Lebendiger Vater, ewiger Gott, in Jesus Christus danken wir dir für den Lauf dieses Tages. Wir sind dankbar, dass wir auch an diesem Abend hier in diesem Raum zusammenkommen können.
Wie oft hast du uns schon gesegnet, gerade an diesen Mittwochabenden. Dafür geben wir dir die Ehre. Wenn es heute Abend um eine kirchengeschichtliche Person geht, bitten wir dich, dass du diesen Vortrag segnest. Lass alles, was wir nachdenken, mitverfolgen und hören, bei uns ankommen – in Kopf und Herz.
Danke für diese Zeugen der Geschichte, danke für diese Zeugen der Nachfolge. Danke, dass sie vor uns auf dem Weg mit dir gewesen sind.
Wir bitten dich herzlich, dass du Michael Kotsch in unserer Mitte segnest. Danke, dass er hier ist, und danke, dass du ihn und seinen Vortrag für uns gebrauchen kannst.
Dir, unserem Gott und Vater, in Jesus Christus geben wir die Ehre. Amen.
Geistlicher Niedergang und Erweckung in der Geschichte
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Wenn ich mir die Nachrichten anschaue oder das Weltgeschehen beobachte, habe ich manchmal den Eindruck, dass es geistlich bergab geht. Das werden Sie feststellen, wenn Sie irgendwo auf der Straße in einer größeren Stadt in Deutschland Menschen fragen, was sie vom Glauben wissen.
Vor etwa vier Wochen war ich in Rostock eingeladen. Dort hatten wir mehrere Veranstaltungen, unter anderem auch auf der Straße, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Rostock ist eine typisch ostdeutsche Großstadt. Dort haben wir so gut wie niemanden gefunden, der sich überhaupt für geistliche oder religiöse Fragen interessiert. Auch diejenigen, die wussten, was die Bibel ist oder wer Jesus Christus ist, waren sehr selten.
Wenn Sie meinen, weil Sie aus der Gegend kommen, also aus Karlsruhe, Heidelberg oder Stuttgart, die Leute seien dort nicht mehr ganz so fromm, dann gehen Sie einmal in einige ostdeutsche Großstädte. Dort werden Sie noch ganz andere Erfahrungen machen.
Gerade wenn wir in solchen Situationen sind, passt es gut, womit wir uns heute Abend beschäftigen: mit Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Warum? Weil Phasen geistlicher Distanzierung und geistlichen Niedergangs immer wieder vorkamen.
Ich möchte nicht sagen, dass es genau so war wie zu der Zeit, als Zinzendorf lebte. Nein, eigentlich war es etwas anders. Ich setze noch etwas früher an, nicht ganz bei Adam und Eva, aber bei der Reformation. Wir wissen ja, dass um 1500 herum Martin Luther auftrat. 1517 gilt als Beginn der Reformationszeit. Damals gab es ein geistliches Aufleben in Deutschland und darüber hinaus.
Davor, im 15. Jahrhundert, gab es eher eine Zeit geistlichen Niedergangs. Die Menschen hatten wenig von der Kirche gehalten. Die katholische Kirche war moralisch sehr verkommen. Damals starben mehr Päpste durch Mord als eines natürlichen Todes. Es wurde Geld ausgegeben, das in den Kirchen eingesammelt wurde, zum Beispiel für Kriegszüge, Feste und Feierlichkeiten.
Das war ein geistlicher Tiefpunkt. Deshalb kam es gerade wegen dieses Tiefpunkts in der katholischen Kirche zur Reformation. Danach gab es wieder einen geistlichen Aufschwung. Dieser hielt einige Jahrzehnte an, bis der Glaube nur noch zur äußeren religiösen Formalität wurde.
Ein besonderes Zeichen dafür war der sogenannte Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648. Am Ende dieses Krieges wollten die meisten Menschen in Deutschland von Religion und Glauben nichts mehr wissen. Das ist, glaube ich, auch verständlich.
Im Dreißigjährigen Krieg ging es am Anfang zumindest so schien es, um den Einfluss der katholischen oder evangelischen Kirche. Wer hatte recht? Doch wenn Sie sich vorstellen, Sie erleben dreißig Jahre lang Krieg – und das nicht irgendwo weit entfernt an der Front, sondern vor der eigenen Haustür – und wissen, dass in vielen Teilen Deutschlands ein Drittel der Bevölkerung gestorben ist, und zwar auf grausame Weise, dann ist Ihnen danach egal, ob die, die Sie umbringen wollen, evangelisch oder katholisch sind.
Denn alle traten mit dem Ansatz auf: „Wir kämpfen für die richtige Sache, und für diese richtige Sache massakrieren wir jetzt Menschen.“
Heute sind wir davon ganz weit entfernt. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir in Deutschland keinen Krieg mehr erlebt. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie grausam und brutal solche Kriege sein können.
Am Ende des Dreißigjährigen Krieges waren viele Menschen vollkommen angeödet von Glauben und Religion, egal ob evangelisch oder katholisch. Denn keiner hatte sich ein Ruhmesblatt erworben. Die Evangelischen waren nicht besser als die Katholischen.
Das ist traurig und schade.
Der Pietismus als geistliche Erweckung
In dieser Zeit des geistlichen Niedergangs hatte Gott eine Erweckung nach Deutschland gesandt. Diese Erweckung wird heute allgemein als Pietismus bezeichnet. Der Pietismus entstand ungefähr um das Jahr 1650, also nach dem Niedergang des Glaubens, und erstreckte sich etwa bis 1750. Es handelt sich dabei um drei Generationen, die meist mit drei bedeutenden Persönlichkeiten verbunden werden.
Die erste Generation des Pietismus wird von Philipp Jakob Spener repräsentiert. Er brachte viele Gedanken ein, die nicht alle von ihm selbst stammen. Natürlich war er von Gott beschenkt und berief sich auf andere Personen. Sein Anliegen war es unter anderem, die Reformation Martin Luthers wieder lebendig zu machen. Spener war viele Jahre in Frankfurt tätig, später in Dresden und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in Berlin.
Die zweite Generation des Pietismus wird besonders durch August Hermann Francke vertreten. Francke ist bis heute berühmt, vor allem durch die Gründung von Schulen in Halle an der Saale. Doch nicht nur das: Er gründete auch die weltweit erste Bibelgesellschaft, um der einfachen Bevölkerung den Zugang zur Bibel zu ermöglichen. Luther hatte die Bibel zwar übersetzt, doch war sie für den Durchschnittsbürger so teuer, dass sie sich niemand leisten konnte. Erst durch Francke wurde die Bibel in Deutschland so günstig hergestellt, dass sie nur noch ein Zehntel der vorherigen Kosten verursachte. Dadurch konnten die Menschen die Bibel selbst lesen.
Francke erfand das Lehrerseminar. Heute gibt es vielleicht nicht viele Schüler, die sich darüber freuen, dass Lehrer damals so stark gefordert wurden. Zudem gründete er das dreigliedrige Schulsystem, das wir in Deutschland teilweise noch heute haben und das über mehrere Jahrhunderte bestand. Auch die erste protestantische Missionsgesellschaft, die dänisch-scharlische Missionsgesellschaft, geht auf ihn zurück. Von dort aus brachen Missionare wie Ziegenbalg und Plüschau nach Indien, genauer gesagt nach Trankebar, auf. Francke hatte somit großen Einfluss in ganz Europa und steht für die zweite Generation des Pietismus.
Nun fragt man sich vielleicht, was das alles mit Zinzendorf zu tun hat. Zinzendorf ist der Vertreter der dritten Generation des Pietismus. Damit markiert er zugleich den Endpunkt dieser Bewegung. Der Pietismus hatte sich gewissermaßen totgelaufen, wenn auch nicht vollständig. Er sprach die Menschen nicht mehr so stark an, denn langsam setzte die Aufklärung ein, die die Menschen mitriss.
Diese Entwicklung mündete am Ende des 18. Jahrhunderts in der Französischen Revolution. Diese brachte viel Blutvergießen, Tod und Unheil über die Menschheit. Auch wenn die Französische Revolution heute oft gefeiert wird – etwa als französischer Nationalfeiertag am 14. Juli, an dem an den Sturm auf die Bastille erinnert wird – war sie damals alles andere als schön. Die Bastille, ein berüchtigtes Gefängnis in Paris, wurde gestürmt. Doch die Revolution war blutig, grausam und brutal. Über viele Jahre hinweg wurden zahlreiche Menschen ermordet und enteignet. Es war eine schlimme Zeit.
Nach diesen Erfahrungen kam im 19. Jahrhundert eine neue Erweckung. Aus dieser Zeit entstanden viele Gemeinden und Gemeinschaften, aus denen wahrscheinlich auch einige hier stammen. Im 19. Jahrhundert entstanden die Biotisten, Mitte des Jahrhunderts die freien evangelischen Gemeinden und die Brüdergemeinden. Auch die meisten landeskirchlichen Gemeinschaftsverbände, die wir heute kennen, entstanden in dieser Zeit. Diese gehen zwar nicht direkt auf den Pietismus zurück, sind aber meist im 19. Jahrhundert entstanden.
Leben und Herkunft von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf
Ja, und da sind wir jetzt bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Seine Jahreszahlen will ich Sie nicht allzu sehr quälen, aber sie sind leicht zu merken. Er wurde 1700 geboren und starb 1760. Wenn ich Sie jetzt fragen würde: Wie alt ist er geworden? Ganz einfach: 60 Jahre alt, von 1700 bis 1760. Die Jahre dazwischen nenne ich nicht immer, die können Sie nachlesen. Ich kann Ihnen das später auch gerne sagen, aber behalten wir es erst einmal so in diesem Rahmen.
Die Vorfahren Zinzendorfs väterlicherseits kamen aus Österreich. Dort wurden sie wegen ihres Glaubens verfolgt. Väterlicherseits stammte er also aus österreichischem Hochadel. Es gab damals einfache Adlige, etwa Raubritter, die in kleinen Burgen an den Wegen lebten, und es gab den Hochadel – von dort kamen die Herrscher, Fürsten, Könige und Kaiser. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf entstammte einem solchen österreichischen Herrschergeschlecht.
Weil ihnen der Glaube so wichtig war, ließen sie einen Großteil ihres Vermögens in Österreich zurück und flohen über die Grenze nach Sachsen. Dort heiratete Zinzendorfs Vater eine Frau aus sächsischem Adel. Als Nikolaus Ludwig geboren wurde, könnte man sagen, er kam mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt – so sagt man das heute. Aber nicht ganz. Denn was Reichtum und Adel nicht schaffen können, ist eine schöne Familiensituation. Und diese war nicht ganz so, wie man sie sich heute vorstellt. Nicht, weil die Eltern böse gewesen wären, sondern weil Zinzendorfs Vater schon sehr früh gestorben war. Nikolaus war noch ein kleiner Junge, als das geschah.
Seine Mutter heiratete erneut. Sie war fromm, ebenso der erste Vater. Nach der zweiten Heirat zog sie mit ihrem neuen Mann, einem Generalfeldmarschall von Nazmar, in Preußen. Er war Offizier in der preußischen Armee. Da Nikolaus Ludwig der älteste und einzige Sohn seines Vaters war, durfte die Mutter ihn nicht erziehen. Er galt als Erbe des gesamten Titels, des Adels und des Vermögens. Deshalb musste ein anderer Vormund bestimmt werden. Das wurde sein Onkel, der allerdings nicht fromm war.
Der Onkel bestimmte, dass Nikolaus Ludwig als kleines Kind zunächst von seiner Großmutter aufgezogen werden sollte. Ihre Name war Henriette von Gerstdorf. Sie lebte in der Oberlausitz, im heutigen südöstlichen Zipfel Sachsens, nahe der polnischen Grenze. Dort wuchs er in einem Schloss auf. Die Großmutter war eine ältere Frau, und im ganzen Schloss gab es keine anderen Kinder. Die Reste des Schlosses kann man bis heute besichtigen, wenn man in die Oberlausitz fährt. Es sind allerdings nur noch Ruinen, das Schloss selbst existiert nicht mehr.
Die Großmutter liebte ihn durchaus, war aber keine Frau, die mit einem kleinen Jungen spielte. Sie war eine gelehrte Frau, galt als eine der Gelehrtesten ihrer Zeit. Sie lernte Griechisch und versuchte zeitweise sogar, einigen ihrer Angestellten Griechisch beizubringen. Sie ging davon aus, dass es nicht genug sei, die Bibel nur zu lesen. Man müsse sie, wenn möglich, auch in der Originalsprache lesen, so wie sie ursprünglich verfasst wurde.
Man kann sich vorstellen, dass sie eine fromme, liebevolle, aber sehr ernste und gelehrte Frau in fortgeschrittenem Alter war. Sie hatte keine eigenen Kinder um sich herum. Zinzendorf berichtet später, dass sein Lieblingskamerad und hauptsächlicher Spielkamerad in dieser frühen Jugend der Herr Jesus Christus gewesen sei. Das unterscheidet ihn von den meisten Kindern. Die meisten Kinder schlagen sich eher, machen sich schmutzig. Nikolaus Ludwig war schon als kleiner Junge sehr fromm.
Wenn man Zinzendorf später gefragt hätte, wann er sich bekehrt habe, hätte er das nicht sagen können. Er war von Geburt an bekehrt – zumindest fast. Natürlich ist das eine Aussage, die man nicht wörtlich nehmen kann, aber es gab keinen bestimmten Punkt, an dem er gottlos gelebt hätte. Manche große Gottesmänner führten erst eine Zeit lang ein gottloses Leben und erlebten dann eine deutliche Hinwendung zu Gott, wie Augustinus oder Paulus im Neuen Testament. Eine solche Kehrtwendung gab es bei Zinzendorf nicht.
Er bekam nicht nur den frommen Einfluss seiner Großmutter, sondern auch durch die Privatlehrer, die angestellt wurden. Alle diese Lehrer waren bei August Hermann Francke in Halle ausgebildet – dem damaligen Vater des Pietismus in Deutschland. Diese Lehrer brachten den Glaubenseinfluss weiter.
Die Großmutter wollte, dass weitere Lehrer aus Halle geschickt würden, damit Nikolaus Ludwig die gesamte Schullaufbahn im Schloss absolvieren konnte. Für den Hochadel war das damals üblich. Ein Hochadeliger ging nicht in eine Schule, sondern erhielt Privatunterricht von angestellten Lehrern.
Francke hatte damals viele Anfragen von adeligen Häusern, die seine ausgebildeten Lehrer haben wollten. Da das Werk selbst stark wuchs, wollte er seine Lehrer nicht mehr wegschicken. Er schrieb der Freifrau von Gerstdorf, dass sie keinen Lehrer bekommen könne, aber dass Nikolaus Ludwig nach Halle kommen könne, um dort zur Schule zu gehen. Das war revolutionär.
Der Vormund, sein Onkel, war damit nicht einverstanden. Er war nicht fromm, ihm war das in Halle alles zu fromm. Er dachte, es gehe nicht, dass ein Kind aus dem Hochadel plötzlich neben jemandem sitzt, der vielleicht aus dem Bürgertum oder gar aus Bauernfamilien stammt. Diese Standesunterschiede waren damals sehr intensiv in den Köpfen der Menschen verankert, unvorstellbar für uns heute.
Schließlich rang die Großmutter darum und bat, bis man sich einigte: Nikolaus Ludwig durfte nach Halle gehen, aber er musste ein eigenes Apartment bekommen. Die anderen Kinder wohnten zu viert bis sechst in einem Zimmer, er bekam ein eigenes Appartement. Außerdem musste er einen Haushofmeister haben, der seine Tasche trug, die Wohnung in Ordnung hielt, ihn beim Essen bediente. Er musste beim Mittag- und Frühstückstisch neben dem Direktor August Hermann Francke sitzen, um zu zeigen, dass er ein besonderes Image hatte.
So war die Regelung. Er wurde der erste Hochadelige an dieser Schule. Sie können sich vorstellen, dass er bei den Mitschülern nicht sehr beliebt war. Er konnte nichts dafür, aber sie hielten ihn für eingebildet. Stellen Sie sich vor: Sie müssen Ihre Schultasche selbst tragen, und dann kommt ein anderer in schönem Anzug mit Orden, und ein Diener trägt seine Tasche. Für einen kleinen Jungen war das nicht einfach.
Der Haushofmeister wollte Karriere in der Familie machen und war etwas hintertrieben. Er hatte dem Onkel schlechte Dinge über Nikolaus Ludwig erzählt. So hatte Zinzendorf in seiner gesamten Schullaufbahn nur zwei Freunde. Zu dritt waren sie insgesamt, die beiden anderen Freunde waren ebenfalls Adlige. Kontakt zu ihnen wurde ihm ermöglicht. Er wollte das gar nicht, war nicht elitär, aber die Familie zwang es ihm auf.
Später, wenn er zurückblickte, berichtete er immer nur positiv von seiner Zeit in Halle. Sie hatte ihn inspiriert und motiviert für seine spätere Arbeit. Auch gründete Zinzendorf später eine Missionsgesellschaft. Seine ersten Ideen dazu hatte er in Halle, wo regelmäßig Missionare zu Besuch waren und von ihrer Arbeit berichteten.
Schon damals in Halle gründete er mit seinen beiden Freunden den sogenannten Senfkornorden. Natürlich stammt alles bei Zinzendorf aus der Bibel. Der Name Senfkorn erinnert an das Reich Gottes, das wie ein Senfkorn klein beginnt, aber wächst und riesengroß wird. So stellten sie sich das damals vor.
Regelmäßig trafen sich die drei Freunde zum Gebet für die Bekehrung der Heiden und die Ausbreitung des Evangeliums. Sie träumten davon, wenn sie einmal die Möglichkeit hätten, das Evangelium in die ganze Welt zu tragen. Auch hier zeigt sich, wie wichtig die Mission für ihn war. Die Menschen in anderen Ländern sollten ebenfalls auf Jesus Christus aufmerksam gemacht werden.
Studienzeit und frühe Herausforderungen
Direkt nach seiner Schullaufbahn wird erst einmal nichts daraus. Er will studieren und wünscht sich eigentlich, Theologie zu studieren. Doch hier kommt wieder sein Onkel ins Spiel, der sagt: Nein, das gibt es gar nicht. Wo gab es denn je einen Hochadligen aus evangelischem Hintergrund, der Theologie studiert hat? Wenn man Katholik ist, kann man hinterher wenigstens noch Papst oder Bischof werden. Das klingt vielleicht etwas flapsig, aber genau so war es. Man konnte Karriere in der katholischen Kirche machen. Wer irgendwo in einem Bischofspalast lebte – schauen Sie sich die heute manchmal an – der Palast war wie ein Adelspalast.
Als evangelischer Prediger hingegen wusste man, dass man keine große Karriere machen konnte. Deshalb gehörte es sich für einen Hochadligen nicht, Theologie zu studieren. Theologie war also verboten. Stattdessen studierte er Jura. Man stellte sich vor, dass er mit Jura später irgendwo am Königshof als Minister arbeiten könnte. Das konnte er machen.
Allerdings ließen ihn die glaubensmäßigen Sachen nebenbei doch nicht ganz los. So schrieb er an die Führer der lutherischen Orthodoxie, der Hauptströmung innerhalb der lutherischen Kirche seiner Zeit, und an die Führer des Pietismus, unter anderem an Franke, den er von seiner eigenen Schule in Halle kannte. Er wollte beide Gruppen an einen Tisch bringen und Frieden zwischen diesen konkurrierenden kirchlichen Parteien schließen.
Sein Onkel bekam das mit und blies die ganze Aktion ab. Nein, das sei nicht erlaubt. Die Kirche solle sich selbst darum kümmern, und er als Hochadliger solle sich nicht einmischen.
Schließlich hatte er sein Studium abgeschlossen, also Jura fertig studiert, und dann ging er auf seine sogenannte Kavalierstour. Jeder, der sich das damals leisten konnte, sollte als junger Mann nach der Ausbildung Kontakte knüpfen, die für sein künftiges Leben wichtig sein würden. Er bereiste Frankreich, England, die Niederlande und verschiedene deutsche Fürstenhöfe, mit denen man Kontakt hatte. Dort war er eine ganze Zeit lang unterwegs.
Hier zeichnen sich wieder einige Dinge bei Zinzendorf ab, die seine Zwiespältigkeit zum Ausdruck bringen. Zwiespältigkeit bedeutet, dass er auf der einen Seite durch und durch fromm war, auf der anderen Seite aber manchmal auch etwas von seinem Rang angetan war oder offen für neue Entwicklungen innerhalb der Kirche, die wir heute nicht immer ganz positiv sehen würden.
So besuchte er in den Niederlanden De Lambert und Diderot, zwei der damaligen Herausgeber der Enzyklopädie. Sie sind wahrscheinlich noch in einem Alter, in dem sie wissen, was eine Enzyklopädie ist. Sonst müsste ich sagen, das ist so etwas Ähnliches wie Wikipedia, nur gedruckt. Die erste Enzyklopädie wurde in Frankreich im 18. Jahrhundert herausgebracht. Das war damals eine Revolution: Plötzlich war Wissen für alle Menschen zugänglich. Die Herrscher versuchten jedoch, das zu unterdrücken, weil es ihnen Autorität nahm.
Zinzendorf war offen dafür und besuchte diese Leute. Er wurde sogar vom König in Paris eingeladen. Allerdings hielt er nicht viel von dieser Einladung. Danach war es vorbei, weil er es gewagt hatte, den König zu kritisieren.
Damals galt der französische Hof als Vorbild in ganz Europa. Man wollte dort feiern – großzügig feiern. So wurde er eingeladen. Damals entstand der Begriff des sogenannten Schäferstündchens. Ob Sie den Begriff kennen? Das wurde damals wörtlich genommen: Der Park wurde schön dekoriert, wenn es warm war wie heute, und Buffets wurden aufgebaut. Einige der Dienerinnen mussten sich als Hirten verkleiden, eben als Schäferinnen. Sie liefen herum, und die jungen adligen Männer, die Lust darauf hatten, gingen mit einer dieser jungen Damen irgendwo hinter einen Busch oder in eine Hütte und hatten dort ihr Schäferstündchen.
Zinzendorf bekam das mit und hielt davon gar nichts. Er sagte, das sei unmoralisch – genau, das war es auch. Das wollten sie ja. Vom Trinken hielt er auch nichts, weil sich die Leute betranken. Also sagte er dem König seine Meinung, und danach erhielt er keine Einladung mehr. Da war es dann vorbei.
Stattdessen knüpfte er Kontakt mit dem französischen Kardinal, dem obersten der katholischen Kirche in Frankreich, und diese Verbindung bestand lebenslang. Hier denkt man vielleicht: Passt das denn? Zinzendorf sagte später, der Kardinal liebe Jesus und er liebe Jesus, und der Rest spiele keine Rolle. Das kann man auf der einen Seite als Großherzigkeit ansehen, weil er Gläubige in anderen Konfessionen akzeptierte.
Was manche irritierte, war, dass es in der katholischen Lehre einige problematische theologische Aussagen gibt, die er nicht stark im Blick hatte. Vielleicht liegt das daran, dass Zinzendorf nicht so sehr ein großer Theologe war, sondern mehr jemand, der mit ganzem Herzen dabei war. Er war persönlich mitgerissen von seiner Beziehung zu Jesus Christus und schlug deshalb manchmal geistlich über die Stränge – nicht unmoralisch, aber geistlich.
Auf seiner Reise kam er auch nach Deutschland. In Düsseldorf besuchte er eine Gemäldegalerie und erlebte dort eine weitere Hingabe an Jesus Christus vor einem Bild, auf dem Jesus gekreuzigt dargestellt ist. Darunter stand: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Das sprach ihn tief an. Er sagte: Ja, ich will mein ganzes Leben für Jesus Christus einsetzen.
Unter anderem kam er auf seiner Rundreise in Deutschland zum Hof der von Reuss in Ebersdorf, einem kleineren, aber frommen Hof. Dort gab es damals einen sehr frommen Prediger, den Hochmann von Hohenau, der auch etwas seltsame Ideen vertrat. Damals waren nicht alle Pietisten so, wie man sich das heute vorstellt.
Hochmann von Hohenau hatte beispielsweise eine spezielle Eheethik entwickelt. Er sagte, es gebe drei Stufen der Ehe: die fleischliche, die seelische und die geistliche Ehe.
Die fleischliche Ehe hätten die Ungläubigen. Sie heiraten aus Leidenschaft, fühlen sich angezogen und lieben sich. Für sie ist Sexualität ganz wichtig.
Die seelische Ehe mache die Mehrheit. Das seien die Frommen, die heiraten, weil es so sein muss und weil die Schöpfungsordnung sie dazu verpflichtet. Sie zeugen Nachkommen und erziehen sie zu guten Christen, kommen sich aber nicht zu nahe, weil die Emotionen in der Ehe zwischen Mann und Frau schwierig seien. Diese Ehe sei nicht geistlich genug.
Die geistliche Ehe sei die reine Ehe. Mann und Frau lebten wie Bruder und Schwester zusammen, merkten nicht einmal, dass sie Mann und Frau seien, und setzten sich nur für die Sache des Herrn ein. Das war die Predigt des Hochmann von Hohenau.
Zinzendorf war an diesem Hof, hörte den Prediger und war begeistert von ihm. Dort lernte er auch eine junge, hübsche Frau kennen, die Tochter des Fürsten, Erdmuthe Dorothea von Reuss-Ebersdorf. Sie war ebenso fromm wie er, und sie passten gut zusammen.
Es gibt noch einen Teil des Briefwechsels zwischen den beiden, der bis heute erhalten ist. Das ist kein Briefwechsel à la Salomo in seinen Sprüchen („Wie schöne Augen hast du“), sondern sie tauschen Bibelverse aus. Sie sprechen darüber, wie toll die Verse sind und was sie an der Predigt gehört haben.
Schließlich heirateten sie. Dass sie nicht nur bei der rein geistlichen Ehe blieben, zeigen die zahlreichen Kinder, die sie hatten. Er war von der Predigt des Hochmann von Hohenau zeitweilig begeistert, aber nicht dauerhaft.
Das Paar zog nach Dresden. Dort bekam er tatsächlich eine Anstellung am Königshof. Damals war Sachsen ein eigenes Königreich. Allerdings mischte er sich zu viel ein und kritisierte den König wegen dessen unmoralischen Lebenswandels.
Das hatte bereits sein vorpietistischer Vorgänger Spener getan, der Oberhofprediger in Dresden war. Auch er hatte sich mit dem König angelegt und musste deshalb die Stadt verlassen.
So wurde Zinzendorf mit knapp Mitte zwanzig in den Ruhestand versetzt – eine Frühverrentung. Man konnte ihn nicht richtig entlassen, weil man der Familie nicht vor den Kopf stoßen wollte. Aber behalten wollte man ihn auch nicht, denn er war viel zu fromm.
Jetzt überlegte er sich, den Rest seines Lebens der Verwaltung seines Landgutes zu widmen, das er allerdings erst noch kaufen musste. Das war aber kein Problem. Er kaufte unter anderem seiner Großmutter einen Teil ab. Das Erbe stammte von seinem Vater. So zog er dorthin und begann mit der Verwaltung.
Gründung der Herrenhuter Brüdergemeine
Und hier entstanden dann die eigentlichen Berufe von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, ohne dass er es direkt ahnte. Eines Tages kamen nämlich Flüchtlinge, die sogenannten mährischen Brüder oder böhmischen Brüder, wie man sie auch nennt. Das heißt, es waren Menschen, die sich auf Jan Hus, einen Vorreformator, bezogen und in Tschechien, dem damaligen Böhmen, verfolgt worden sind. Diese Flüchtlinge kamen über die Grenze und baten Zinzendorf, sich auf seinem Land niederlassen zu dürfen.
Damals galt die Regel, dass der Landesherr bestimmte, wer sich niederlassen durfte und welche Religion dort vertreten war. Zinzendorf, der sehr fromm war, erkannte eine ähnliche Frömmigkeit bei den Flüchtlingen und bot ihnen an, auf einem Teil seines Grundstücks, nämlich am Hutberg, eine Siedlung zu bauen. So entstand am Hutberg die Siedlung Herrenhut. Diese existiert bis heute, und viele der Gebäude sind noch aus der Zeit Zinzendorfs erhalten. Dort gibt es auch einen großen Friedhof, den man besichtigen kann.
So entstand eine ganze Siedlung, die innerhalb weniger Jahre stetig wuchs. Es entwickelte sich ein ganz typischer Stadttypus der Herrnhuter Brüdergemeine. Die sind nicht gemein, aber wenn man heute von Brüdergemeinde hört, ist das etwas ganz anderes. Die Herrnhuter Brüdergemeine entstand viel früher und betonte das Gemeinschaftliche. Zinzendorf baute ein Musterdorf auf, in dem er seine Art der Frömmigkeit umzusetzen versuchte.
Die typischen Herrnhuter Brüderdörfer sind so gestaltet, dass in der Mitte ein freier Platz ist. Das ist keine Art Marktplatz, sondern meist ein bepflanzter Platz. Dort finden gemeinsame Veranstaltungen statt, und man trifft sich. An einer Seite dieses Platzes steht das Bethaus. Zinzendorf wollte es nicht Kirche nennen. Die Bethäuser waren für die damalige Zeit sehr schlicht, denn wir befinden uns in einer Zeit, in der der Barock blüht und alles prunkvoll und großzügig gestaltet wird. Hier hingegen sind die Bethäuser meist weiß gestrichen und innen einfach eingerichtet, mit schlichten Kirchenbänken.
Im Mittelpunkt soll das Wort Gottes stehen, der Glaube soll im Vordergrund sein. Deshalb gibt es keinen Kirchturm, sondern nur einen kleinen Dachreiter, in dem die Glocken hängen. Dort trifft man sich regelmäßig, nicht nur einmal in der Woche, sondern öfter. Man wohnt teilweise auch zusammen. Zinzendorf war einer derjenigen, die wie andere im Pietismus die Gruppenarbeit in der Gemeinde betonten. Es gab Gruppen für Ältere, Jüngere, Verheiratete und Kinder, weil er meinte, dass diese unterschiedliche Förderung brauchen.
Es gab Chöre und sogenannte Banden, in denen man zusammenkam. Die Jüngeren und Unverheirateten wohnten in einem Haus, Männer und Frauen natürlich getrennt. In dieser Zeit kam Zinzendorf auch auf die innovative Idee, die Gemeindestruktur neu zu überdenken: Es sollte Älteste geben. Zinzendorf, als sehr frommer Mann, sagte dann, der Oberälteste unserer Gemeinde sei Jesus Christus. Wer hat schon würdigere Posten?
Das Problem war jedoch, dass man nicht genau herausbekam, was Jesus Christus für den konkreten Gemeindealltag entschied. Daher griff Zinzendorf auf das Losverfahren aus dem Alten Testament zurück. Dort gab es im Gewand des Priesters die beiden Lose Urim und Turim. Zinzendorf hatte drei Lose: Ja, Nein und Noch nicht. Nach diesen wurde entschieden, zum Beispiel bei Ehefragen: Darf Eugen die Klara heiraten? Noch nicht. Immerhin kein Nein, also eine weitere Chance.
Mit der Zeit merkte man jedoch, dass das Losverfahren nicht funktionierte, und es wurde wieder abgeschafft. Das beeindruckt mich bei Zinzendorf: Er war offen für neue Ideen, manche waren gut, andere weniger. Er war immer bereit, von seinen Ideen abzurücken. Manche Menschen haben in ihrem geistlichen Leben gar keine neuen Ideen, was auch nicht gut ist. Andere haben nur verrückte Ideen und merken das nicht. Zinzendorf hingegen hatte viele neue Ideen, war sicherlich der innovativste unter den Pietisten, aber er erkannte auch Grenzen.
Eine Sache, die er in dieser Zeit entdeckte und die wir bis heute kennen, sind die Losungen. Die Losungen sind eine Erfindung Zinzendorfs aus dieser Zeit. Er sagte, man wolle jeden Tag neu unter ein Wort Gottes stellen. Dabei sollte nicht jeder in seiner stillen Zeit etwas Eigenes lesen, sondern man wolle das gemeinsam tun. Man traf sich im Dorf und sprach darüber, was man am Morgen gelesen hatte.
Warum hießen die Losungen so? Weil die Bibelverse ausgelost wurden. Man ging davon aus, dass Gott die Hand desjenigen führte, der die Verse zog, die für den Tag bestimmt waren. Nach diesem Muster wird das bis heute in Herrnhut gemacht: Per Zufallsverfahren oder durch göttliche Leitung wird der Bibelvers für den Tag ausgewählt.
Zinzendorf entwickelte auch Liedgottesdienste, eine neue, innovative Form des Gottesdienstes. Er selbst war Lieddichter; einige seiner Lieder sind bis heute erhalten. Er verfasste ein ganzes Liederbuch. Außerdem war es bei ihm üblich, dass auch Frauen predigten. Das mag heute ungewöhnlich erscheinen, war für ihn jedoch selbstverständlich. Er dachte: Warum eigentlich nicht? Neue Sachen überlegen und ausprobieren.
In diesen Überlegungen wuchs das Werk, und es entstanden weitere Brüdergemeinden in anderen Teilen Deutschlands. In dieser Zeit wurde Zinzendorf nach Kopenhagen eingeladen. Dort war sein Cousin Christian König. Er hoffte, dort einen besonderen Beruf von Gott zu erfahren, vielleicht als Minister am dänischen Hof.
Bei den Feierlichkeiten erhielt er sogar einen dänischen Orden – die Familie musste ja etwas haben, das sie mit nach Hause nehmen konnten. Dennoch bekam er keine Berufung. Typisch für Zinzendorf begann er, sich mit den Leuten über Jesus Christus zu unterhalten. So sprach er unter anderem mit einem Diener, der eigentlich nur da war, um die Gäste zu bedienen und ihnen Essen zu reichen.
Dieser Diener war, wie man heute politisch korrekt sagt, stark pigmentiert; er stammte aus der Karibik. Zinzendorf stellte fest, dass dieser Diener vom Glauben nichts wusste. Auf den mehrtägigen Hochzeitsfeierlichkeiten erklärte er ihm das Evangelium. Der dunkelhäutige Diener am dänischen Hof bekehrte sich.
Dann fragte dieser Diener: Warum kommt denn niemand zu uns in die Karibik und erzählt uns vom Evangelium? Zinzendorf spürte: Das ist meine Berufung von Gott. So war sein Besuch in Kopenhagen wirkungsvoll, aber anders, als er es sich vorgestellt hatte.
Er kehrte zurück, und man setzte sich zusammen, betete und begann echte Mission. Man betete gemeinsam darum, dass Gott zeige, wer in die Mission gehen solle. Einzelne Brüder, darunter Handwerker, meldeten sich freiwillig. Über sie wurde gebetet, und sie wurden ausgesandt.
Zinzendorf hatte die politischen Kontakte und das Geld, um das Ganze zu finanzieren. So reisten die ersten Missionare in die Karibik aus. Einige ließen sich sogar versklaven, um die Sklaven dort besser erreichen zu können. Denn wenn man als Freier mit ihnen spricht, besteht immer ein großer Unterschied. Wenn man aber von gleich zu gleich spricht, zeigt sich die Liebe, die darin liegt, bereit zu sein, selbst Sklave zu werden, um Menschen zu Jesus Christus zu führen.
Hier entstand ein riesiges Missionswerk, das größte evangelische Missionswerk im 18. Jahrhundert, getragen von der Herrnhuter Brüdergemeine. Es war reine Privatinitiative, nicht von Kirche, Staat oder anderen Institutionen unterstützt, sondern allein durch die Gemeinschaft der Herrnhuter Brüdergemeine finanziert.
Die Mitglieder, die ausgesandt wurden, waren weltweit tätig. Zu Zinzendorfs Zeiten gab es Niederlassungen in Indien, Afrika, auf Grönland und bei den Indianern. Ein Zeisberger war bei den Indianern tätig und führte ein spannendes Leben in der Karibik. Zinzendorf reiste umher, um die Missionare zu besuchen, sie zu stärken und neue Leute zu werben. Es entstanden viele neue Gemeinden.
Ich sage ja, Franke war der Erste, der so etwas machte, aber Zinzendorfs Initiative wuchs viel schneller und breitete sich rascher aus. Vermutlich ging er dabei auch unkonventionell vor. Weil er Flüchtlinge aus Österreich und Böhmen aufnahm, verlangte der österreichische König, dass Zinzendorf aus Sachsen ausgewiesen werde. So wurde er ausgewiesen und ließ sich in der Nähe von Frankfurt nieder.
Dort gründete er eine zweite Siedlung namens Herrn Haag. Einige Jahre blieb er dort. In Herrn Haag wie auch in Herrenhut entwickelten sich in dieser Zeit exzessive Praktiken, die unter anderem von Zinzendorf selbst befeuert wurden.
Man wollte sich ganz besonders intensiv und emotional in Jesus Christus hineinversetzen und hineindenken. Man wollte die Wundmale spüren, wie Jesus sie gespürt hatte. Zu Ostern wurde die Eingangshalle der Kapelle als Seitenwunde Jesu verkleidet, durch die man hindurchgehen sollte.
Es wurde gesagt, dass Christen das "Kreuzluftvöglein" seien, das in den Seitenhöhlen Jesu nistet. Solche Dinge wurden verniedlicht. Zinzendorf las auch in der Bibel vom heiligen Kuss der Liebe. Paulus sagt ja mehrfach: "Grüßt einander mit dem heiligen Kuss der Liebe." Zinzendorf führte diesen Brauch ein.
Mit der Zeit kam es jedoch vor, dass manche junge Männer und Frauen sich etwas intensiver begrüßten und sich das auch gefallen ließen. Innerhalb weniger Jahre entstanden zahlreiche Schriften gegen Zinzendorf, der als Sektenführer und wegen seiner Freiheiten kritisiert wurde.
Hier zeigt sich erneut Zinzendorfs Größe: Er probierte diese Dinge aus, fand sie toll und war begeistert. Doch er war auch bereit zu sehen, dass die Kritik gerechtfertigt war. Es begann eine sogenannte Sichtungszeit – ein Begriff aus der Bibel, der die Sichtung der Ernte beschreibt.
Zinzendorf musste nun sagen, was wirklich echt war und was nicht. Er nahm den "Herzensschatz", so nannte man das Grüßen mit Kuss und Umarmung, wieder zurück. Auch die Wortspiele, mit denen man sich in Jesus hineinwies, wurden abgeschafft. Es wurde wieder ernster und stärker an der Bibel orientiert.
Das ist ein weiteres Zeichen seiner Größe, die er besaß.
Zinzendorfs Vermächtnis und Herausforderungen für heute
Zinzendorf rechnete zu seiner Zeit damit, nicht nur die ganze Welt zu erreichen, um Menschen zu Jesus zu rufen. Bis heute kann man das Haus besichtigen, das er sich bauen ließ, unter anderem bei Herrn Nuth. Dort befindet sich an der Wand ein Gemälde, auf dem Zinzendorf mit seiner Familie zu sehen ist. Ringsherum sind Menschen aus verschiedenen Nationen abgebildet: Indianer, Afrikaner, Asiaten und andere. Das Bild soll ausdrücken, wie es einmal im Himmel sein wird, wenn Menschen aus allen Nationen zusammenkommen.
Zinzendorf erinnerte sich an Matthäus 24, wo steht, dass vor der Wiederkunft Jesu das Evangelium in der ganzen Welt verkündigt wird. Er wollte dazu beitragen, dass dies bald geschieht und Jesus wiederkommen kann.
Unter anderem war er Mit-Ideengeber einer geistlichen Revolution in England. John Wesley, ein junger Pastor aus der anglikanischen Kirche, wollte sich als Missionar in Amerika versuchen. Schon bei der Überfahrt geriet das Schiff in einen schweren Sturm, der vielen Angst machte. Eine kleine Gruppe auf dem Schiff, darunter Herrnhuter Brüdermissionare, blieb jedoch ruhig. Sie sangen Loblieder, beteten und freuten sich, obwohl das Schiff fast unterging. Am nächsten Morgen fragte Wesley sie, wie sie keine Angst gehabt hätten. Dabei wurde ihm klar, dass er trotz seines Frommseins noch nicht diesen tiefen inneren Frieden mit Jesus Christus hatte, egal was um ihn herum geschah.
Schließlich scheiterte Wesleys Missionsarbeit in Amerika. Er kehrte nach England zurück und besuchte in London eine Herrnhuter Brüdergemeinde. Dort bekehrte er sich, wie er später selbst beschrieb. Er war so begeistert von der Herrnhuter Frömmigkeit, dass er nach Deutschland reiste, um Zinzendorf in Herrnhut zu besuchen.
Bei seiner ersten Begegnung mit Zinzendorf war Wesley auf dem Weg und fragte, wo Herrnhut sei. Draußen auf einem Feld begegnete er jemandem, der ihm den Weg zeigte. Später stellte sich heraus, dass es Zinzendorf selbst war. Wesley wurde von ihm eingeladen und war beeindruckt von der Einfachheit, mit der Zinzendorf lebte. Er hatte noch nie erlebt, dass ein Adliger nur ein einfaches Menü anbot und keine Diener um sich hatte.
Zinzendorf war nicht immer so einfach aufgetreten. Früher, vor der Zeit, die Wesley erlebte, wurde er in Württemberg als evangelischer Pfarrer ordiniert. In der Stiftskirche in Tübingen hielt er seine Antrittspredigt. Dabei legte er Wert auf Anstand: Er marschierte in Uniform und mit Orden in die Kirche ein, und hinter ihm trug Wesley auf einem Samtkissen die Bibel. Das ist heute wohl ungewöhnlich, aber damit wollte Zinzendorf zeigen, dass er Adliger war.
So gab es zwei Seiten an Zinzendorf: Einerseits war er der einfache Mann, der mit seinen Brüdern auf dem Feld arbeitete und ein schlichtes Mahl einnahm, obwohl er auch opulent leben konnte. Andererseits zeigte er sich auch als Adliger mit entsprechendem Auftreten.
Wesley war so begeistert von Zinzendorf, dass er nach England zurückkehrte und dort Herrnhuter Brüdergemeinden gründen wollte. Doch wie es oft bei großen Persönlichkeiten geschieht, kam es zu Reibungen. Schließlich konnten sich Zinzendorf und Wesley nicht mehr einigen. Wesley gründete daraufhin die Methodistengemeinden. Diese trugen zu einer geistlichen Erneuerung in England bei, die durch die Herrnhuter Brüdergemeinden und Zinzendorfs Predigt angestoßen wurde.
Zinzendorf verbrachte die letzten Jahre seines Lebens mit der Leitung dieser Bewegung. Er starb im Alter von sechzig Jahren und hinterließ eine ganze Bewegung von Gläubigen und Gemeinden, die entstanden waren.
Man kann sagen, dass dies die erste deutsche oder evangelische Freikirche war, die entstand. Die Herrnhuter Brüdergemeinden, die im 18. Jahrhundert entstanden, waren zwar vom Pietismus beeinflusst. Dieser legte jedoch Wert darauf, in der Kirche zu bleiben und als Erweckte in der Kirche zu wirken.
Zinzendorf hatte hingegen eine eigene Gemeinde mit eigenen Gemeinderäumen, eigenen Predigern und eigener Mission. Er löste sich von der Landeskirche, wollte aber nicht behaupten, dass seine Gemeinde besser sei.
Er entwickelte eine Idee, die er "Tropenlehre" nannte. Dabei sagte er, dass Gott jedem seinen Auftrag gegeben habe: den Lutheranern, den Pietisten und seiner eigenen Gemeinde. Jeder solle seinem eigenen Schwerpunkt folgen. "Tropen" bezog sich dabei nicht auf Mission, sondern auf das lateinische Wort "tropos", das Thema oder Schwerpunkt bedeutet.
So gründete Zinzendorf die erste Freikirche. Bis heute befinden sich die meisten Herrnhuter Brüdergemeinden nicht in Deutschland, sondern in Afrika. Das ist eine Folge der intensiven Missionsarbeit, die Zinzendorf dort angestoßen hatte.
Persönliche Herausforderungen aus Zinzendorfs Leben
Wenn wir jetzt auf das Leben von Zinzendorf zurückblicken, dann gibt es einige Aspekte, die uns auch heute noch herausfordern.
Das eine, was mich zumindest besonders herausfordert, ist seine konsequente Bereitschaft, das Leben für Jesus Christus einzusetzen. Immer wieder hat er danach gefragt: Gott, wo ist dein Auftrag für mein Leben? Obwohl er das vorher nicht genau wusste. Zwischendurch wollte er auch mal Mitarbeiter von Franke in Halle sein. Doch da sie charakterlich gar nicht zueinander passten – Zinzendorf war der Innovative mit neuen Ideen, Franke dagegen der stark organisierte – konnten sie nicht gut zusammenarbeiten. Beide waren von Gott gesegnet, aber sie gingen eigene Wege.
Was ich ebenfalls herausfordernd finde, ist die ständige Bereitschaft, neue Ideen zu entwickeln. Nicht nur zu sagen: Das war gestern gut, vielleicht gibt es ja auch einen neuen Weg. Dabei geht es nicht darum, neben der Bibel oder gegen die Bibel zu handeln, sondern darum, nicht starr an einer eigenen Tradition festzuhalten, sondern offen zu sein für neue Möglichkeiten.
Für uns sind heute die Losungen eine Art Tradition, sie sind nichts Revolutionäres. Damals aber waren die Losungen revolutionär. Auch die schlichten Gemeindegebäude oder die Missionsarbeit von Handwerkern und Bauern waren damals mild revolutionär. Solches gab es bis dahin nicht. Bisher mussten es katholische Mönche oder Priester sein, beziehungsweise evangelische Theologen, die ausgebildet waren. Theologie ist ja auch nicht immer falsch. Aber hier wurde etwas Neues gedacht, das im Rahmen der Bibel möglich ist. Das imponiert mir bei Zinzendorf sehr.
Zweitens ist da diese Bereitschaft, zu suchen, wo der Platz ist, den Gott einem geben will, wo er einen gebrauchen möchte. Drittens finde ich seine Fähigkeit sehr herausfordernd, Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Das fehlt vielen großen Gottesmännern. Manche zerstören am Ende ihres Lebens wieder, was sie früher aufgebaut haben, weil sie nicht bereit sind, ihre eigenen Fehler zu sehen oder zu korrigieren. Sie sind zu sehr von sich selbst eingenommen.
Zinzendorf hingegen, so habe ich den Eindruck, zeigte diese Bereitschaft relativ oft. Wenn er merkte, dass Kritik berechtigt war, hielt er nicht stur daran fest und sagte: „Du bist böse, weil du mich kritisierst.“ Sondern er war offen dafür, dass etwas dran sein könnte.
Ich glaube, diese drei Punkte sind etwas, was jeder von uns mitnehmen kann – ganz gleich, welches Alter oder welche Position man hat. Zu sehen: Wo ist mein Auftrag, wo will Gott mich gebrauchen? Hier, heute, in der nächsten Woche, im nächsten Monat. Das nicht aufzugeben und nicht zu denken, das sei nur für die ganz Großen bestimmt. Nein, das ist für jeden Christen. Jeder Christ ist berufen, sich von Gott einsetzen zu lassen.
Zweitens: Immer wieder zu fragen, wo es neue Wege gibt, das Evangelium noch besser oder anders weitergeben zu können. Dafür offen zu sein. Und drittens: Bereit zu sein, die eigenen Fehler, die Gott aufzeigt, anzuerkennen und zu korrigieren. Das tut uns gut. Dabei bricht uns kein Zacken aus der Krone. Nur Jesus ist unfehlbar. Weder wir noch Zinzendorf waren es.
Ich hoffe, dass dieses Lebensbild jedem, der heute Abend hier ist, etwas mitgibt, um sich daran zu orientieren, es als Vorbild zu nehmen und motiviert zu sein, wieder in den Alltag zurückzugehen.
Es tut uns gut, Vater, zu sehen, wie du Geschichte mit Menschen machst. Ganz andere Zeiten, andere Umstände – und doch bist du derselbe. Wir danken dir, dass du nicht aufgehört hast, Menschen zu rufen, Menschen zu führen, deine Nachfolge zu leben, nach unserem ganzen Leben zu greifen und deine Spur mit uns zu ziehen. Danke, dass du auch mit uns deine Geschichte schreibst. Wir geben dir die Ehre und freuen uns an dir, unserem Gott.