt nach Jerusalem. Trotz behördlichen Schwierigkeiten mühte er sich um jeden ab. Er kämpft bis aufs Blut. Wohl haben sie ihn am Kreuz festgeschlagen, aber damit hat er sich bis zu uns durchgeschlagen. Er findet unser Haus. "Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.” Keiner muß unter der Last der Sorge begraben sein, keiner muß unter dem Berg der Probleme verschüttet bleiben. Keiner muß unter dem Schutt der Schuld ewig verloren gehen. Jesus Christus bereitet die Rettung vor. Deshalb müssen wir nicht feste hoffen, sondern haben eine feste Hoffnung: "Er kommt, er kommt mit Willen, ist voller Lieb und Lust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewußt." Damit aber sind wir nicht mit dem Kinderlied vertröstet: "Morgen Kinder wirds was geben!" Damit sind wir nicht mit reiner Zukunftsmusik berieselt: "Morgen werden wir uns freuen!" Die Kirche ist überhaupt nie Wartesaal, wo einen die Langeweile plagt. Jede echte Hoffnung gestaltet die Gegenwart. Und so macht auch feste Hoffnung frei; frei von Streit, Angst und Klage.
1. Feste Hoffnung macht frei von Streit. Eingeschlossene fallen sich auf die Nerven. Sie können nicht miteinander. Gruppenbildung ist eine Folge des sogenannten Lagerkollers. So war es in Rom. Zwei Meinungen schälten sich heraus. Die einen hielten es für ihre Christenpflicht, angesichts der Lage auf den Genuß von Fleisch und Wein zu verzichten. Die andern machten sich kein Gewissen daraus und tafelten fröhlich weiter. Und dann fing das an, was unter Brüdern, zumal unter Glaubensbrüdern nicht geschehe dürfte; anstatt füreinander da zu sein, waren sie gegeneinander. Gemeindeglieder gerieten sich in die Wolle. Ein handfester Krach, erschütterte die Gemeinde. Was habt ihr für einen schwachen Glauben, sagten die einen, daß euch Tellerschnitzel und Tafelwein im Gewissen beschwert? Hat uns das Evangelium nicht von allen Gesetzlichkeiten, Engstirnigkeiten und Humorlosigkeiten befreit? Christen sind doch keine Essmuffel. Was habt ihr für einen starken Glauben, sagten die andern, daß euch Fleischportionen und Alkohol nicht belastet? Hat uns das Evangelium nicht zum Beten und Fasten aufgerufen? Christen sind doch keine Schlemmer. Und dann fielen die harten Urteile: Ihr Schwache, ihr Starke, ihr Enge, ihr Weite, ihr Kleinkarierte, ihr Großzügige, ihr Rechtgläubige, ihr Ungläubige! In Rom entflammte der Streit. Deshalb griff Paulus zur Feder. Mit wenigen Sätzen stellte er klar: Jetzt geht es doch nicht um Essen und Trinken. Jetzt geht es doch nicht um Fleischesser und Vegetarier, Raucher und Nichtraucher, Genießer und Abstinenzler. Jetzt geht es überhaupt nicht um Vorschriften, Programme und Systeme, sondern um den wiederkommenden Herrn. Und wenn der kommt, dann werden keine Uniformen verteilt und kein Gleichschritt exerziert. Christus schlägt nicht alle über einen frommen Leisten. Ein Schema F gibt es bei ihm nicht. Deshalb können heute schon christliche Lebensstile verschieden sein. Der eine ist unbeschwert weltoffen, aus Glauben! Der andere geht den harten Weg des Verzichts, aus Glauben! Der eine macht in Politik und tritt in die Partei ein, aus Glauben! Der andere bleibt ehelos und bewirbt sich bei einer Kommunität, aus Glauben! Der eine sieht sein Arbeitsfeld im Topmanagement, aus Glauben! Der andere geht in die Mission, aus Glauben! Es gibt so viele Christentümer, wie es Christen gibt, aber nur einen Christus, der im Kommen ist. Dieser will uns annehmen, so wie wir sind. Noch im Sterben reckte er seine Hände weit auseinander, so als wolle er sie alle zusammennehmen; den Petrus und den Johannes, den Josef von Arimathia und den römischen Hauptmann, den Schächer zur Linke und zur Rechten. Wenn aber Jesus diese Gegensätze zusammennimmt, dann haben zwischen seinen Händen auch unsere geistlichen Stilvarianten und persönlichen Dickköpfigkeiten Platz. Und dann gilt dies auch im Blick auf unsere Kinder, die nicht mehr zum Friseur wollen, immer die gleiche Jeanshose tragen und das Stereogerät auf volle Lautstärke drehen: Nehmet einander an! Dann gilt dies im Blick auf unsere Eltern, die im schwierigen Alter sind, immer von gestern reden und so unbeweglich geworden sind: Nehmet einander an! Dann gilt dies auch im Blick auf die Zeitgenossen, die uns nerven und ärgern und reizen: Nehmet einander an, gleichwie Christus euch angenommen hat. Feste Hoffnung macht frei von Streit. Das ist das Erste, und das Zweite:
2. Feste Hoffnung macht frei von Angst. Eingeschlossene haben keine Nerven. Sie fingen zu zittern an. Lebensangst ist die Folge des Eingesperrtseins. So war es auch in Rom. Theologen kamen und wollten trösten. Sie sprachen von einem göttlichen Lichtfunkel, der in jeder Seele brenne und der gar nie verlöschen können. Philosophen kamen und wollten trösten. Sie sprachen von stoischer Gelassenheit, die letztlich jedes Elend überwinden helfe. Astrologen kamen und wollten trösten. Sie sprachen von Himmelskonstellationen, die äußerst günstig seien und keinen Anlaß zur Furcht gäben. Aber alle waren leidige Tröster, die nicht helfen konnten. In Rom ging die Angst um. Deshalb griff Paulus zur Feder. Er wußte um die Trostbedürftigkeit seiner Leute. Jeder Mensch braucht Trost. Rudolf Bohren schreibt einmal "Der Säugling, schreiend in seiner Wiege, der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd, der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, daß das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört." Paulus stellt klar: Es müssen gar keine Theologen und Philosphen und Astrologen kommen, weil Gott kommt. Und dieser Gott ist ein Gott des Trostes, der von sich sagt: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Schon dem Jesaja hat er befohlen: "Tröstet, tröstet mein Volk. Redet mit Jerusalem freundlich und prediget ihr, daß ihre Gefangenschaft ein Ende hat." Dann kam er selber in dem Mann Jesus Christus. Zu Beginn seiner Tätigkeit stellte er gleichsam als Regierungserklärung fest: "Selig sind die Leidtragenden, denn die sollen getröstet werden." Die Witwe von Nain bekam ihren Sohn zurück, der Jairus konnte sein Töchterlein wieder in die Arme schließen, und Maria hörte am Ostermorgen: Was weinest du? Wen suchst du? Du bist gesucht. Du bist gefunden. Du bist mein in Zeit und Ewigkeit. Dieser Herr, der sein Volk getröstet hat, ist im Kommen und wird wieder trösten. Er kennt die Altenstube, wo jemand ganz allein vor dem Adventskranz sitzt. Er kennt das Krankenzimmer, wo gar keine Aussicht auf Heilung besteht. Er kennt die Wohnstube, wo ständig der Familienstreit ausgetragen wird. Er kennt das Büro, wo die roten Zahlen aus dem Betrieb zusammenfließen. Er kennt den Arbeitsplatz, der alles andere als sicher ist. Er kennt das alles und weiß, wo jedem die Angst zu schaffen macht. Auf die Frage des Adventsliedes: "Wo bleibst du Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?" antwortet Paulus: In dem wiederkommenden Herrn. Feste Hoffnung macht frei von Angst.
3. Feste Hoffnung macht frei von Klage. Eingeschlossene sind nervlich am Ende. Sie sehen nicht mehr hinaus. Klagelieder sind die Folge der Notlage. So war es wieder in Rom. In der Liturgie tauchte nur noch der 22. Psalm auf: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Viele Gemeindeglieder stellten das Beten ein und einige ballten sogar die Fäuste gegen den Himmel. Deshalb griff Paulus zur Feder. Seinen Freunden schrieb er's ins Stammbuch. Gleich dreimal wurde es in wenigen Zeilen wiederholt: Lobet den Herrn! Der Apostel redete nicht wie der Blinde von der Farbe. Er hatte dies alles verwandelnde Gotteslob im Kerker selbst ausprobiert. In Philippi hatten sie ihn mitsamt seinem Freund Silas kurzerhand eingelocht. Zuerst wurden ihnen noch der Rücken gegerbt und dann der Pflock über Fuß- und Handgelenke gepreßt. Dann saßen sie gebeutelt, geschunden, geschlagen im tiefsten Bunker. "Die sind versorgt" sagte sich der Kerkermeister und legte sich aufs Ohr. Aber was mußte er hören? Wehklagen, Schmerzensschreie, Hilferufe? Nein, das Lob kam aus der Tiefe. Der Lobgesang drang durch die Zellenwände. Der Lobpreis füllte den Knast. Paulus und Silas wußten um einen Herrn, der sie nicht sitzen läßt. Sie vertrauten einem Gott, der sich von Gefängnisgittern und Kerkerschlossern nicht abhalten läßt. Sie rechneten mit der Hilfe von oben, deshalb lobten sie mitten in der Nacht. In Rom sollen sie das auch tun - und in Stuttgart auch. Luther sagte es so: "Alle rechtschaffenen Knechte haben den Herrn zuerst gelobt. Denn niemand wird vom Dösen dadurch befreit, daß er sein Übel sieht, sondern dadurch, daß er auf den Herrn schaut. Versuche es nur und greife zum Lob Gottes, wenn dir nicht wohl zumute ist." Und Jochen Klepper hat es mit seiner adventlichen Strophe unterstrichen: "Welch Schuld ihm auch entgegen schreit, er hat sie aufgehoben. Nicht klagen sollst du, loben!" Liebe Freunde das wäre ein Adventsfest, wenn wir in der Adventshoffnung fest würden, denn: Feste Hoffnung macht frei.
Amen.