Gott sucht

Konrad Eißler
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Wenn Sie auch zu den Gottsuchern gehören, dann hören Sie: Sie brauchen Gott nicht zu suchen. Gott sucht Sie. Konrad Eißler lädt ein, ihn mit drei Fragen näher kennenlernen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Darf ich Sie noch einmal an jene köstliche Geschichte erinnern, die ganz vorne in der Bibel steht, liebe Gemeinde? Der reich gewordene Jakob lagert sich mit seiner Großfamilie in den Bergen. Bitte, das war kein Camping im schönen Gebirge Gilead, sondern eine Verschnaufpause auf der Flucht vor seinem Schwiegervater Laban. Schon damals gab es Schwierigkeiten mit den Schwiegereltern. Das ist tröstlich. Die Liebe zu ihnen wächst mit der Entfernung. Deshalb hat sich der schlaue Jakob auch entfernt und freute sich seiner neu gewonnen Ruhe. Nur war die Freude nicht von langer Dauer. Da kam doch der zornerfüllte und wutschnaubende Laban den Berg heraufgeschossen und schrie schon von weitem: “Warum hast du auch noch meinen Hausgott mitlaufen lassen?” Jakob verschlug es den Atem. “14 Jahre geschuftet wie ein Tier und dann noch als Taschendieb hingestellt zu werden. Das ist der Gipfel.” Das sagte er aber nicht, das dachte er nur. Höflich kam es über seine Lippen: “Bitte, suche, ich habe ihn nicht geklaut.” Damit begann die schwiegerväterliche Hausdurchsuchungsaktion. Alle Zelte wurden umgekrempelt, das ganze Gepäck gefilzt, jede Kiste abgeklopft. Ich stelle mir vor, wie Laban immer nervöser wurde. Er fand alles, Wertsachen, Wäsche, Wanzen, aber seinen geliebten Hausgötzen, seinen Gott fand er nicht. So war Laban der erste Gottsucher, und dieser Gottsucher hat nichts gefunden.

Das war vor rund 3000 Jahren, aber die Labans sind nicht ausgestorben. Zugegeben, sie heißen nicht mehr so. Sie haben ganz gewöhnliche Bürgernamen wie Maier, Müller oder Schulze, aber suchen tun sie genau wie damals der lange Laban. Gott suchen ist modern. Sie suchen bei Nacht den ganzen Himmel ab, denn droben überm Sternenzelt muss ein guter Vater wohnen. Sie suchen am Morgen in der freien Natur, denn der liebe Gott geht durch den Wald. Sie suchen am Mittag in den dicken Folianten, denn der Weltgeist ist von den Schriftstellern erfasst. Sie suchen am Abend in der eigenen Brust, denn nach neuster Erkenntnis hat sich das Ewige in uns versteckt. Sie suchen und filzen und klopfen, sie werden wütend und resigniert und frustriert, sie analysieren und diskutieren und meditieren, aber Gott finden tun sie nicht. Gottsucher sind jammerwürdige Figuren, die nur noch feststellen können: Einen Gott gibt es nicht.

Und wenn Sie sich auch aufgemacht haben, und wenn Sie sich auch die Augen ausgucken, und wenn Sie auch zu den Gottsuchern gehören, dann hören Sie: Sie haben sich verhört. Sie brauchen Gott gar nicht zu suchen. Sie finden ihn nicht. Gott sucht Sie. Gott hat sich aufgemacht. Gott schaut sich nach Ihnen die Augen aus. Gott ist Menschensucher. Das ist der Punkt. Er schläft doch nicht im Sternenzelt. Er spielt doch nicht im Wald Verstecken. Er lebt doch nicht als Weltgeist zwischen Buchdeckeln. Er wohnt doch nicht hinter meinen Rippen. Er schläft und spielt oder wohnt nicht, sondern er sucht. So wie damals in Eden, als er über das Paradies ging, sein Geschöpf suchte und durch den Garten rief: “Adam, wo bist du?”, so geht er heute über die Welt, sucht seine Erschöpften und ruft durch die Stadt: Mensch, wo bist du? Mensch, wo lebst du? Mensch, wohin hast du dich verirrt?

Heute geht es um diesen suchenden Gott und mit drei Fragen wollen wir ihn näher kennenlernen.

1. Was sucht Gott?

Jesus beantwortet diese Frage mit einer Alltagsgeschichte. Stellt euch ein Haus vor, sagt er den Herren von Kirche und Staat, die ihn wie eine Traube umringen. Eine Hausfrau ist am Rotieren. Zwischen Küche, Keller und Kinder rast sie hin und her, um alles in Ordnung zu bringen. Dann muss sie noch auf die Schnelle einen Liter Milch kaufen, weil der Jüngste seine Flasche braucht. Sie geht ans Geldfach, aber dort liegt nur noch Kleingeld, deshalb steckt sie sich 10 Zehner in die Tasche. Sie geht zur Tür hinaus, aber dann klingelt das Telefon, deshalb muss sie zurück und eine Freundin abwimmeln. Sie springt die Treppen hinab, aber dann heult der Wäschetrockner, deshalb muss sie hinunter und das Ding abstellen. Endlich rennt sie über die Straße, in das Geschäft, zum Regal, an die Kasse: “1, 2, 3, …9, einer fehlt!” Noch einmal: “1, 2, 3, …9, einer ist nicht da!” Noch ein letztes Mal: “1, 2, 3, …9, einer ist verlorengegangen.”

Immer wieder gehen Dinge verloren. Wir kennen dieses Malheur in unserer täglichen Hektik. Geldstücke gehen verloren, Hausschlüssel gehen verloren, Regenschirme gehen verloren, Brillen gehen verloren, aber wissen wir noch, dass auch Menschen verloren gehen? Gott zählt wie eine Hausfrau: “1, 2, 3, …9, einer fehlt!” Noch einmal: “1, 2, 3 Millionen, … 9 Millionen, einer ist nicht da!” Noch ein letztes Mal: “1, 2, 3 Milliarden, …9 Milliarden, einer ist verloren gegangen.” Ursprünglich gehören wir alle zu seinem Besitz. Spätestens seit der Taufe sind wir sein Eigentum. Er steckt uns zwar nicht in die Tasche, aber er hält uns fest in seiner Hand. Und auf einmal sind wir gar nicht mehr dort, sondern herausgefallen, hinuntergefallen, abgefallen. Manche sind am Boden; nach den Gemeinheiten, die sich einige geleistet haben, können sie nicht mehr. Manche sind in die Ecke gerollt; eng ist es in ihrem Leben geworden, eingekeilt in riesige Sorgen, eingeklemmt in tausend Nöte. Manche sind in ein ganz tiefes Loch gefallen; nur dunkel ist es um sie herum, stockfinster, rabenschwarz. Am Boden, in einer Ecke, in einem Tief, ohne Gebet, ohne Gemeinschaft, ohne Verbindung, das meint der Begriff “verloren”.

Ein Prediger um die Jahrhundertwende sagte: “Das Wort, das mich in der Bibel am meisten erschreckt, ist das Wörtlein ‘verloren’.” Wir müssen es wieder zur Kenntnis nehmen, auch wenn es nicht in die Denkschemata unserer Zeit passt, dass wir nicht nur kaputt sein, nicht nur krank sein, nicht nur down sein, nicht nur am Ende sein, sondern auch ewig verloren sein können. Und dann sind wir ärmer dran als jeder Pfennig, weil er nur abhandenkommen kann, wir aber in der Gottverlorenheit zugrunde gehen müssen. Nun aber ist der Menschensohn gekommen, um das Verlorene zu suchen. Nun aber ist Jesus Christus gekommen, um den Pfennig zu retten.

Was Gott sucht? Das Verlorene, liebe Freunde, und wie er es sucht, sagt der nächste Teil.

2. Wie sucht Gott?

Jesus will, dass wir die Alltagsgeschichte weiterdenken. Unsere Hausfrau steht also an der Kasse und zählt. Statt einer Mark hat sie nur noch 90 Pfennig in der Hand. Ohne Zweifel, ein Zehner ist verlorengegangen. Was wird sie jetzt tun? Vielleicht nach dem Taschentuch kramen und herzzerbrechend weinen, weil ihr ein Zehner aus der Tasche gerutscht ist? Vielleicht auf einen Stuhl sinken und nach Hofmannstropfen fragen, weil ihr über diesem Verlust schwindlig geworden ist? Vielleicht nach Hause rennen und am Klavier mit Beethovens bekanntem Stück “Wut über den verlorenen Groschen” ihren Gefühlen freien Lauf lassen? Ganz sicher wird sie das nicht tun. Diese Frau ist nervlich stabil. Ihr gesunder Menschenverstand stellt klar: Wegen einem Groschen kein Theater. Wegen einer lumpigen Münze keine Hektik. Wegen einem roten Pfennig keinen Lärm.

Aber Gott ist anders, ganz anders. Er kann es nicht ertragen, wenn einer aus seiner Hand rutscht. Er kann es nicht übernehmen, wenn einer von ihm abfällt. Er kann es nicht wegstecken, wenn einer irgendwo im Tief steckt. “Du fehlst mir”, sagt er zu dem Mädchen, das nach der Konfirmation von Kirche und Glaube nichts mehr wissen will. “Du fehlst mir”, sagt er dem Abiturienten, der mit seinem durchschnittlichen Zeugnis keine Aussicht auf einen Studienplatz hat und nun durchhängt. “Du fehlst mir”, sagt er zu der jungen Frau, die so bitter enttäuscht worden ist. Du fehlst mir, sagt er zu dem alten Mann, der im Heim nur übrig ist. “Du fehlst mir”, sagt er jedem, der jetzt in dieser Kirche sitzt. “Und deshalb mache ich mich auf, Dich zu suchen, so wie eine palästinensische Hausfrau.”

Sie sucht und sucht und sucht. In teuren Bungalows kein Problem, aber in armseligen Wohnhütten. Auf Parkett kein Problem, aber auf festgetretenem Lehm. Auch bei Fensterscheiben kein Problem, aber bei einem einzigen, 30 cm großen Loch in der Wand. Sie zündet die Öllampe an. Sie leuchtet die Ecken aus. Sie wirbelt das Unterste zuoberst. Vielleicht wird es irgendwo sichtbar. Vielleicht bleibt es irgendwo hängen. Vielleicht blitzt es irgendwo auf. Sie läuft. Sie rennt. Sie sucht, so wie man die berühmte Stecknadel im Heuhaufen sucht.

Und das ist Gottes Weise. Er sucht und sucht und sucht. An Weihnachten hat er seine Suchaktion gestartet. Er hat die Städte abgesucht und gerufen: “Kommt her zu mir, die ihr aus meiner Hand gerutscht seid.” Er hat die Zöllner und Sünder aufgesucht und gesagt: “Kommt her zu mir, die ihr von mir abgefallen seid.” Er hat die Kaputten besucht und bestätigt: “Kommt her zu mir, die ihr am Boden seid.” Kein Weg war ihm zu weit, keine Mühe zu groß, kein Ort zu schmutzig. Das unscheinbare Milchgesicht ist ihm wichtiger als alle Milchstraßensysteme. Und als ihnen dieser Menschensucher auf den Geist ging und sie ihn auf das Schandholz nagelten, da wurde dieses Kreuz zum Suchzeichen Gottes in der Welt. Keiner kann es übersehen. Seine ausgespannten Arme zeigen nach Ost und West. Alle müssen es hören: “Ich gekommen zu suchen, was verloren ist.”

Wie sucht Gott? Gott sucht Sie wie eine Stecknadel im Heuhaufen.

3. Wozu sucht Gott?

Unsere Alltagsgeschichte hat ein Happy End. Die Frau entdeckt den Groschen. Sie bückt sich und hebt ihn auf. Jetzt ist er wieder fest in ihrer Hand. Deshalb strahlt sie. Ein Lachen geht über ihr Gesicht. Verlorenes zu finden löst immer Freude aus. Und weil man Finderfreude nicht für sich behalten kann, wenn man nicht vor Freude platzen will, deshalb rennt sie aus dem Haus hinaus, über die Straße hinüber, zu den Nachbarn hinein: “Hallo, heda, guckt mal her. Diesen Pfennig habe ich verloren. Diesen Pfennig habe ich gesucht. Diesen Pfennig habe ich gefunden. Gaudeo gaudete, ich freue mich, freut euch mit!” Und dann geht eine Fete ab, dass das Herz lacht. Nur Freude ist das Ende der Geschichte.

Verstehen Sie jetzt dieses Gleichnis? Gott entdeckt den Menschen. In Jesus bückt er sich ganz tief und hebt ihn auf. Jetzt ist er wieder fest in seiner Hand. Deshalb strahlt Gott. Ein Lachen geht über sein Gesicht. Verlorenes zu finden löst auch bei ihm Freude aus. So menschlich wird hier einmal von Gott geredet, der vielen so unmenschlich erscheint. Wegen einem einzigen, unbedeutenden, profillosen Menschen alarmiert er alle Engelsbrigaden: “Hört mal her. Diesen Erdmann habe ich verloren. Diesen Erdenstaub habe ich gesucht. Diesen Erdenzwerg habe ich gefunden. Gaudeo gaudete! Ich freue mich, freut euch mit!” Und dann braust ein Engelschor auf, dass die Äonen voller Musik sind. In der Weihnachtsgeschichte wird schon einmal von diesen vielstimmigen Engelschören berichtet: Alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: “Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.” Hier stimmen sie wieder ihr Gloria in excelsis deo an. Also ist im Himmel Weihnachten, wenn auf Erden einer zurückfindet.

Was wäre das für eine Freude, wenn heute einer gefunden würde! Was wäre das für ein Jubel, wenn heute einer wieder fest in seine Hand kommt! Was wäre das für ein Orkan, wenn heute dieser Sonntag auf Erden zum Weihnachtstag im Himmel würde?

Wozu Gott sucht? Damit Freude ist.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]